Seite:Die Gartenlaube (1862) 345.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

sie müssen den Fusel als ihr höchstes Labsal preisen, und wer will den Stein auf sie werfen dafür, daß sie das thun? – Das ist der Esthen Erdenloos! – Das sind die Früchte von dem freien Walten des Adels über ein ganzes Volk, ein Volk, das, wie uns die überaus schöne, tiefe und sinnige Volkspoesie der Esthen lehrt, von der Natur einst reich begabt war und das vielleicht noch jetzt zu einer edlen Blüthe am Baume der Menschheit erzogen werden könnte, wenn es nicht unter solchen Händen verkümmern müßte! –

Es charakterisirt diesen Adel am schärfsten, wenn wir hören, wie er selbst sein Verhalten zu den Bauern in öffentlichen Schriften der kaiserlichen Regierung und der Welt gegenüber darstellt. In einem Commissionsbericht von 1848 heißt es wörtlich: „Die esthländische Ritterschaft hat längst schon die ihr im Staate angewiesene Stellung begriffen etc., die ihr auch gleichzeitig die Pflicht auferlegt, für das Wohl und die zeitgemäße Entwickelung des ihr verpflichteten (!) Bauernstandes Sorge zu tragen. Unsere Corporation, die bereits vor sechs Jahrhunderten das Christenthum, deutsches Recht und Sitte in dieses Land trug (!!) etc., entwarf das bis jetzt gültige Bauern-Gesetzbuch, durch welches der esthländische Bauer, nebst den Rechten der persönlichen Freiheit, denjenigen Rechtsschutz empfing, der ihm jene heiligen Privatrechte gewährleistete, die die Grundlage aller Wohlfahrt für jeden Staatsbürger sind – etc. Die Landtagsbeschlüsse des Jahres 1847 werden noch den späteren Generationen von den edlen Gesinnungen der esthländischen Ritterschaft Zeugniß ablegen (!!) etc. etc.; gleichzeitig setzte die Ritterschaft den bestehenden Frohnsatz um 26 p. Ct. herab, um hierdurch den Wohlstand der Bauern auf das Wirksamste zu fördern; sie scheute sich nicht, dieses große Opfer zu beschließen, um etc. durch Ablösung der Frohne der Intelligenz und dem Wohlstande der Bauern einen mächtigen und nachhaltigen Aufschwung zu geben“ etc. etc. – dieses Bauernstandes, der (es liegt wirklich so gedruckt vor mir) „durch ein von den Gutsbesitzern gegründetes Bauernschulwesen an Intelligenz gewonnen und durch die gewissenhafte Handhabung der Gesetze durch die Landesbehörden – die Ueberzeugung eines allseitigen Rechtsschutzes für sein Personal- und Eigenthumsrecht erlangt hat“ etc. etc. (!!) – „Allseitiger Rechtsschutz!“ – Wir haben oben gesehen, wie es damit in Esthland steht. Selbst die wohlwollendsten kaiserlichen General-Gouverneure der Ostseeproviuzen können, so lange die gegenwärtigen Verhältnisse zwischen Adel und Volk dauern, dem esthnischen Bauer nicht zu seinem Rechte helfen. Denn wenn auch der Bedrängte durch keine Drohungen und Prügel sich von seiner Klage abhalten läßt, wenn er auch wirklich von seinem adeligen Gutsherrn den nöthigen Reisepaß erlangt, und wenn er die Mittel erschwingt, um bis nach Riga zu kommen, ja, wenn er sogar vor dem General-Gouverneur seine Sache in der rechten Weise vorzubringen vermag, und wenn es diesem in der rechten Weise gedolmetscht wird: so ist doch die kaiserliche Oberbehörde wieder genöthigt, von der esthländischen Behörde Auskunft zu fordern, und glaubt man wirklich, daß je ein esthländischer Adeliger gegen einen Mann seines Standes zu Gunsten eines Bauern berichten wird? Wo ist da des Esthen „allseitiger“ Rechtsschutz?

Und das „von den Gutsbesitzern gegründete Bauernschulwesen“ – wo sind seine Früchte? – Die Gemeinden, so befiehlt die gerühmte Bauern-Verordnung von 1856, sollten auf ihre, auf der armen Bauern, nicht auf des Adels Kosten, Schulen gründen; die Ritterschaft machte sich nur verbindlich, „zur Heranbildung tüchtiger Lehrer auf ihre Kosten zwei Schullehrer-Seminarien zu errichten“. Unser Gewährsmann sagt über den gegenwärtigen Stand dieser wichtigen Angelegenheit: „In ganz Esthland sind nicht, wie es sein sollte, 1000 Bauernschulen, sondern nur der fünfte Theil davon ist vorhanden. Es giebt hier nicht nur ganze Kirchspiele ohne Schulen, sondern einen ganzen District (Polizei-Verwaltungs-Bezirk unter einem Hakenrichter) von 6 Kirchspielen, mit 39 Gütern und gegen 23,000 Seelen, wo noch gar keine Schule ist. Drei Distriete, zusammen 10 Kirchspiele mit 125 Gütern und mehr als 70,000 Seelen, haben nur 13 Schulen mit kaum 300 Schulkindern.“ Das möge genügen, um die Berechtigung des Adels auf den Stolz der von ihm geförderten Intelligenz der Esthen zu ermessen. Wie noch weit erbärmlicher stände es mit dem ersten Unterricht der armen Kinder, wenn die Mütter nicht wären in der rauchigen Hütte beim Lichte des gestohlenen Holzspans, die nicht blos die ersten und oft einzigen Lehrer ihrer Familie sind, sondern zugleich die Bewahrer der alten Geistesschätze des Esthenvolkes an jenen herrlichen Liedern, Sagen und Räthseln, mit denen sie im tiefsten Elend die Herzen der Kinder noch zu erfreuen und zu veredeln wissen.

Der Artikel muß geschlossen werden, wie reicher Stoff zu seinem weiteren Ausspinnen, zur unwiderleglichen Begründung der großen Schuld des Adels am Esthenvolke auch noch vorliegt. Wem das hier Gegebene nicht genügt, den verweisen wir auf das oben genannte Buch, dessen Inhalt, wir wiederholen es, nicht auf Hörensagen und einseitigen Berichten, sondern auf eigener Anschauung, auf Actenstücken und Thatsachen beruht.

Vor Allem ist aber Das zu wünschen: daß dieses Buch und dieses Blatt auf dem Arbeits- und auf dem Nachttische des Monarchen liegen möge, der über Esthland sein Scepter ausstreckt. Von wem auf dieser Welt soll dem Esthenvolke die Rettung aus seinem Elend kommen, wenn nicht von der Majestät des Herzens, durch welche sein Kaiser glänzt? In seine Hand hat er das Werk genommen, an das in Rußland seit Jahrhunderten sich nie die mächtigste Hand gewagt: das Glück seiner Völker zu begründen auf die gesetzliche Befreiung derselben. Möge ihm dazu die genaueste Erkenntniß der Verhältnisse seiner Völker die rechten Wege zeigen! Möge die Leuchte auf seinem Pfad stets die Wahrheit sein, wie wir sie ihm heute in diesen Worten und Hinweisungen bieten! Wem ist mehr als ihm das unvergleichliche Heil zu wünschen, daß sein Streben zu dem Ziele führe: als ein wahrer, aber auch als ein glücklicher Vater aller seiner Völker gesegnet zu werden!




Ein Parvenu.


Als einen solchen bezeichnen wir Heinrich Karl Schimmelmann, eine ihrer Zeit in ganz Europa bekannte Persönlichkeit, den Stifter einer neuen gräflichen Dynastie. Schimmelmann’s Name, sein Wirken und sein fast fabelhaftes Emporsteigen werden in der Geschichte fortleben, wenn auch die Periode längst vorüber ist, in welcher er in dem Gemälde der wichtigsten Begebenheiten unseres Erdtheils seine hervorragende Stelle einnahm.

Zur Schilderung des Glückes, welches den Grafen Schimmelmann vom Beginn seiner letzten Lebenshälfte an nicht nur keinen Augenblick verließ, vielmehr sich ununterbrochen steigerte, möge folgende biographische Skizze dienen, die ein Zeitgenosse desselben entworfen, aber nie dem Druck übergeben hat.

Schimmelmann stammte von einer unbemittelten Familie zu Demmin in Pommern und ward daselbst 1724 geboren. Noch ehe er das Mannesalter erreicht hatte, kam er als Hutmacher nach Hamburg. Ausgestattet mit einem unternehmenden Geiste, befaßte er sich bald mit ausgedehnten Handelsgeschäften. Als aber deren gänzliches Mißlingen ihn zum Concurs brachte, begab er sich nach Berlin. Um diese Zeit brach der dritte schlesische Krieg aus. Es gelang Schimmelmann, Lieferant bei der ausrückenden Armee zu werden,[1] ein Amt, zu dessen Verwaltung er vollkommen befähigt war. Bei seiner rastlosen Thätigkeit und mit seinem hellen Kopfe wußte er das Geschäft so trefflich zu leiten, daß die Armee stets zufrieden sein konnte und dennoch schon in den ersten Jahren des Krieges sich große Summen in seinem eigenen Säckel anstaueten.

  1. Nach anderen Nachrichten war er, der Sohn eines Kaufmanns, anfangs ebenfalls Kaufmann, und zwar erst in Stettin, später, nachdem er einige Zeit in der preuß. Armee gedient, in Dresden. Als es hier mit seinem Materialhandel bedeutend rückwärts gegangen, soll er die Generalacccise in den kursächsischen Ländern gepachtet und den Titel eines Acciserathes erhalten haben. Seiner örtlichen und praktischen Kenntnisse halber sollen ihm dann beim Beginn des siebenjährigen Krieges die Kornlieferungen für die preußische Armee in Sachsen anvertraut worden sein.
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 345. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_345.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)