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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

In den neunziger Jahren und im Anfang unsers Jahrhunderts, wo Beethoven zumeist der heiter Schaffende war, tobten die scheußlichsten, blutigsten Revolutionsgräuel und wütheten die verheerendsten, namentlich Oesterreich länderberaubenden Kriegsstürme. Als aber unser Meister seine relativ aufgeregtesten, düstersten Werke der dritten Stylart schuf, lag die Welt, friedlich, erschöpft, ja geistig paralysirt da. Und wie verhalten sich seine Werke mit Gesang zu seinen Lebensverhältnissen und dem politischen Geiste der Zeit? Die allermeisten erinnern bei aller Eigenthümlichkeit und Gefühlstiefe doch an Mozart’s Zeit. „Adelaide“ ist ganz in dieses Meisters Weise gearbeitet. „Fidelio“, die herrlichste Oper mit, die je geschrieben worden, hält sich doch in Geist und Formen in der Mozart’schen, mehr noch in der Cherubini’schen Sphäre. Die große D dur-Messe kann der dritten Stylart zugeschrieben werden, aber sie ist aus einer andern Ursache, als den beiden angegebenen, geflossen, wie sich bald zeigen wird.

Der Künstler im gewöhnlichen Leben und der Künstler in der Zeit des Schaffens sind zwei ganz verschiedene Wesen. So war Raimund, der berühmte Schauspieler und Volksdichter, im gewöhnlichen Leben der unglücklichste Melancholiker. Sobald er aber auf der Bühne erschien, sah man nur den vollendeten, von Humor übersprudelnden Komiker. Schiller hat viel sorgenvolle und körperlich schmerzenreiche Tage verlebt. Haben die etwa mit an seinen poetischen Werken gearbeitet? Die Wahrheit ist, wenn der Künstler in das Reich seiner Träume tritt, läßt er das gewöhnliche Leben mit allem, was ihn darin beschäftigte und bewegte, zurück. Dann schaut er nur den Gegenstand, den er schöpferisch nachbilden will. Drängen sich die Erinnerungen und Stimmungen des Tages mit ein, so ist er ein schwacher Künstler, und nur schwankende, zerrissene, keine echten Totalbilder wird er schaffen können. Wer aber besaß die Kraft, sich ganz nur in sein künstlerisches Ideal zu versenken, in mächtigerem Grade, als Beethoven mit seiner glühenden Phantasie und wunderbaren Gemüthstiefe?

Sonderbar! Dieselben Leute nicht selten, welche Beethoven’s Werke aus seinen realen Lebensereignissen oder den Zeitströmungen erklären wollen, erzählen wieder ganz naiv, daß er in den Momenten des Schaffens die ganze Welt um sich her vergessen und gar nicht gesehen habe! „Unmittelbar nach dem Mittagsessen,“ heißt es, „wurde, falls er keinen weiteren Ausflug vorhatte, die gewöhnliche Promenade angetreten, d. h. er lief im Duplirschritt ein paar Mal rund um die Stadt. Ob es nun regnete, schneite, hagelte, ob der Thermometer 16 Kältegrade anzeigte, oder ein eisiger Sturmwind ihm entgegenblies, ob der Donner brüllte, Blitze die Lüfte durchzuckten, die Windsbraut heulte oder eine libysche Gluthhitze den Scheitel versengte – das kümmerte ihn Alles nicht, das empfand er nicht, denn in ihm waltete der schaffende Gott, und vielleicht hat er unter dem Aufruhr der Elemente gerade ein paradiesisch mildes Liebes- und Frühlingsbild in seinem Kopfe geschaffen.“

Drittens soll Beethoven in seiner letzten Stylperiode Ideen, abstrakte Gedanken haben ausdrücken, nach Oulibicheff, „ein neues Organ gleichsam schaffen wollen, das die Tonkunst zur Würde einer Lehrerin der Moral, Philosophie und Geschichte oder selbst bis zur Höhe einer Offenbarung erheben sollte.“ Dies ist von allen abgeschmackten Meinungen die abgeschmackteste! So verkennen konnte Beethoven das Wesen seiner Kunst nicht, um ihr Dinge zuzumuthen, die sie schlechthin nicht auszuführen vermag. Auch hat man nirgends vermocht, auch nur eine solche Idee in seinen Werken aufzufinden und nachzuweisen.

Die Ursachen zu den theilweise düsterern und räthselhafteren Gestaltungen, seiner dritten Stylperiode sind viel natürlicher aus dem Wesen seines Künstlergeistes zu erklären. Die Unbestimmtheit der Instrumentalmusik, die verschiedene Auslegungsfähigkeit der Tonbilder, welche Fenelon schon durch die Frage: sonate, que me veux-tu? bespöttelte, war Beethoven im höchsten Grade zuwider. Er wollte die Sprache der Töne so deutlich, verständlich und eindringlich machen, als nur irgend möglich. Als das sicherste Mittel dazu erkannte er die Vornahme eines Objects. So rief er zunächst für jede Composition einen bestimmten Gegenstand vor seine Einbildungskraft, der, hinabschlagend in das Gemüth, die entsprechenden Gefühlsregungen wach rief. Dies ist außer allen Zweifel gesetzt durch eine Aeußerung gegen Schindler über das Adagio in der D dur-Sonate, Op. 10. „Jedermann“ – sagte Beethoven – „fühlt den geschilderten Zustand eines Melancholischen heraus, mit allen den verschiedenen Nüancen von Licht und Schatten im Bilde der Melancholie und ihrer Phasen.“ – Er hat Andeutungen der Art einigen seiner Werke beigegeben, der Sinfonia eroica, der Pastoralsymphonie, dem Quartett. „Muß es sein? Ja, es muß sein“ u. s. w., bei den meisten hat er es leider unterlassen; aber auch hier ist es durch seine eigene Aeußerung erwiesen, daß er bei jeder Composition seiner Hauptmaxime treu geblieben. Er wollte nämlich diese Aufschlüsse, das Object für jedes seiner Werke, bei einer Gesammtausgabe derselben hinzufügen. Leider ist dieser Plan nicht zur Ausführung gekommen, und die Auflösungen so mancher Räthsel sind mit ihm begraben worden!

Dies ist das Mittel, durch welches er seine beiden Hauptzwecke, energischen, ergreifenden Ausdruck und immer neue, immer verschiedene Bildungen, erreichte. Und hiermit ist auch zugleich der wahre Grund des Vor- und Zurückgreifend seiner verschiedenen Style auf’s Natürlichste erklärt. Nicht die Stimmungen seines durch das reale Leben ergriffenen Gemüths, sondern die helleren und düsterern Objecte, welche er sich vorstellte, haben seine verschiedenen Stylarten hervorgerufen.

Aber wie diese Maxime ihn zu den schönsten und wirkungsvollsten Schöpfungen befähigte, so verleitete sie ihn zuweilen auch zu vorübergehenden barocken Gestaltungen. Wenn man in einigen seiner Sätze einen klaren Seelenzustand, eine vernehmliche Gefühlseinheit nicht mehr heraushören und nachempfinden kann, wenn man zuweilen mehr ein willkürliches Spiel, ein „tel est notre plaisir“ oder nur eine zerrissene Empfindung darin zu vernehmen glaubt, so hat das Beethoven sicherlich nicht gewollt, keine abstracte Idee vor der Seele gehabt, wohl aber mag der gewählte Gegenstand ein zu künstliches, psychologisch verwickeltes Problem gewesen sein, das er noch dazu nicht nur in seinen großen Zügen und vernehmlichen Nüancen, sondern bis in die kleinsten Subtilitäten hinein verfolgen und mit seinen Tönen versinnlichen wollte, wie z. B. daraus nur die öfteren Takt- und Tempowechsel in einigen seiner Quartettsätze zu erklären sind, die ihm ganz natürlich und psychologisch treu erschienen sein mögen, dem Hörer aber eine unangenehme Empfindung bereiten, weil er den Grund davon nicht zu erkennen vermag.

Dazu ergab er sich nun auch dem polyphonen Styl, weil er ihn zum Ausdruck tieferer und ungewöhnlicherer psychologischer Zustände für tauglicher hielt. Jede Stimme sollte eine eigene Seite des Gefühls ausdrücken. Nicht zu leugnen ist, daß er auch hierin Außerordentliches geleistet hat. Hingegen kann auch nur der vollständig Eingenommene behaupten, daß er dabei überall in den Schranken klarer und anmuthender Gedankenformen geblieben sei. Beethoven war in der polyphonen Setzweise nicht so von Jugend auf geübt und sicher, wie z. B. Mozart, und es ist daher kein Wunder, daß durch die Mühe und Aufmerksamkeit, welche er auf die technische Gestaltung des Gedankens verwenden mußte, die ästhetische Schönheit zuweilen beeinträchtigt wurde. Dies aber zu erkennen, sich einzugestehen und solche Gedanken dann zu verwerfen und umzubilden, wie er in früheren Jahren gethan, war er später nicht mehr gewillt, daran hinderte ihn sein gewonnenes Selbstvertrauen, sein Stolz und – Eigensinn. Es kann nicht Wunder nehmen, daß seine außerordentlichen Erfolge, eine so lange Reihe von Jahren hindurch, den Glauben an seine Unfehlbarkeit in ihm erweckt hatten. Er glaubte zuletzt, er könne nichts Falsches und Unechtes, nur Schönes und Vollendetes offenbaren; habe er in den Schranken der bekannten ästhetischen Gesetze das Schönste geleistet, so könne er wohl auch neue ästhetische Gesetze erkennen und ausüben, denn wer solle sie geben, wenn nicht das Genie? Er übersah nur, daß die ästhetischen Gesetze ihren Kreis und ihre Grenze haben, wie alles Menschliche und Irdische, und daß gerade die größten Genies in allen Künsten ihre vollendetsten Werke eben nur innerhalb dieses bestimmten Kreises von Gesetzen geschaffen haben. Dazu kam, daß er sich vor nichts mehr fürchtete, als vor der Wiederholung seiner eigenen Werke, einer Schwäche, die er mit Verachtung an so vielen Künstlern bemerkte. Und das ist ihm auch auf bewundernswürdige Weise gelungen. Nicht zwei seiner Werke sind sich ähnlich. Ist es aber zu verwundern, wenn dieses consequentest festgehaltene Streben nach stets neuen, stets verschiedenen Bildungen auch einmal, selten genug, eine weniger ansprechende zu Tage gebracht hat? – Und noch eine Bemerkung zur Erklärung jener weniger anmuthenden Stellen. Wenn dem Menschen die natürlichen Reizmittel, zu häufig genossen, nicht mehr genügen, nimmt er endlich zu unnatürlichen seine Zuflucht. So lassen die

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verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 459. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_459.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)