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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

Der Herr habe keine Zeit.

Ich nahm aus meiner Brieftasche ein Blatt Papier und schrieb mit wenigen Worten darauf, daß Jemand, den er aus dieser Handschrift erkennen werde, ihn zu sprechen wünsche. Mit dem Zettel schickte ich den Diener zu ihm. Mein Freund kannte meine Schrift; es konnte ihm nicht unbekannt sein, daß ich verfolgt wurde. Er mußte dann auch das Weitere wissen. Es war so, und es geschah auch, was ich erwartet hatte. Der Bediente kam zurück, führte mich in das Schloß, in ein Zimmer und hieß mich, dort zu verziehen, der Herr werde kommen, sobald es ihm möglich sei. Der Mensch sprach kurz und behandelte mich wie einen Bauern. Sein Herr hatte sich und mich nicht gegen ihn verrathen. Ich mußte etwa zehn Minuten warten. Der Diener hatte mich allein gelassen. Mein Freund trat zu mir ein; nicht durch die Thür, durch die ich eingeführt war, sondern durch eine Tapetenthür, die ich bisher nicht bemerkt hatte. Er war rasch eingetreten. Es schien mir, als wenn er die Thür absichtlich leise geöffnet hätte. Er war eilig und hörte kaum meine Begrüßung an. Er grüßte nicht zurück und nahm leise und schnell meine Hand.

„Du wirst hier bleiben,“ sagte er flüchtig, „Du bist sicher bei mir. Auch in diesem Zimmer, es stößt an mein Cabinet. Ich habe große, dringende Eile. In einer Stunde spätestens hoffe ich wieder bei Dir zu sein. Entschuldige mich.“

Er wartete meine Antwort nicht ab und verschwand durch die Tapetenthüre, durch die er gekommen war. Es war ein sonderbarer Empfang, der durch unser Verhältniß zu einander und durch meine unerwartete Ankunft allein nicht begründet und nicht erklärt sein konnte. Es mußte außerdem im Schlosse etwas Besonderes vorgefallen sein oder noch vor sich gehen. Ich dachte darüber nach. Es fiel mir auf, daß mein Freund aufgeregt, ja verstört ausgesehen hatte. Ich sann vergebens darüber nach, was sich ereignet haben könne. Ich horchte, aber hörte nichts. Ich blickte durch das Fenster des Zimmers, in dem ich mich befand, und sah auch nichts. Das Schloß hatte zwei vorspringende Flügel, in dem einen befand ich mich. Ich konnte durch das Fenster den gegenüberliegenden Flügel und die ganze Vorderseite des Hauptgebäudes übersehen, es lag Alles still und dunkel, wie ausgestorben da. Ich hatte eine halbe Stunde gewartet. Plötzlich war es mir, als wenn ich in einem Gemache neben mir ein Geräusch gehört hätte. Es war hinter der verborgenen Tapetenthür, also wahrscheinlich in dem Cabinet meines Freundes, von dem er gesprochen hatte. Es mußte dort Jemand eingetreten sein. Dann wurden ein paar rasche Schritte hin und her gemacht. Dann glaubte ich eine Stimme zu hören, als wenn Jemand gerufen werde. Alles war leise, sehr leise. Plötzlich wurde die Tapetenthür geöffnet. Eine Dame erschien darin. Sie warf einen Blick in mein Zimmer; sie sah mich und flog zurück.

„Allmächtiger Gott!“ hatte sie aufgeschrieen.

Sie hatte mich erkannt, und ich hatte sie erkannt. Ich war heftig erschrocken, vielleicht mehr als sie. Warum konnte, warum mußte sie vor mir erschrecken, vor mir fliehen? Ich eilte ihr nach, ich mußte es. Sie war die Tochter eines Oberförsters in meiner Heimath. Die Wohnung ihres Vaters und mein elterliches Haus hatten kaum ein paar hundert Schritte von einander entfernt gelegen. Wir waren ungefähr in einem Alter, waren zusammen aufgewachsen, zusammen auferzogen. Wir hatten als Kinder zusammen gespielt und gemeinsamen Unterricht gehabt. Wir wohnten auf dem Lande, von einer Stadt entfernt und waren später getrennt, als ich zur Universität ging. Ich hatte sie aber wieder gesehen, wenn ich in den Ferien zu Hause war, zuletzt vor ungefähr einem halben Jahre. Seitdem hatte ich nichts mehr von ihr gehört. Sie hatte immer das bravste, edelste, reinste und unbefangenste Herz und einen klaren, hellen Verstand. Wir waren immer eng verbunden gewesen. Wie kam sie hierher, in das Schloß meines Freundes, und in welcher Stellung war sie hier? Ich wußte, daß ihr Vater vor einigen Jahren verstorben war und kein Vermögen zurückgelassen hatte. Ihre Mutter lebte von einer geringen Pension mit noch drei jüngeren Kindern. Daß Ida – so hieß die älteste Tochter, die ich so plötzlich wiederfand – sich irgend eine Lebensstellung werde zu verschaffen gesucht haben, um ihrer Mutter die Last ihrer Ernährung abzunehmen, konnte ich mir wohl vorstellen. Aber welche konnte sie hier, in dem Schlosse meines Freundes, gefunden haben? Seine Kinder, wenn er deren hatte, konnten noch nicht in dem Alter sein, um einer Erzieherin zu bedürfen. War sie vielleicht die Gesellschafterin seiner Frau? Aber vor Allem, warum erschrak, warum floh sie vor mir? Ich war ihr in das Zimmer gefolgt, in das sie geflohen war. Es war das Arbeitscabinet des Hausherrn, meines Freundes, ich sah es an Allem. Sie war noch in dem Zimmer, sie suchte weiter zu entfliehen. Ich rief ihren Namen. Sie blieb stehen, aber als wenn der Schreck sie gelähmt habe. Ihr Gesicht hielt sie von mir abgewandt.

„Ida, Du hast mich erkannt!“

„Ja,“ bebte es über ihre Lippen.

„Und warum fliehest Du vor mir?“

Sie antwortete nicht. Ich war an sie herangetreten und hatte ihre Hand gefaßt. Es war eine eiskalte, zitternde Hand. Sie ließ sie mir. Aber ihr Gesicht wandte sie um so mehr von mir ab.

„Ida, kannst Du mich nicht mehr ansehen?“

„Lassen Sie mich,“ preßte sie hervor.

„Sie, Ida? Haben wir je anders als Du zu einander gesagt?“

„Ich beschwöre Sie –“

„Um des Himmels willen, was ist hier vorgefallen? Ich beschwöre Dich, Ida! Was ist es?“

Sie raffte sich plötzlich auf und wandte ihr Gesicht zu mir. Es war leichenblaß, kreideweiß. Sie sah mich an, aber mit Augen, die ohne Glanz, ohne Leben starrten, sie wollte zu mir sprechen, aber sie konnte es nicht. Mich überlief ein kaltes Entsetzen.

„Ida, Ida, hier ist ein großes Unglück geschehen, oder ein –“

Ich konnte das Wort nicht aussprechen.

„Sprich es aus!“ rief sie.

Ich hatte ihre Hand noch gehalten. Sie preßte die meinige krampfhaft. Durch ihre dunklen Augen zuckte ein wilder Blitz, ihr Gesicht blieb so weiß, so leichenhaft. Welch einen Anblick bot das schöne, von Schreck, von Angst, von – ich wußte nicht wovon, verzehrte Mädchen! Doch ich wußte es wohl, eine Stimme rief es laut in mir bei dem Anblicke, und ich mußte es sagen.

„Oder ein furchtbares Verbrechen, Ida,“ setzte ich hinzu.

„Allmächtiger Gott!“ schrie sie noch einmal auf.

Sie riß ihre Hand aus der meinigen und stieß mich von sich. Sie schwankte. Mich ergriff es wie Verzweiflung.

„Ida, Ida!“ rief ich. „Aber Du bist nicht die Verbrecherin! Du kannst es nicht sein! Sage es mir; sage mir, daß Du es nicht bist.“

Sie hatte sich gefaßt, mühsam. Sie konnte aufrecht stehen – konnte zu mir sprechen, aber – antworten konnte sie mir nicht.

„Nachher!“ sagte sie. „Ich muß fort. Auf der Stelle. Nachher sollst Du Alles erfahren. Ich werde zu Dir kommen. Sage Niemandem, daß Du mich gesehen hast.“

Sie eilte fort. Sie hatte rasch, aber immer unter dem Eindrucke des Schrecks, der tiefsten innersten Angst gesprochen. Sie war durch eine zweite geheime Thür verschwunden, die sich in der Tapete des Cabinets befand, gegenüber derjenigen, durch die ich ihr gefolgt war. Ich kehrte in mein Zimmer zurück und verschloß die Tapetenthür hinter mir. Ich war in einer peinigenden Angst. War hier ein Verbrechen vorgefallen? War sie die Verbrecherin? Ich hatte keinen anderen Gedanken.“

Roth unterbrach seine Erzählung.

„War sie eine Verbrecherin?“ fragte er mich. „Sie haben als Criminalrichter eine reiche Erfahrung. Antworten Sie mir aufrichtig. Wenn ein Verbrechen vorgefallen war – und es war eins vorgefallen, zu derselben Stunde, vielleicht in derselben Minute, da ich in das Schloß eingetreten war – antworten Sie mir aufrichtig, würden Sie, nach Allem, was ich Ihnen mitgetheilt habe, und ich habe Ihnen ausführlich erzählt und Wort für Wort, damit Sie sich ein klares, richtiges Urtheil bilden können – hätten Sie nach Allem das arme Mädchen für eine Verbrecherin gehalten? Halten Sie sie jetzt dafür?“

„Welches Verbrechen war begangen?“ fragte ich.

„Hat das Einfluß auf Ihr Urtheil?“

„Ich sähe vielleicht klarer. Wer könnte, nach der äußern Erscheinung eines Moments, zudem eines Moments der Aufregung, unmittelbar nach einer Unthat oder nach einem Unfall, wer könnte blos danach sich ein ganz klares Urtheil bilden, zumal gegenüber

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verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 242. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_242.jpg&oldid=- (Version vom 3.6.2018)