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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

natürlich bestrafen lassen können, wenn er uns in beleidigender Weise, z. B. laut in Gegenwart anderer Gäste und mit ungebührlichen Worten, die Thüre wies.

Selbstverständlich begeht auch der Eigenthümer eines Hauses Hausfriedensbruch, wenn er in die Wohnung seines Abmiethers eindringt oder wider dessen erklärten Willen darin verbleibt, denn durch das Miethverhältniß ist der Miether in Bezug auf das ermiethete Local während der Dauer des Contractes Herr. Mit gesetzlicher Befugniß können nur Diener einer Behörde in eines Andern Wohnung eindringen oder wider dessen Willen darin verweilen, und zwar nur bei Ausübung ihres Amtes, z. B. der Executor bei einer Auspfändung, der Gerichtsdiener bei einer Arretur u. s. f. Haben aber derartige Diener die ihnen aufgetragenen amtlichen Functionen verrichtet, so müssen auch sie der Aufforderung des Inhabers der Wohnung, dieselbe zu verlassen, sofort nachkommen, sonst begehen auch sie Hausfriedensbruch und werden auf Antrag bestraft.




Eine deutsche Bitte für das arme Volk der Esthen.

Von Friedr. Hofmann.

Wir stehen auf dem „russischen Markt“ in Reval, der Hauptstadt von Esthland. Vom Schlosse her, der Wohnung des Gouverneurs dieser russischen Ostseeprovinz, erschallt Trommelschlag. Soldaten, von einer Volksmasse umwogt, rücken näher. Sie führen Gefangene heran, eine lange Reihe esthnischer Bauern. Jetzt schnarrt das Kommando Halt! Was beginnt? Je zwei Soldaten packen je einen der Bauern, reißen ihm die Kleider vom Leibe, werfen, ja schmettern ihn auf das Pflaster nieder, daß vielen die Gesichter zerschlagen werden, ja die Zähne aus dem Munde fallen, und nun setzt sich je ein Soldat rittlings auf den Nacken, der andere auf die Füße des Daliegenden, während ein dritter den entblößten Rücken des Mannes mit durch die Luft pfeifenden Stockschlägen zerfleischt. Das Wehegeheul der Mißhandelten ruft immer mehr Volk herbei, vor Mitleid und Wuth treten den empörten Zuschauern die Thränen in die Augen. Endlich wird der scheußliche Act auch der unbetheiligten Gensd’armerie unerträglich; der Oberst derselben macht ihm durch energisches Einschreiten ein Ende.

Welche Art von Verbrechern unterwarf man einer solchen Züchtigung? – Verbrecher? – Alle diese Männer, es sind sechzig Pächter, wissen von keinem Verbrechen. Sie gehören sämmtlich dem Gute Annia an. Wie in ganz Esthland ist auch in ihrer Kirche der kaiserliche Ukas verlesen worden, welcher durch eine neue Bauern-Ordnung dem gedrückten Landvolk allerlei Erleichterung zusichert, namentlich in Beziehung auf die Frohn oder, wie es in Esthland heißt, den „Gehorch“. Weil aber auch sie, wie alle übrigen Bauern des Landes, lange vergeblich auf die Ausführung des betreffenden Paragraphen des neuen Gesetzbuchs warten und weil sie von dem durch hier schwer wiegende Drohungen eingeschüchterten Gemeinderichter keine Hülfe kommen sehen, so wenden sie sich selbst an ihren Gutsherrn und bitten ihn, die Wohlthaten des neuen Gesetzes ihnen nicht länger vorzuenthalten. Der Edelmann erwidert: „daß er Nichts dagegen habe, wenn es der Gouverneur erlaube. Diesem möchten sie ihre Bitte vortragen, auch er selbst werde sich zu ihm begeben.“ Durch die anscheinliche Bereitwilligkeit ihres Herrn aufgemuntert, vergessen die armen Bauern, daß sie nicht in Masse bitten und klagen dürfen, und machen sich allesammt auf die beschwerliche Reise. Endlich langen sie in Reval an. Einige wohlmeinende Männer warnen und belehren sie hier über die ihnen drohende Gefahr. Das macht sie vorsichtig. Sie senden nur Drei aus ihrer Zahl in das Schloß; die Uebrigen bleiben in der Herberge zurück. Im Schlosse finden die drei Abgeordneten jedoch nicht den Gouverneur, sondern einen andern adeligen Beamten, den er mit seiner Vollmacht betraut hat, und bei ihm auch ihren Herrn. Dieser Beamte war es, der die armen Männer in die Falle lockte. „Wo sind die anderen Bauern?“ fragte er die Abgesandten. „In der Herberge,“ war die ehrliche Antwort. Darauf gebot er ihnen, die Uebrigen zu holen, weil sie ihre Bitte gemeinsam vortragen müßten. Sie gehorchten; vertrauend dem Wort aus solchem Munde begaben sich die sechzig Pächter in den Schloßhof – und waren dadurch zu Verbrechern geworden. Die schon bereit gehaltenen Soldaten umringten sie, und das Werk der Strafe ward vollendet, wie wir es gesehen haben.

Das geschah im Jahre 1858 n. Chr.! –

Wir verwahren uns vor jedem Argwohn, als könne es unsere Absicht sein, der kaiserlichen Regierung Rußlands wegen solcher Vorgänge einen Vorwurf machen zu wollen. Der Verlauf dieser Darlegung wird im Gegentheil ergeben, daß uns bei derselben keine andere Absicht leiten konnte, als die, die wohlwollenden Bestrebungen der Regierung für die esthländische Bevölkerung hervorzuheben, aber dazu auch das Bestreben eines sehr großen Theils des Adels, den Erfolg der Regierungsverfügungen möglichst in das Gegentheil ihres Endzwecks zu verkehren, zur allgemeinen Kunde zu bringen.

Den Strafact in Reval vor Augen kommt wohl Jeder zu der Frage: Giebt es in Esthland kein Recht und keinen Richter für die Bauern? – und es muß ihn die Antwort überraschen: Ja, die Bauern haben nicht nur ihre eigenen Untergerichte, sondern sogar Beisitzer in zwei höheren Instanzen, also, nach dem Wortlaut des Gesetzes, hinlängliche Vertretung und genügenden Schutz. Wie es aber mit der Achtung dieser Gemeinderichter und der Handhabung des Rechts steht, lernen wir aus der folgenden Thatsache kennen, deren Wahrheit uns ebenfalls verbürgt ist.

In demselben Jahre 1858 gehen zwei Gemeindevorsteher (Richter) des Gutes A. zu dem ihnen vorgesetzten adeligen Kirchspielsrichter und bitten ihn demüthig um Erläuterung jenes Paragraphen des neuen Gesetzes, der ihnen 26 Procent Erlaß vom „Gehorch“ verheißt. „Wie?“ fährt dieser sie an. „Ihr seid auch schon von dem Ungehorsam und der Widerspenstigkeit angesteckt, die bei Reval ihr Wesen treibt? Wartet, ich will an Euch ein Beispiel statuiren, ich will Euch zeigen, was mit dem geschieht, der sich wider seinen Herrn setzt!“ – Beide Männer sind nicht Leibeigene, sondern freie Pächter und Familienväter. Aber wie empörte Sclaven und gemeine Verbrecher läßt der adelige Richter sie binden, in die nächste Kreisstadt führen, dort in Ketten schmieden und so nach dem fünfzehn Meilen entfernten Reval transportiren. Hier schmachten sie lange im Gefängniß, hart gehalten und abgesperrt von aller Welt, aber ohne alles Verhör. Endlich scheint die Untersuchung zu beginnen, sie werden vor ein adeliges Gericht gefordert. Das Verfahren ist jedoch kürzer, als sie denken; das Urtheil ist ohne Untersuchung fertig geworden, es dictirt dem einen der beiden Gemeindevorsteher drei, dem anderen, seinem Gehülfen, zwei Jahre Kerkerhaft – „wegen Mißbrauchs der Amtsgewalt.“ – Beide Männer starben in ihren Gefängnissen zu Riga, wohin sie, 52 Meilen weit, in Ketten geführt worden waren. – Dasselbe Schicksal traf noch einen dritten freien Pächter ganz aus derselben Ursache.

Ja, noch mehr! In diesem selben Jahre 1858 hat ein Herr N. St. in der Hapsal’schen Gegend (ungefähr dreizehn Meilen von Reval), der zugleich Hakenrichter[1]war, entweder erfahren oder es überhaupt nur vorausgesetzt, daß auch die Pächter auf seinem Gute von der im neuen Gesetz verheißenen Ermäßigung des „Gehorchs“ gesprochen hätten. Um ein solches Uebel gleich bei der Wurzel auszureißen, läßt er heimlich aus Reval Militär herbeiholen. Die Soldaten kommen bei Nacht an, dringen in die Bauernwohnungen, ergreifen die erschrockenen, vor Angst zitternden Leute, binden sie wie gemeine Missethäter und schleppen sie in die Guts-Korndarren, wo sie mit Stöcken und Ruthen unbarmherzig zerschlagen und zerschunden werden. Dann entläßt sie der adelige Richter und Gutsherr und ist sicher, daß ihre Ansprüche für lange Zeit befriedigt sind.

So ging es noch 1858 in Esthland zu! – Und die Hoffnung auf eine Besserung dieser Zustände muß seitdem nicht gewachsen sein, denn erst im Herbst vorigen Jahres forderte eine Stimme aus Esthland uns dringend und flehend auf, „für das arme zertretene und verachtete Völklein der Esthen“ ein Wort zu reden, das auch in Petersburg gehört werde.

  1. Der Vorsitzer des Kirchspiel-Polizeigerichts, das über der Gutspolizei (die der Herr des Guts ausübt) steht. Die Bauern-Verordnung von 1816 beschränkte das Strafrecht desselben so weit, daß er die seiner Landespolizei Unterworfenen höchstens zu 8 Külmit Roggen oder zu 80 Stockschlägen oder zu 10 Bund Ruthen (zu je 10 Schlägen mit jedem Bund, also 100 Ruthenhieben) oder zu 4 mal 24 Stunden Arrest verurtheilen könne! Wenn Prügel den Menschen besserten, welche Engel müßten in Esthland wohnen!
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verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 329. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_329.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)