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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

so kann der unparteiische Wanderer im Vorübergehen sich göttlich amüsiren. Denn dann kommt die Polizei, es sammeln sich Hunderte, und das Lärmen und Schreien schließt entweder mit sanfter Abführung des heftigsten Schreiers, oder man schließt, zur Versöhnung durch den Vermittler ernstlich ermähnt, Frieden, und das lustige Intermezzo löst sich in Wohlgefallen auf.




Die Geschwindigkeit des Gedankens.
Von W. Wundt.

Es ist eine ganz verbreitete Meinung, daß das Denken sehr schnell geschieht. Wir reden vom Flug der Gedanken, und gedankenschnell ist die sprüchwörtliche Bezeichnung für Alles, was schneller ist, als wir messen können. Aber es wird erlaubt sein, die Frage auszuwerfen: Was berechtigt uns zu der Behauptung, daß das Denken so schnell sei? Daß die gewöhnliche Meinung das Denken für schneller hält als alles Andere, ist natürlich nicht der geringste Beweis, denn der wissenschaftliche Beobachter hat schon hundertfältig erfahren, wie gewaltig die gewöhnliche Meinung über die Dinge von einer richtigen Kenntniß derselben verschieden zu sein pflegt. Nichts kann in der That falscher sein, als unsere Vorstellung von zeitlichen und räumlichen Verhältnissen, sobald diese einmal über oder unter jener Grenze liegen, welche unserer unmittelbaren Anschauung gesetzt ist. So wenig wir uns eine Anschauung bilden können von den Millionen Meilen, welche die Himmelskörper von einander entfernt sind, ebenso wenig können wir uns etwas darunter denken, wenn von Hunderttheilen, ja selbst von Zehntheilen einer Secunde die Rede ist.

Wir sind gern geneigt, Zeiträume für unendlich klein oder doch für unmeßbar klein zu halten, die in Wirklichkeit noch recht gut gemessen werden können, ja, deren Größe im Vergleich mit manchen andern auch noch meßbaren zeitlichen Vorgängen sich als eine sehr bedeutende herausstellt. Ein lehrreiches Beispiel sind in dieser Hinsicht gerade jene Vorgänge, die mit der Gedankenbildung im nächsten Zusammenhang stehen, die in der Entwicklung des Seelenlebens ihr vorausgehen – die Vorgänge der Empfindung und der Bewegungsleitung in den Nerven.

Vom Empfindungseindruck, der auf das äußere Ende der Sinnesnerven geschieht, meinten noch vor kurzer Zeit selbst die Physiologen, er pflanze sich mit unmeßbarer Geschwindigkeit bis zum Gehirn fort; ebenso glaubte man, der Bewegungsimpuls, der auf das Ende des bewegenden Nerven im Gehirn ausgeübt wird, setze im selben Moment auch schon die Muskeln in Zusammenziehung. Und doch ist nichts unrichtiger; genaue Messungen haben ergeben, daß die Geschwindigkeit des Nervenprincips im Vergleich zu vielen anderen Vorgängen nur eine sehr mäßige genannt werden kann. Während das Licht in einer Secunde 42,100 Meilen, die Elektricität im Kupferdraht 62,000 Meilen zurücklegt, hat der Empfindungs- und Bewegungsvorgang im Nerven des lebenden Menschen nur die Geschwindigkeit von 61½ Meter in der Secunde, d. h. er ist 5 Millionen Mal langsamer als das Licht und 7 Millionen Mal langsamer als die Elektricität, die sich im Kupfer bewegt.

Es variirt darnach aber, wenn man die Länge der Nerven im menschlichen Körper in Rücksicht zieht, die Zeit, welche ein Empfindungseindruck braucht, um bis zum Gehirn oder Rückenmark zu gelangen, ungefähr von 1/600 Secunde und weniger bis zu 1/68 Secunde. Der Eindruck auf die Haut des Fußes braucht, bis er in’s Rückenmark gelangt, mehr als das Zehnfache der Zeit, welche der Lichteindruck auf’s Auge nöthig hat, um zum Gehirn zu kommen. Wenn aber auch der Eindruck auf die Haut des Fußes im Rückenmark angelangt ist, so ist er damit noch nicht in’s Bewußtsein erhoben; hierzu muß er sich erst das ganze Rückenmark entlang bis zu jenen im Gehirn gelegenen Centralorganen fortgepflanzt haben, an welche die Aeußerungen des Bewußtseins und der Willkür gebunden sind. Würde im Rückenmark die Leitungsgeschwindigkeit der Empfindung nur ebenso groß sein, als man sie im Nerven fand, so müßte schon ein Zeitraum von 1/40 bis 1/30 Secunde verfließen, bis der Eindruck auf die Haut des Fußes wirklich zum Bewußtsein käme. Es läßt sich aber mit Sicherheit sagen, daß noch eine viel längere Zeit verfließt. Das Rückenmark ist nämlich keineswegs eine bloße Ansammlung oder ein gemeinsamer Stamm jener Nerven, die aus ihm hervorgehen, sondern es ist ein selbstständiges Centralorgan ähnlich dem Gehirn, das in gewissen ihm eigenthümlichen Leistungen vom Gehirn unabhängig ist. Wenn man niedere Wirbelthiere, bei denen ein tieferer Eingriff nicht so schnell durch die Störung der Athmung und des Blutumlaufs tödtlich ist, enthauptet, so dauern gewisse Verrichtungen fort, die als die niedersten Stufen physischer Verrichtung angesehen werden müssen. Wenn man nämlich die Thiere reizt, indem man ihre Haut kratzt oder ätzt, so führen sie einfachere oder verwickeltere Bewegungen aus, welche die Entfernung des Reizes zum Zweck zu haben scheinen. Man nennt diese Bewegungen Reflexbewegungen. Ueber die Geschwindigkeit, mit welcher die Eindrücke sich im Rückenmark fortpflanzen, kann man nur Aufschluß erhalten, wenn man die Zeit bestimmt, welche verfließt vom Stattfinden eines Empfindungsreizes bis zum Stattfinden einer Reflexbewegung. Diese Messung ist ausgeführt worden und hat ergeben, daß das Nervenprincip im Rückenmark sich nicht mit der Geschwindigkeit wie in den Stämmen und Zweigen der Nerven bewegt, sondern eine sehr beträchtliche Verlangsamung erfährt. Es braucht die Leitung der Empfindung und Bewegung im Rückenmark ungefähr das Zwölffache der Zeit, welche die Fortpflanzung der gleichen Vorgänge in den Nerven nöthig hat, so daß das Nervenprincip im Rückenmark nicht mehr als etwa 5 Meter in einer Secunde zurücklegt.

Der äußere Eindruck, der erst durch das ganze Rückenmark zum Gehirn geleitet werden muß, würde demnach beim erwachsenen Menschen bis zu einem Dritttheil einer Secunde und mehr bedürfen, bevor er wahrgenommen wird; und eine verhältnißmäßig ebenso lange Zeit nimmt ohne Zweifel die Leitung der Eindrücke im Gehirn in Anspruch. Man kann sich von dieser langsamen Bewegung des Nervenprincips in den Centralorganen auf die einfachste Weise überzeugen, wenn man beobachtet, wie die Menschen erschrecken. Wenn im Concert plötzlich die Pauken einfallen, oder wenn im Theater unerwartet geschossen wird, so geschieht das Zusammenfahren der Damen regelmäßig eine merkliche Zeit, nachdem man den Schall gehört hat. Solche Zeitunterschiede aber, die wir auf diese Weise noch unmittelbar sinnlich wahrnehmen, können nicht wohl kleiner sein als höchstens 1/5 Secunde.

Wenn wir schon den einfachen Vorgängen im Bereich des Nervensystems, welche blos in der Leitung oder Uebertragung von Empfindungen und von Bewegungsimpulsen bestehen, eine ganz merkliche Zeitdauer zukommen sehen, so ist dies sicher auch vorauszusetzen bei den eigentlichen Thätigkeiten des Geistes, bei der Bildung von Vorstellungen, von Gedanken. Im Vergleich zu der bloßen Empfindungsleitung sind dies ja schon sehr verwickelte Processe, die aus einer Menge einfacherer Vorgänge sich aufbauen. Nehmen wir z. B. eine Gesichtsvorstellung, so sehen wir dieselbe zunächst hervorgehen aus einer größern oder kleinern Zahl von Lichteindrücken auf’s Auge, die eine gewisse Fortpflanzungsgeschwindigkeit bis zum Gehirn bedürfen. Hier aber werden erst die Lichteindrücke gesammelt, indem die Farben und die Umrisse des gesehenen Gegenstandes aufgefaßt werden. Das so entstandene Bild des Gegenstandes wird endlich in das allgemeine Schema der uns geläufigen Vorstellungen an der gehörigen Stelle eingefügt und so in’s Bewußtsein erhoben. So sind selbst bei der Anregung uns schon geläufiger Vorstellungen immer mehrere auf einanderfolgende Processe erforderlich, ehe die Vorstellung wirklich ins Bewußtsein treten kann. Noch ganz anders verhält es sich, wenn unsere Seele durch neue Anregungen der Sinne mit noch nicht in ihr vorhanden gewesenen Vorstellungen oder Ideen bereichert wird. Wir wissen wohl, daß oft blitzähnlich ein neuer Gedanke in uns aufschießt, der vielleicht im Stande ist, mit einem Schlag ein uns zuvor dunkles Gebiet in’s hellste Licht zu setzen. Wir meinen dann, die Idee sei auch mit einem Schlag in uns entstanden, und wir denken dabei nicht an die stille Vorbereitung, die jenem plötzlichen Aufleuchten oft lange vorangegangen ist, und die manchmal, ohne

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verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 263. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_263.jpg&oldid=- (Version vom 6.1.2021)