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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

Schweizer hatten das in unserem Sonderbundskriege nicht gethan. So war denn auch, nachdem der Krieg schon zu Ende war, noch wochenlang eine förmliche Jagd auf die armen Menschen, die, verwundet oder sonst krank, nur den Anderen nicht auf Schweizer Gebiet hatten übertreten können, und alle Tage hörten wir hier von drüben die Musketenschüsse, die hinter einem Felsen oder hinter einer Hecke auf Commando fielen. Es waren so schöne Sommertage, und die Sonne schien den Unglücklichen so hell und so warm zu ihrem letzten schweren Gange.

An einem Abend – es war schon ein paar Tage still gewesen, und wir hatten hier gemeint, sie hätten dort endlich aufgeräumt – war ich, schon spät, wach geworden. Mein kleines Haus liegt dicht am Ufer des Rheins, nicht weit von der Schifflände. Ein ungewöhnliches Geräusch auf dem Wasser hatte mich geweckt. Ich horchte im Bett und meinte, fremde Stimmen ganz nahe unter meinem Fenster zu hören. Ich stand auf, um aus dem Fenster nachzusehen, was es sei. Es war Alles wieder still, und ich konnte draußen nichts sehen. Aber gerade unter meinem Fenster stehen dichte, niedrige Weiden, die weit in das Wasser hineinreichen, und in den Weiden mußte das sein, was ich gehört hatte. Ich mußte wissen, was es war. Ich verließ das Haus und ging an die Weiden; da sah ich zwei Nachen, die sich unter ihnen verborgen hielten. Sie lagen still da und waren voll fremder Soldaten, die auf etwas warteten. Wie ich sie sah, hatten sie auch mich gesehen, und ein halbes Dutzend Gewehrläufe in dem nächsten Schiffe waren auf mich gerichtet. Einer von den Soldaten aber rief mir mit leiser Stimme zu: wenn ich die Zunge oder ein anderes Glied rühre, so sei ich des Todes.

Da wußte ich auch, was sie vorhatten. Es galt wieder einem armen Rebellen, der ihnen entkommen, der in der Nacht heimlich nach der Schweiz herüber gebracht werden sollte, den sie auf dem Wasser abfangen wollten. Sie waren auf Schweizer Gebiet und hatten da nichts zu thun. Es war ein Verrath, daß sie da waren, und der Verrath sollte einem Unglücklichen das Leben kosten. Aber was wollte ich machen? Man hat zuerst das eigene Leben lieb. Ich durfte mich nicht rühren, nicht rufen. Was ich mir gedacht hatte, sollte bald eintreffen.

Von der anderen, von der badischen Seite her kam plötzlich ein kleiner, schmaler Nachen heran. Zwei Menschen ruderten ihn. Sonst sah man Niemanden darin. Aber in der Mitte glaubte man etwas am Boden liegen zu sehen. Die beiden Männer ruderten mit aller Anstrengung ihrer Kräfte. Das kleine, spitze Fahrzeug glitt schnell über das Wasser weg, und eben so still. Man hörte durch die Nacht kaum die Ruder. Die Soldaten in den beiden Nachen waren lebendiger geworden. Aber sie flüsterten nur unter einander. Der Nachen mit den zwei Männern hatte die Mitte des Stromes erreicht. Er war gerades Weges auf die Weiden zugefahren. Er bog nach links, stromaufwärts.

„Jetzt?“ fragte einer von den Soldaten.

„Nein!“ sagte kurz ein Anderer, der der Anführer sein mußte.

Er konnte seiner Sache sicher sein. Die Flüchtlinge in dem kleinen Nachen konnten ihm nicht mehr entgehen. Aber es war nur ein Flüchtling, wie wir nachher erfuhren, ein Officier von den Rebellen, der hatte zurückbleiben müssen. Er war schwer verwundet; das Bein war ihm zerschossen. So hatten ihn Bauern aus der Nachbarschaft gefunden; er war beinahe am Sterben gewesen. Sie hatten ihn mitgenommen, gepflegt, verborgen, und vierzehn Tage lang war ihnen das geglückt. Da war er den Soldaten verrathen. Wenn er gefunden wurde, so wurde er erschossen. Der arme Mensch – er war noch ein ganz junges Blut - war noch krank, elend; er konnte nicht allein stehen, viel weniger gehen. Die Bauern flüchteten mit ihm. Sie mußten ihn tragen. Sicher war er nur in der Schweiz. Aber wie ihn über den Strom, der immer bewacht war, dahin schaffen? Sie hatten doch Schlupfwinkel in den Felsen am Wasser, die nur sie kannten. Sie hatten unbemerkt den kleinen Nachen dahin zu schaffen gewußt. Sie hatten den Verwundeten hineinbringen, in dem Dunkel der Nacht unbemerkt vom Lande abstoßen, die Mitte des Stroms gewinnen können.

Aber die Soldaten hatten Alles berechnet. Sie hatten mit zwei Nachen heimlich das Versteck unter den Weiden aufgesucht und konnten von da aus weit nach beiden Seiten hin das Schweizer Ufer wahren. Vielleicht waren oberhalb wie unterhalb in gleicher Weise ihrer noch mehrere versteckt. Der arme, verwundete Flüchtling war ihnen sicher. Mit dem einen ihrer Kähne brauchten sie nur rechts, mit dem anderen links zu fahren, so hatten sie den kleinen Nachen in der Mitte, lange bevor er das freie Schweizerufer erreichen konnte. Sie ließen den Nachen näher kommen.

„Jetzt!“ rief der Anführer.

Sie flogen in den Strom hinein. Jetzt erst gewahrten die beiden Ruderer sie. Sie hatten mit keinem Gedanken ihrer Seele daran gedacht, daß von dem Ufer der Schweiz her ihnen ein Verfolger kommen könne. Auf einmal sahen sie zwanzig Soldaten hinter sich. Es waren ein paar tüchtige Burschen, die beiden Männer an den Rudern. Sie hatten nach der Schifflände beim Kloster zugesteuert. Dort war der bequemste Landungsplatz. Sie konnten nicht mehr hinkommen, der eine der verfolgenden Nachen hatte ihnen schon den Weg verlegt. Sie konnten aber auch nicht zurück, denn der andere Nachen war ihnen im Rücken. Sie faßten sich dennoch schnell. Sie steuerten und ruderten mit Leibeskräften auf das Kloster zu. Es war dunkler dicht unter den Mauern, die Strömung, der sie entgegenfahren mußten, war dort schwächer; mit ihrem leichten, schmalen Fahrzeuge konnten sie daher schneller vorwärts kommen, als die schweren, breiten Nachen der Verfolger. Aber das Kloster ist lang; an die Mauer des Klosters schließt sich nach oben hin eine noch längere Gartenmauer an, die auch noch im Wasser steht, und der Mensch wird vom langen und schweren Arbeiten müde, und die Kräfte lassen ihm nach.

Die Soldaten kamen den Verfolgten immer näher. Der arme, verwundete, kranke Flüchtling war verloren. Mir schnitt es in das Herz. Ich hatte laut zu Hülfe gerufen, als die Soldaten fort ruderten. Aber mein Häuschen liegt allein am Wasser. Die Häuser der Stadt stehen weiter zurück. Es war beinahe mitten in der Nacht. Der ganze Ort schlief. Kein Mensch hatte mich gehört; Niemand kam. Ich mußte zu der Stadt, zu den nächsten Häusern rennen.

„Zu Hülfe!“ rief ich. „Heraus, ihr Leute! Fremde Soldaten kommen an’s Land. Zum Kloster, zum Kloster!“

Die Leute stürzten aus den Häusern. Ich eilte mit ihnen zum Wasser zurück, nach dem Kloster zu. Wir wollten einen Angriff auf die Soldaten machen; wir waren in unserem Rechte; sie hatten auf freiem Schweizer Gebiete nichts zu schaffen. Es waren viele Menschen gekommen. Wir wollten uns vertheilen, aber als wir ankamen, sahen wir nichts mehr. An dem ganzen Kloster entlang, an der ganzen langen Mauer des Klostergartens hinauf war kein Schiff, kein Mensch mehr zu sehen. Alle drei Nachen waren fort, mit Verfolgern, mit Verfolgten. Wir sahen uns verwundert an. Wo waren sie geblieben? wo konnten sie geblieben sein? Wenn die Mauern des Klosters sich hätten aufthun, Schiffe und Menschen hätten aufnehmen und sich dann wieder hätten verschließen können, dann hatten wir ein Wunder, aber dann hätten wir auch gewußt, woran wir waren. Wir sahen und hörten nichts auf dem Wasser, keine Bewegung, keinen Laut. Ich riß den ersten, besten der Kähne los, die am Ufer lagen, und sprang hinein.

„Ich muß wissen, was das ist!“ rief ich. „Wer fährt mit mir?“

Ein halbes Dutzend Burschen sprangen mir nach. Wir ruderten in den Strom hinein, nach der anderen Seite hin. Da sahen wir bald, was uns am Ufer die Dunkelheit der Nacht verborgen hatte. Zwei Nachen ruderten vor uns her, gleichfalls nach dem jenseitigen Ufer hin. Sie hatten es schon bald erreicht. Es waren die beiden Nachen der Soldaten. Wo war der dritte? – Waren sie seiner habhaft geworden? Oder was war aus den armen Menschen sonst geworden? Wo waren sie geblieben? Wo konnten sie geblieben sein, da man nichts von ihnen sah? Wir sprachen noch darüber.

Auf einmal schlug hinter uns die Sturmglocke auf dem Klosterthurme an. Wir blickten uns um. Wir sahen nichts, kein Feuer, keine Flamme, keinen Rauch. Aber die Glocke hörte nicht auf und stürmte wilder und wilder. Was war das wieder? Wir hörten die Leute am Ufer durch einander rennen. Sie eilten zum Kloster. Wir wandten unseren Nachen und fuhren zum Ufer zurück. Die Leute raunten noch. Das Kloster lag still und dunkel da, wie ein Grab. Nur die Sturmglocke heulte noch immer durch die Nacht.

„Was ist geschehen?“ riefen wir den Leuten zu. „Was bedeutet das Läuten?“

Sie wußten es nicht. Einer kam vom Kloster zurück.

„Die Schwester Marcella ist fort!“

Wir eilten mit zum Kloster: Es war, wie der Mann gesagt

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verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 211. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_211.jpg&oldid=- (Version vom 3.6.2018)