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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

der Wind. Er kam aus weiter Ferne; ihr war, als sähe sie, wie er drunten über die mondhelle Haide fegte, wie er die Wolkenschatten vor sich hertrieb; sie hörte es näher kommen, die Tannen sausten, die alten Linden der Gartenalleen; und nun fuhr es gegen die Fenster und warf einen Schauer von abgerissenen Blättern an die Scheiben. Der große Hund erhob sich von seinem Teppich und legte den Kopf auf ihren Schooß. Sie blickte eine Weile auf das glänzende Auge des Thieres; dann aber sprang sie auf aus dem weichen Sessel und drückte mit beiden Händen das Haar an den Schläfen zurück, als wolle sie alles Träumen gewaltsam von sich abstreifen. „Ausharren!“ rief sie leise. Dann trat sie zur Thür und zog die Klingelschnur; über sich hörte sie Rudolph in seinem Zimmer auf- und abgehen. Es wurde Licht gebracht. „Und was denn nun zunächst?“ – Aber sie wußte es schon; nachdem sie noch einen Augenblick in das verglimmende Kaminfeuer geblickt, setzte sie sich an ihren Schreibtisch. – Nach einer Stunde stand sie auf und siegelte einen Brief; die Adresse lautete an Rudolph’s Mutter.


5. Es wird Frühling.

Es war Winter geworden und einsam. In dem Zimmer oben ließ sich kein Schritt hören; Rudolph hatte, wie sie es gewollt, das Schloß verlassen. Draußen vor dem Fenster sauste es in den kahlen Zweigen, und in der Dämmerung vernahm man vom Corridor aus das Schrillen der Spitzmäuse, welche in den öden Gängen umher huschten. Manchmal, wenn sie Abends aus dem Wohnzimmer in ihr Schlafgemach trat, blieb sie wie angewurzelt auf der Schwelle stehen. „Eine Kammer zum Sterben!“ – Sie schauderte. „Aber man braucht nur still zu halten; die Natur besorgt es ganz von selber!“

Doch es wurde wieder heller in dem alten Hause. Um Weihnachten war Schnee gefallen und leuchtete in die Fenster. Eine freundliche Wintersonne begann zu scheinen. Eines Nachmittags war mit den Zeitungen ein Schreiben angelangt, das den Poststempel der Residenzstadt trug. Ihre Hände zitterten, als sie das Siegel brach. Einen Augenblick noch, und ein Schrei stieg aus ihrer Brust, wie es dem Erstickenden geschehen mag, wenn ihn plötzlich wieder der frische Strom der Luft berührt.

Sie hatte den Tod ihres Mannes gelesen.

Noch an demselben Tage reiste sie ab. – Einige Wochen vergingen; dann war sie wieder da. Während draußen allmählich der Schnee zerschmolz, correspondirte sie lebhaft mit dem alten Oheim, und endlich war es ausgemacht, sobald im Garten die Buchenhecken grün seien, wollte er kommen und sein altes Quartier beziehen; denn früher sei die große lebendige Vogelsammlung nicht zu transportiren. Als sie den Brief bekommen, ging sie hinauf in das obere Stockwerk, durch den Saal in das einst so trauliche Zimmer des guten Oheims. Die Wände waren kahl, aber draußen vor dem Fenster hing noch der große Holzkäfig des Käuzchens. Sie ging wieder zurück, sie schloß eine Thür nach der andern auf, sie ging unten durch die ganze Zimmerreihe, die sie während ihrer Anwesenheit noch nicht betreten; die verlassenen dumpfigen Räume schienen ihr nicht öde; überall in ihnen war ja Raum für den Beginn eines neuen Lebens. – –

Und endlich kam der Frühling. – Ueber der schwarzen Erde sprang an Gebüsch und Bäumen das frische Grün hervor; im Garten an den Grasrändern der Buchenhecken stand es blau von Veilchen, und Morgens und Abends hörte man drüben vom Tannenwald die Amseln schlagen.

An einem solchen Tage wandelte die junge Schloßherrin in der Seitenallee ihres Gartens. Mitunter blickte sie über den niedrigen Zaun auf den Weg hinaus oder jenseits desselben in die weite morgenhelle Landschaft. Zwischen den Feldern stand hie und da ein Baum wie brennend im Sonnenfeuer, es war Alles so licht, so heiter klangen die Grüße der vorübergehenden Arbeiter, und in der Luft schwammen die „süßen, ahnungsreichen“ Düfte des Frühlings. – Da sah sie zwei Männer aus dem Tannicht den Weg herauf kommen, ein Bursche vom Dorf trug ihnen das Gepäck nach. Der Eine, dessen Haar völlig weiß war, blieb stehen und blickte, die Augen mit der Hand beschattend, nach dem Garten hinüber. Auch sein jüngerer Begleiter zögerte; er hatte den Hut abgenommen und schüttelte mit einer leichten Bewegung den Kopf, während er an den Schläfen das schlichte Haar zurückstrich. Dann kamen sie näher; und schon waren sie von ihr erkannt. „Arnold, Onkel Christoph!“ rief sie und streckte weit die Arme Ihnen entgegen; „Beide! Alle beide seid Ihr da!“

Der alte Herr schwenkte seine Mütze. „Geduld, Geduld!“ rief er zurück. „Erst um die Ecke dort, und dann über den Hof in’s Haus! – Kommen Sie, Professor!“ setzte er hinzu, indem er fürbaß schritt.

Aber Arnold war schon jenseits des niedrigen Zauns und hielt die Geliebte fest in seinen Armen.

„Ja so!“ brummte der Alte, als er sich nach seinem Reisegefährten umsah. „Aber so geht’s mit der Cameradschaft.“ Dann schritt er, etwas langsamer als zuvor, den Weg hinauf, der nach dem Hofthor führte.

Arnold und Anna traten aus der Allee auf das Rondel hinaus, dem Laubschloß gegenüber, das hell von der Sonne beleuchtet vor ihnen lag. Er hatte ihre Hand gefaßt. So gingen sie den grünen Buchengang hinab, dem Hause zu. – Drinnen auf dem Corridor vor der Thür des Wohnzimmers trafen sie den Oheim wieder. Er schloß sein Lieblingskind in seine Arme; sie sah an seinen Lippen, daß er sprechen wollte, aber er schwieg und legte nur sanft die Hand auf ihren Kopf.

„So,“ sagte er dann, als ob es ihn dränge fortzukommen, „geht jetzt hinein, ich komme nach, ich muß einmal nach oben, mein altes Quartier zu revidiren.“

Sie hob ihr Haupt empor, das sie unter der Hand des alten Mannes gesenkt hatte, und blickte ihm nach, wie er eilig den Corridor hinabschritt und am Ende desselben in dem Treppenhause verschwand. Dann legte sie die Hand auf den Arm des Geliebten, der schweigend daneben gestanden hatte. „Arnold,“ sagte sie, „lebt denn die Großmutter auf dem Schulzenhofe noch?“

„Sie lebt, aber sie wartet nicht mehr den jungen Hinrich Arnold; es hat sich umgekehrt, sie sitzt in ihrem Lehnstuhl in der Stube, und der kleine Hinrich bedient jetzt seine Urgroßmutter.“

„So laß uns morgen zu ihr, damit auch von den Deinigen sich eine Hand auf unsere Häupter lege!“

Dann traten sie in das Wohnzimmer. Als er den offen stehenden Flügel sah, überkam es ihn plötzlich. Wie trunken griff er in die Tasten und sang ihr zu:

„Als ich Dich kaum gesehn,
Mußt’ es mein Herz gestehn,
Ich könnt’ Dir nimmermehr
Vorübergehn!“

Sie stand ihm lächelnd gegenüber und sah ihn groß mit ihren blauen Augen an, während sie wie träumend mit der Hand ihr glänzend schwarzes Haar zurückstrich. Er vermochte nicht weiter zu singen; er sprang auf, faßte sie mit beiden Händen und hielt sie weit vor sich hin; seine Augen ließen nicht von ihr, als könnten sie sich nicht ersättigen an ihrem Anblicke. „Und nun?“ fragte er endlich.

„Nun Arnold, mit Dir zurück in die Welt, in den hohen, hellen Tag.“ – –

Dann gingen sie Arm in Arm, zögernd, als müßten sie die Seligkeit jeder Secunde zurückhalten, die breite Treppe in das obere Stockwerk hinauf. Als sie in den Rittersaal traten, kam ihnen der Oheim aus seinem Zimmer entgegen. Seine Gestalt war noch ungebeugt, und seine Augen blickten noch so innig wie vor Jahren. „Du brauchst einen Verwalter, Anna,“ sagte er; „gegen freies Quartier werde ich diesen Posten übernehmen.“

Sie wollte Einwendungen machen. „Nein, nein,“ sagte er, „es wird nicht anders; ich bleibe hier und sehe nach dem Rechten. Aber Ich habe eine Bedingung: in den Sommerferien kommen der Herr Professor und die Frau Professorin auf das Schloß, um meine Jahresrechnung abzunehmen.“

Sie gelobten das.

Ueber ihnen auf dem alten Bilde stand wie immer der Prügeljunge mit seinem Sperling seitab von den geputzten kleinen Grafen und schaute stumm und schmerzlich herab auf die Kinder einer andern Zeit.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 180. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_180.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)