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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)

„Hilft nichts mehr jetzt,“ bemerkte der Doctor kaltblütig, indem er den heranschlagenden und weit hin schwappenden Wogen auswich.

„Thut nichts,“ entgegnete die ihn reibende Frau ermutigend. „Noch geht’s. Versuchen Sie’s jetzt, lieber Herr! Ich denke, jetzt gelingt’s.“

Noch einmal versuchte er’s und in einer so stillen, verzweifelten, mit allen Muskeln angestrengten Weise, daß viele Umstehende ächzten und die Luft zischend einzogen, während er selbst keinen Laut durch die festgepreßten Lippen hören ließ. Die Frau hatte von unten zu helfen gesucht. Jetzt sprang sie auf, vom Gesicht, aus den Haaren triefend, und flüsterte Bob, der sie tüchtig unterstützt hatte, etwas in’s Ohr.

„Was? Was sagt sie?“ frug der Capitain eifrig.

„Etwas von ’nem guten Einfall, Sir! Etwas, Sir, das besser ist, als wie – Sir! Etwas – Kurz, Sir, besser – „better to leave a limb here than a life.“[1]

„Richtig, richtig! Gott sei Dank!“ schrie der Skipper, indem seine Augen in verzweifelter Hoffnung wild aufblitzten. „Schnell einen Wundarzt! Bein ab!“

„Dies Gem’man[2] wird’s gleich aus freier Hand thun,“ rief Bill scharf, indem er auf den „Chemisten“ lossprang. Dieser lehnte die Amputation mit dem Bemerken ab, daß dies ganz außerhalb seines Faches liege und er nichts davon verstehe. Mit einer verächtlichen Bemerkung gegen die „Landratte“ eilte der Matrose landaufwärts, um einen ordentlichen Wundarzt auftreiben. Die Frau, von den Leuten umher mehrmals Sal oder Sally genannt, die sich bisher so hülfsbereit gezeigt hatte, lief ihm nach, indem sie bemerke, daß der Fremde hier nicht Bescheid wisse, sie wolle ihn auf dem geradesten Wege zum nächsten Wundarzt führen.

Die Menge, die jetzt zu einer zahlreichen Versammlung geworden war, trat inzwischen immer weiter und weiter zurück, Zoll um Zoll von der steigenden Fluth zurückgetrieben, und belugte und beleuchtete den Unglücklichen unter Ausbrüchen aller möglichen Grade von Mitleid, Leidenschaft und Schmerz. Nur Einer blieb standhaft und ungescheucht neben ihm im Wasser stehen, Bob, sein treuer Matrose, ihn ermuthigend und haltend und die nahe bevorstehende Amputation als das natürlichste und sicherste Mittel der Befreiung darstellend. Mit Hoffnung und heiter blickte und sprach er landwärts, mit unterdrückter Furcht und herausforderndem Trotz gegen die immer ungestümer sich heranwälzenden Fluthwogen. Das Warten wurde bald peinlicher und peinlicher, da sich jede Minute zu längerer Qual ausdehnte. Aber endlich jauchzte die dunkele Menschenmenge auf und bewillkommnete Bill, die Frau und zwei Wundärzte, die rasch bis an den unsichern Fluthrand heraneilten. Um aber dem seltsamsten aller Patienten nahe zu kommen, mußten zwei Boote halb auf’s Trockene herangezogen und mit dem Hintertheile so gelegt werden, daß sie von da aus sich zu ihm überbeugen konnten. Die Scene war nur spärlich von einigen Laternen beleuchtet. Man rief nach Licht, nach Fackeln. Diese flackerten nach einigen Minuten hell genug, kurze, trübe, qualmende Schiffsfackeln, und warfen eine Beleuchtung über die Hauptgruppe und den Hintergrund von düstren Menschengestalten, die vielleicht mit jeder künstlerischen Effectscene aus gemalten Nachtbildern wetteifern konnte.

Die beiden Wundärzte sahen jetzt erst plötzlich mit Schrecken die Tiefe und das Entsetzliche der Gefahr. Das Wasser umtoste schon die Kniee des Unglücklichen und hob sich in einzelnen Wellen höher und höher.

„Gott sei Dank!“ redete sie der Capitain mit seemännischer Ruhe an, „daß Sie gekommen sind, Gentlemen. Sie sehen sofort, was nothwendig ist. Rasch! Keine Minute verlieren. Time and tide wait for no man.[3] Bein ab! Frisch drauf los. Bin gern bereit nun, dem zornigen Vater Thems Fersengeld zu zahlen.“

Er sprach dies mit Heiterkeit und setzte sich fest auf seinem Stuhle.

Die Wundärzte sahen sich beide erschreckt an und schwiegen.

„Verstehen Sie mich nicht?“ rief der Capitain. „Sie sollen sofort diesen Fuß hier amputiren, sofort, sogleich, ohne alle Ceremonie. Ein Schnitt ringsum in’s Fleisch, Knochensäge, fünf Minuten, dann bin ich frei.“

„In der Eile hat man uns nicht genau den vorliegenden Fall geschildert,“ bemerkte Einer von den Beiden, „so daß wir unsere Instrumente nicht –“

„Was? wieder ohne Instrumente? Warum schickten Sie nicht schon danach? Was stehen Sie da und gaffen einander an? Im Namen des Allmächtigen, schicken Sie danach!“

„Würde nichts helfen. Können nichts für Sie thun.“

„Wie? verstehen Sie mich denn noch nicht? Ich will den Fuß nicht herausgezogen, ich will ihn amputirt haben. Das zum Henker müssen Sie können. Das ist Ihre Pflicht. Es giebt keinen Ausweg.“

„Thut uns leid, aber wir könnten die Amputation nicht unterm Wasser vornehmen.“

„Nicht können? Ich sag’ Ihnen, Sie müssen. Ich will, wenn’s Wasser sein muß, nicht im Fluß-, sondern im anständigen Seewasser sterben. Sie müssen mich hier von diesem Tode abschneiden. In einer Stunde reicht das Wasser einige Fuß über meinen Kopf. Sie müssen die Amputation versuchen, sonst sind Sie an meinem Tode schuld.“

„Unmöglich. Aber sehr möglich, daß Sie den nun von Kälte kleiner gewordenen Fuß herausbringen. Versuchen wir’s.“

„Ja, ja, Sir, noch einmal,“ rief Bill. „Das letzte Mal ist Lohn für Alles vorher.“

„Auch Du machst Dich über mich lustig? Schäme Dich, Bill! Hab’ ich nicht alle meine Kraft erschöpft? Hier sitz’ ich, zum elendesten Tode nach Zollen verflucht. Und diese Herren klag’ ich als meine Mörder an, wenn sie mir die letzte Möglichkeit der Rettung abschneiden, statt des Fußes.“

Die letzten Worte, laut und leidenschaftlich ausgestoßen, drangen bis zu der erregten Volksmenge hinüber, und aufgebracht über diese scheinbare, für sie schauderhaft wirkliche Gleichgültigkeit gegen die Leiden eines Mitmenschen, erhoben sie ein wüthend wachsendes Geschrei gegen die Wundärzte. Unter Ausrufen, wie: „Gebt ’nen ’ne Lehre!“ „Laßt sie Themsebrei kosten!“ „Spielen wir Ersäufens mit ’nen!“ trat ein derber Kerl, den sie Dobbs nannten, als ihr Sprecher und Bevollmächtigter aus ihrer Mitte hervor, bis an die Kniee in’s Wasser und dicht vor die beiden Wundärzte. „Hier ist keine Zeit zum Schwatzen! Gleich die Instrumente geholt, sonst – hier ist der Aderlasser noch, der geht!“ –

Lautes Beifallsgebrüll unterstützte diesen Antrag, und der Skipper selbst bat jetzt wie ein Herrscher.

Die beiden Doctoren begriffen jetzt das Gefährliche ihrer Lage und beauftragten den Chemisten, die chirurgischen Instrumente zur Amputation zu holen. Der Eine schüttelte den Kopf dazu, aber der Andere suchte dieses Zeichen wieder gut zu machen, indem er ermuthigend von einer Amputation über dem Kniee sprach.

„Wo Sie wollen!“ rief der Skipper. „Ich bin nicht feig zu sterben. Aber ich will mein Leben von hier für ’nen anständigern Tod retten. Auf Salzwasser ist er zwanzig Jahre fast mein täglicher Genosse gewesen, der Tod, von Kindheit an. Hier wäre er gemein, boshaft, tückisch. Nicht hier!“

Dabei stand er fortwährend, aber zitternd und bebend vor Kälte und Erschöpfung. Bob hatte wieder den Chemisten begleitet. Bill schob das Boot dichter an seinen Herrn und suchte ihn zu halten, zu trösten, zu wärmen. Andere Boote waren auch herbeigekommen und festgeschoben worden am Uferrande. Die fieberisch erregten Menschenmassen drängten sich in ihnen und gaben ihnen bisher Halt, daß sie nicht schwankten auf den heranklatschenden Wogen. Doch wurden einige derselben schon unruhig, zumal als eine Frau aus dem einen in Ohnmacht zusammensank und herausgetragen werden mußte.

Die Betheiligung dieser unabsehbar gewordenen Menge war beinahe eben so furchtbar, wie das entsetzliche Ringen mit dem Tode in den Gliedern und Geberden des Capitains.

Der eine Wundarzt sprach rasch und viel mit ihm. Dies beruhigte die Menschenmassen zum Horchen und Lauschen, so daß man ihn deutlich sagen hörte: „Es wäre grausam, Sie länger durch Hoffnungen zu täuschen. Die Amputation ist unmöglich oder nur ein Tod in anderer Form. Vielleicht gelingt’s doch noch, den Fuß zu befreien. Wenn nicht, so wär’s besser, sofort etwa noch weltliche Dinge zu ordnen.“

Diese Worte waren kaum gesprochen, als ein entsetzlicher weiblicher Schrei hinter Bill im Boote den Capitain wie ein Schlag mitten in’s Herz traf. Die Worte des Arztes hatten ihn dumpf

  1. Besser ein Glied hier zu lassen, als ein Leben.
  2. Gentleman – Herr.
  3. Zeit und Fluth warten auf Niemanden.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863).Leipzig: Ernst Keil, 1863, Seite 26. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1863)_026.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)