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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

Ein oberfränkisches Landschaftskleeblatt.
Von L. Storch.
Nr. 2.0 Das Schloß eines deutschen Reichsgrafen.

Wie das jetzt größtentheils zu dem Königreich Baiern gehörige Land Franken eins der schönsten in Deutschland ist, so war die fränkische Ritterschaft eine der reichsten und mächtigsten in Deutschland, und noch heute schmücken viele ihrer Dynastensitze seine Berge und Hügel und die Ufer seines großen Stroms, des Mains. Zu den am treuesten gepflegten gehört das Schloß Thurnau, das noch jetzt die Residenz der in Baiern hochangesehenen Grafen Giech ist. Zu ihm lenken wir heute unsere Schritte.

Schon die äußere Erscheinung des großartigen und stattlichen Grafenschlosses regte mich ungemein an, als wir die Anhöhe in Mitte des Städtchens, an welcher es sanft emporsteigt, hinauf schritten; denn das feste Haupteingangsthor ist oben; insbesondere ist es die verschiedene und unregelmäßige Bauart, die auf jeden poetischen Sinn einwirken muß, zumal wenn er von der nüchternen Regelmäßigkeit der modernen Bauart vorher gelangweilt worden ist. Schon im Thorhause wehte uns wieder jener freundliche Geist geregelter maßvoller Ordnung, auf’s Innigste verbunden mit natürlichem Schönheitssinn, der uns beim Betreten der Marken Thurnaus und noch mehr im Orte selbst so gemüthlich begrüßt hatte, nur in erhöhter Stärke und Lieblichkeit entgegen, und er potenzirte sich gleichsam mit jedem Schritte, den wir über den geräumigen, mit einem großen und im Styl des vorigen Jahrhunderts ornirten Brunnen geschmückten Hof dem heitern Wohngebäude der gräflichen Familie zu machten. An und neben der grotesken und pittoresken Eigenthümlichkeit der verschiedenartigen Architektur ist es überall die ungesuchte und nichts weniger als pedantische Sauberkeit, die das Auge vergnügt, wohin es sich wendet. Auf dem Hofe beginnen schon die Zusammenstellungen archäologischer Sculpturen und Bildwerke monumentaler Ornamentik, die in irgend welcher Beziehung zur Geschichte und Biographik des Grafenhauses stehen.

Schloß Thurnau.

Das Schloß ist eins der größten und ältesten kleiner Dynasten in Franken und bildet ein unregelmäßiges mit acht Thürmen geziertes Viereck. Drei umfangreiche Höfe geben eine Vorstellung von der Ausdehnung dieser echten Burg. Sechs bis sieben und wohl noch mehr Jahrhunderte haben daran gebaut und jedes ihm seinen eigenthümlichen Baustyl aufgeprägt. So hat man eine wahre Musterkarte der Geschichte der Baukunst vor sich, von der hochragenden thurmartigen und auf einen zu Tag stehenden Felsen fußenden Kemnate aus dem 12. Jahrhundert, dem „Haus auf’m Stein“,[1] bis auf den neuesten Bau aus dem vorigen Jahrhundert. Doch datirt der Ausbau des Schlosses, wie er jetzt ist, zumeist von der Mitte des 16. Jahrhunderts an; denn im Bauernkriege wurde das Schloß, wie so viele fränkische Edelsitze, ausgebrannt und verwüstet. Es war ein origineller Gedanke der Pietät des jetzt regierenden Grafen gegen seine Vorfahren, den Namen eines jeden Gebäudes – und jedes hat einen besondern – und seines Erbauers, sowie die Zeit seiner Entstehung mit kalligraphischen Lettern in die Wand einhauen zu lassen. So trägt das interessante Schloß seine Geschichte in Lapidarstyl gleichsam an der Stirn.

Graf Giech, bei dem wir uns hatten anmelden lassen, trat uns als eine jener edlen einfachen Persönlichkeiten entgegen, die sich dem Blick des Menschenkenners sogleich als Träger des Genius kund geben, als Besitzer scharf ausgeprägter Individualität und der harmonischen Verbindung gleich starken Geistes- und Gemüthslebens, wie wir sie nur bei hervorragenden deutschen Naturen

  1. Urkundliche Benennung.
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 741. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_741.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)