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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

musicirend zogen sie nun durch die Stadt. Da that sich noch manches Fenster auf, und manche Schöne winkte Abschiedsgrüße und warf Blumen und Sträuße herunter. Am Bahnhof wimmelte es von Menschen, wie an dem Tage, da die Süddeutschen bei strömendem Regen angekommen waren. Auch der österreichische Bundespräsidialgesandte war in seinem Wagen an der Eisenbahn. Es war noch ein Stündchen Zeit bis zur Abfahrt, und in dieser Stunde wurden mehr Hände gedrückt, mehr Umarmungen und Liebeszeichen gewechselt, mehr Küsse gegeben, als sonst in einem Jahre. Einer dieser Küsse ist, wie gesagt, historisch geworden. Eben hatte Dr. Sigm. Müller den wieder mit den deutschen Brüdern in Oesterreich neu angeknüpften Bund in warmer Rede gefeiert, und es galt nur noch, diesem Bunde auch ein äußeres Liebeszeichen aufzudrücken[WS 1].

Der Kuß für ganz Tyrol.
Originalzeichnung von Ernst Schalk.

Einen Kuß dem ganzen Land Tyrol! Wer anders durfte ihn geben, als eine Festjungfrau – den officiellen Festkuß? „Bitte, mein Fräulein, da – gerade neben Ihnen – steht der schmucke Stanni, Ihre Pflicht ruft! – Wie? Sie sträuben sich? Sie meinen, dieser Fall sei nicht im Festprogramm vorgesehen? Ei was, einen Kuß in Ehren kann Niemand verwehren, und dann – wer hat Ihnen je verboten, Länder zu küssen?“ Und siehe da – halb zog er sie, halb sank sie hin, und der officielle Festkuß ward zu einem warmen Freundschafts- und Abschiedskuß, wenn wir unserm Maler auch bemerken müssen, daß seine Auffassung vielleicht etwas zu intensiv ist. In diesem Augenblicke hatte sich der Stanni – wir bemerken hier beiläufig, daß wir den Taufschein Stanni’s nicht gesehen haben, und sollte er allenfalls „Tonerl“ heißen, so mag er Frankfurt, das ihn umgetauft hat, verklagen und nicht uns – gewiß nicht als „Schmerzenskind“ gefühlt. Mit einem dreifachen donnernden Hoch schloß die Geschichte des officiellen Festkusses beim ersten deutschen Bundesschießen, aber noch nicht der Abschied der Tyroler, denn es war noch einige Zeit bis zur Abfahrt. „Singt noch Eins, Ihr Tyroler, so ein herzig Abschiedslied!“ hieß es jetzt. Und sie bildeten einen Kreis und sangen mit dem ergreifenden Ausdruck, den ihre Stimmung ihnen eingab, ein improvisirtes Verslein, ungefähr so:

„Lebet wohl, lebet wohl, liebe Freunde,
Lebet wohl auf Wiedersehn.
O wie hart wär’ es nicht, auseinanderzugehn,
Wenn die Hoffnung nicht wär’, sich wiederzusehn!“

Und wie sie die letzten Töne so ausklingen ließen mit ihren weichen schmelzenden Stimmen, da zuckte es manchem Manne um die Wimpern, und um die Rührung nicht allzusehr aufkommen zu lassen, traten jetzt unsere Sänger zusammen und erwiderten den Scheidegruß. Und es kreiste so fröhlich der Becher in dem großen Kreise herum – da hieß es: Einsteigen, meine Herren! Einsteigen! Wie ein elektrischer Schlag ging’s noch einmal durch die ganze Kette der verschlungenen Hände, ehe der Strom unterbrochen, die Kette gelöst ward. Jetzt kommen noch Nachzügler, von der ganzen Familie ihres Wirthes escortirt. Zum neunundneunzigsten Male nehmen sie Abschied. In der zwölften Stunde erscheint ein junger schmucker Zillerthaler. An diesen „Stanni“ knüpft sich nun die Sage, daß in Folge des rühmlichen Beispiels der Festjungfrau noch manche andere nicht-officielle Festküsse und mit speciellerer Widmung von schönen Lippen gefallen seien.

Im vordersten Wagen spielte jetzt die von den Münchnern mitgebrachte Musik den Radetzkymarsch, auf dem Perron spielte die Frankfurter Musik, die Tyroler juchheiten und jodelten, die Zurückbleibenden riefen Hoch, die Locomotive pfiff aus Leibeskräften, und der Zug that endlich einen Ruck und dann noch einen und dann noch einen. Aber was ist das? Da fliegt ja ein Schlag wieder auf, und heraus stürzt abermals ein „Stanni“. Hat er etwas in

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: aufzu-/zudrücken
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 557. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_557.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)