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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

Ein Besuch in einer Heilanstalt für Geistesschwache (Idioten).

Es war an einem schönen Frühlingstage voll Frische, blauen Himmels und Sonnenschein, als ich nach zwei Jahren wieder in jener prächtigen Lindenallee, welche aus Berlin vom Schönhäuser Thore nach Pankow führt, vor dem zierlichen eisernen Gitter stand, hinter dem der Spaziergänger, der den Park und das Schloß von Schönhausen besuchen will, seit einigen Jahren mitten in einem sorgsam gepflegten Garten ein Idiotenhaus erblickt. Aber wie war das hier anders geworden seit den zwei Jahren, daß ich nicht hier war! Das Haus war gewachsen, in die Länge und Breite, und hatte einen ganz neuen Rock bekommen von mattgelber Farbe mit grünen Fensterstreifen und architektonischem Zierrath, der ihm ganz vortrefflich stand. Und links, da stand ein zierliches Schweizerhaus mit Balcons und Gallerien und weit vorspringendem Dach mit allerlei Schnitzwerk, und auf dem Thürmchen desselben drehte sich lustig eine Wetterfahne im Morgenwinde, unter der vier lange eiserne Arme mit großen eisernen Buchstaben die vier Himmelsgegenden bezeichneten. In einem Gehege neben dem Schweizerhause sprangen Hirsche und Rehe. Wird denn hier jetzt Hochwild gehegt, wie in den Parks reicher und vornehmer Leute? Ich zog mit einem kräftigen Ruck die Klingel. Laut und hell klang der Ton durch die ländliche Stille, welche auf Flur und Garten lag, auf dessen zierlich eingefaßten Beeten die ersten Frühlingsblumen sproßten und mit ihren bunten Köpfchen neugierig aus der schwarzen Erde zum blauen Himmel aufblickten. Bald erschien hinter einer der großen Spiegelscheiben ein bekanntes Gesicht und blickte in den Garten, es war das herzliche und wohlwollende Gesicht des Directors der Anstalt, der schon nach einigen Minuten vor mir stand, das Thor öffnete und mir mit einem herzlichen Willkommen die Hand drückte. „Wie lange habe ich Sie nicht gesehen!“ rief er, „wo sind Sie überall gewesen in diesen zwei Jahren! In Italien – bei Garibaldi! erzählen Sie!“

„Sachte, sachte, Director,“ unterbrach ich ihn, „später werde ich Ihnen von Garibaldi erzählen, so viel Sie wollen, aber sagen Sie mir, wie das zusammenhängt: Hier ist Alles verjüngt und verschönert. Und gebaut haben Sie, Schweizerhäuser mit Gallerien und Balcons!“

„Es enthält die Korbmacher- und Tischlerwerkstätten für meine Zöglinge; Sie erinnern sich, vor zwei Jahren waren diese Werkstätten weit von hier, in einem jener neuen Häuser.“

„Ich weiß, ja, ich weiß; aber wirklich, ich habe mich nicht geirrt, da sind ja Hirsche und Rehe in jenem Gehege. Sie scheinen eine Menagerie anlegen zu wollen!“

„Sie wissen ja, wenn Sie das nicht Alles bei Garibaldi oder auf den nordfriesischen Inseln vergessen haben, daß die geistige Entwicklung der Idioten nur durch Cultur der Sinne möglich ist; deshalb habe ich eine Menge Hausthiere angeschafft, Tauben, Hühner, kalekutische Hähne, Hunde, auch eine Hirschkuh und ein Reh. Alle diese Aeußerlichkeiten sind in der geistigen Entwicklung der Unglücklichen von Bedeutung.“

„Und auch den Hügel hier hinten im Garten haben Sie umgewandelt. Das ist ein hübsches Rondeau geworden, mit einem schönen Dach, wie ein kolossaler chinesischer Sonnenschirm!“

„Ja, diese Verwendung des Raumes erschien mir so praktischer. Hier auf dem Hügel unter dem chinesischen Sonnenschirm wird nun im Freien gespeist, auch der Unterricht wird hier in der schönen Jahreszeit ertheilt. So können die Kinder während des ganzen Tages im Freien bleiben.“

Da trat ein Mann aus dem Hause und schritt auf uns zu. Er schien hoch in den fünfziger Jahren zu sein, eine kräftige Gestalt, mit verlebtem Gesicht von mattgelber Farbe und kurz geschnittenem blonden Haar; in seinen großen blauen Augen zuckte zuweilen ein Blick, der dem Beobachter über seinen Gemüthszustand keinen Zweifel lassen konnte. Er trat zu uns heran.

„Wer ist der Mann?“ flüsterte ich dem Director zu, „wohl auch einer von Ihren Pensionären?“

„Ah, ich werde die Herren vorstellen,“ erwiderte der Director, „der Herr Baron von X. aus Russisch Polen, erst seit einigen Monaten hier. Er glaubt, daß seine Familie ihn verkauft hat, um ihn auf die Festung zu bringen und ihn seiner Güter zu berauben. Er hat sich bei der letzten Revolution in Polen betheiligt –“

„Nein, ich habe mich gar nicht betheiligt, das sagt man mir nur nach, ich bin ein treuer Unterthan meines Kaisers,“ unterbrach der Mann den Director in einem etwas gereizten Tone, „aber dennoch bin ich ein großer Verbrecher, und ich bin nicht würdig, in der Gesellschaft von guten Menschen zu sein.“

Wir waren die Stufen hinangestiegen, welche auf den kleinen Hügel hinaufführten, und setzten uns auf die Bank unter den großen hölzernen Sonnenschirm. Der Baron zögerte uns zu folgen. „Setzen Sie sich doch zu uns, Herr Baron,“ rief der Director, „kommen Sie her. Rauchen wir eine Cigarre zusammen!“

Der Baron sah uns zweifelnd an. Wieder zuckte das irrsinnige Lächeln in seinen Augen. „Nein,“ rief er, „ich bin ein schwerer Verbrecher und bin nicht würdig, neben guten Menschen zu sitzen.“

„Aber so kommen Sie doch,“ rief ich, „in meiner Gesellschaft brauchen Sie sich nicht zu geniren; ich bin auch ein Verbrecher, habe auch Revolution gemacht und habe schon mehrere Jahre auf der Festung gesessen in Casematten mit dicken Mauern und hinter Gitterfenstern, also kommen Sie und setzen Sie sich!“

Da blickte der Baron mich mißtrauisch an. „Ich habe es ja schon gesagt,“ erwiderte er, „ich bin kein Verbrecher, wie Sie, ich bin auch kein Republikaner, ich war immer ein treuer Unterthan meines Kaisers.“ Dann wandte er sich ab und ging nach dem Hühnerhofe.

„Lassen Sie ihn gehen, Sie haben es jetzt mit ihm verdorben. Von der Revolution darf man mit ihm nicht sprechen,“ sagte der Director und zündete sich eine Cigarre an; „an die letzte polnische Revolution knüpfen sich alle seine fixen Ideen. Sie wissen, mein Haus dient auch als Asyl, wo ich ausnahmsweise auch einen Irrsinnigen aufnehme, der ruhig ist. Ich habe deshalb dort oben im zweiten Stock auch drei Fenster mit dünnen eisernen Traillen versehen lassen. Hr. v. X. ist aus Warschau gebürtig und besitzt große Güter in Polen. Während der Revolution im verflossenen Jahre brachte einer seiner Schwiegersöhne einen sehr compromittirten polnischen Edelmann, der von der russischen Polizei verfolgt wurde, glücklich mit seinem Gespann über die preußische Grenze. Der Mann wurde denuncirt und zu zwei Jahren Festung verurtheilt, und die russische Regierung ließ zur Strafe eine Summe von hunderttausend Rubel auf seine Besitzungen eintragen. Die Sache afficirte Hrn. v. X., den Sie hier sehen, so, daß sich bei ihm Spuren des Irrsinns zeigten. Uebrigens hat er sehr stark gelebt, Sie sehen es ihm auch an, so daß die Krankheit, wie hier die Aerzte meinen, auch wohl schon in seinem Körper war und die Gemüthserschütterung nur der Anlaß zu derselben war. Seine Heilung ist sehr zweifelhaft. Im Allgemeinen ist er sehr ruhig, nur dann und wann widersetzt er sich. Er hat einen eigenen Diener zu seiner besondern Aufsicht und Aufwartung. Seine Behandlung wird mir dadurch sehr erleichtert, daß er sich einbildet, ich wisse Alles, was er thue, und könne Alles machen, was ich wolle, nötigenfalls Regen und Sonnenschein, Frühling und Winter.“

„Wie viel Idioten haben Sie denn jetzt in Ihrer Anstalt?“

„Gegenwärtig? Es sind 36 im Hause. In den drei Jahren, daß die Anstalt besteht, hatte ich 50 Zöglinge?“

„Was sind denn die muthmaßlichen Gründe der Idiotie bei den jetzt anwesenden Zöglingen?“

„Sie wissen, ich pflege die Krankheitsgeschichten, soweit sie zu erforschen sind, die Elternverhältnisse und die Entwicklung der Zöglinge vor der Aufnahme in die Anstalt mit möglichster Genauigkeit in meinem Anstaltsjournal zu verzeichnen. Sie können sich die Bücher oben in meinem Zimmer nachher ansehen. Bei Einem hatte die Mutter während der Schwangerschaft eine längere Seereise gemacht, während der sie in hohem Grade seekrank war. Ein Anderer hat lange Zeit am Bandwurm gelitten. In einem Falle werden als Ursache die vielerlei Krankheiten angegeben, die er in der frühesten Kindheit zu überstehen hatte und die seine Entwicklung hemmten, bei einem Andern soll der Mangel an Nahrung bei der Amme schuld sein. Einer wurde ganz gesund geboren, erkrankte im zweiten Lebensjahre am versteckten Scharlach und bekam nach der Genesung ein Nervenfieber, das einen noch andauernden nervösen Kopfschmerz hinterlassen hat. Bei Einem ist als muthmaßlicher Grund der Idiotie die seit Generationen herrschende Sitte der Verheirathung unter den nächsten Verwandten angegeben. Die

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verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 600. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_600.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2020)