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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

war ganz natürlich, daß sie mehr und mehr rückwärts kam. Sie schien es nicht zu bemerken, und wenn auch Gehöft und Felder den Verfall bald deutlich genug zur Schau trugen, hatte doch die Eigenthümerin dafür weder Sinn noch Auge. Sie hatte keine andere Sorge, als das blinde Davidle zu pflegen und dafür zu sorgen, daß kein Spielzeug, das er wünschte, an seinem Bettchen, kein Leckerbissen seinem Tische mangelte.

Es konnte nicht fehlen, daß der Verfall eines so stattlichen Guts die allgemeine Aufmerksamkeit in Anspruch nahm und daß viel Gerede ging von dem sonderbaren Wesen der Bäuerin, die bald ziemlich unverhohlen für gemüths- oder geisteskrank galt.

Als im Frühjahr die rothen Saatspitzen aus den Schollen brachen, zerfiel auch die gebrechliche Hülle, die den kleinen Blinden noch an die Erde band, und mit seinem Tode zerriß die letzte Verbindung, die Annemarie auf dem väterlichen Gute hielt. Eines Morgens hatte sie dasselbe verlassen und erschien beim Landrichter, um ein Verhör zu verlangen.

Erschüttert vernahm der Beamte den umständlichen Bericht über die blutigen Vorgänge am Schauerkreuz; er konnte sich nicht verhehlen, daß der ganze Bericht das Gepräge einer entsetzlichen Möglichkeit an sich trug, dennoch erschien er ihm unwahrscheinlich, denn die Erzählerin war ohne Zweifel ihrer Sinne nicht mächtig und hatte in ihrem vielfachen Jammer sich die Schreckensgeschichte so zusammengeträumt. Das Gutachten der Aerzte stimmte damit überein, und der Bescheid des Obergerichts schlug die Untersuchung wegen mangelnden Beweises nieder, da außer der unglaubwürdigen Aussage Annemarie’s und bei dem Tode aller Betheiligten kein einziger Anhaltspunkt gegeben war.

Geöffnet.   Die eiserne Jungfer.   Geschlossen.


Annemarie erwiderte kein Wort, als ihr der Beschluß eröffnet und ihr die Entlassung aus der Haft angekündigt wurde, welche bei der Schwere des Verbrechens, dessen sie sich selbst anklagte, über sie zu verhängen gewesen war. Dieser Ausgang diente nur dazu, ihre Ueberzeugung von der Ohnmacht weltlicher Gerechtigkeit noch fester zu begründen – und ihr zu bestätigen, daß sie recht gethan.

Ohne Abschied verließ sie das Gerichtsgebäude, aber sie kam nicht mehr auf den Stürzerhof zurück: sie war vom selbigen Augenblick an verschwunden, und als nach einigen Monaten ein gerichtlich erlassener Aufruf vergeblich geblieben war, glaubte die ganze Gegend, daß sie im Irrsinne ihrem Leben ein Ende gemacht habe und wohl irgendwo die Leiche einmal zum Vorschein kommen werde.

Nur einmal des Nachts glaubte der Meßner, dessen Fenster über die Freithofmauer auf die Gräber gingen, an den Hügeln Adrian’s und seines Bruders eine dunkle Gestalt knieen zu sehen – als er hinüber eilte, war sie verschwunden.

Ein unbestimmtes Gerücht erzählte, die Stürzerbäuerin sei bis über den Rhein und noch weiter fort gewandert, und als barmherzige Schwester in einem Krankenhause gesehen worden.

– Der Stürzerhof wurde auf Antrag der Verwandten lange Jahre von Gerichtswegen verwaltet und dann verkauft. Er fiel einem Zertrümmerer in die Hände, der des alten Stürzer mühvolles und segenloses Werk völlig vernichtete und das Gut in mehrere kleine Besitzthümer zerschlug. Ob damit auch der Wohlstand und der Friede daselbst wieder heimisch geworden, wissen wir nicht; die blutige Vergangenheit, die sich daran knüpft, ist beinahe gänzlich verklungen im Munde des Volks.

Das alte Schauerkreuz ist längst eingestürzt und nicht erneuert worden; am Stamme der unversehrt stehenden alten Eiche aber ist ein Crucifix angebracht und darunter sind drei Kreuze in die Rinde gegraben. Das Plätzchen ist ungemein anmuthig und giebt einen freundlichen Ueberblick über die tannenumkränzte Flur. Kaum wird ein Fußwanderer vorüberziehen, ohne sich in den breiten kühlenden Schatten der Eiche zu setzen und bei ihrem Rauschen vielleicht über die Bedeutung der drei Kreuze zu sinnen.

Er ahnt wohl kaum, daß Blut um Blut auf der grünen Moosdecke geflossen, von der ihm das Haidekraut entgegen duftet und die Waldluft ihn anhaucht mit einem Gruße des Friedens.




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verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 677. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_677.jpg&oldid=- (Version vom 7.9.2020)