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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)

Ideen. Da wir beim Betrachten einzelner Kunstwerke auf das Innere und Aeußere desselben, auf die Form und Idee öfter zurückkommen müssen, so ist es nöthig, daß wir uns über den Begriff der Idee vor Allem ins Klare setzen. Dabei wollen wir aber von einer strengen Definition des Wortes absehen, weil wir nicht für die Wissenschaft, sondern „für’s Haus“ reden und uns mit einer Beschreibung der Sache begnügen können, wobei wir, wie ich hoffe, nichts verlieren werden.

Man empfindet zuweilen eine Sache tief und mächtig, ohne im Stande zu sein, das Empfundene genügend auszudrücken. Solche Stimmungen der Seele geben sich etwa kund beim Anhören einer ergreifenden Musik, oder wenn man am schwülen Mittag einsam im stillen Walde verweilt, oder am Morgen früh einen Berg mit weiter Aussicht besteigt, oder in tiefer Nacht zum besternten Himmel aufblickt, oder im Herbst das bunte Leben auf der Landstraße oder die Schiffe und Kähne auf dem Strom beobachtet, oder auf die fliegenden Wolken, die wandernden Zugvögel oder das fallende Laub sieht, oder sich der Ruhe freut, die am Abend niedersinkt auf Stadt und Dorf und Haus und Hof. Dergleichen Empfindungen sind zuweilen nur schwach und vorübergehend, zuweilen aber auch tief und stark und von dauerndem Eindruck. Wenn wir uns aber darüber aussprechen wollen, so finden wir selten die bezeichnenden Worte: wir sagen damit entweder zu viel oder zu wenig und nie das, was wir ausdrücken möchten. Nun giebt es aber Menschen, welche von Natur die Gabe besitzen, jene Seelenstimmungen, die wir Ideen nennen wollen, nicht allein reicher und tiefer als Andere zu haben, sondern dieselben auch mit Leichtigkeit zum Ausdruck zu bringen, sei es in Worten oder Bildern oder Tongemälden, so zwar, daß Jeder sofort in jene Seelenstimmung versetzt und der Idee theilhaftig wird. Die gefundene Form aber ist keine umständlich beschreibende, die auf einem längeren Weg zum Ziele käme, sondern kurz und bündig wie ein Sprüchwort, treffend, zündend wie ein Blitz, der die Seele erleuchtet, wie ein bedeutsamer Accord, eine Fülle von Gefühlen erweckend, – und dabei anmuthig, lieblich zu sehen oder anzuhören. Die Menschen, welche dieses Talent besitzen, sind eben die Dichter und Künstler. Sie verstehen die Sprache, welche tief Empfundenes und innerlich Geschautes leicht und sicher ausdrückt, – der Maler thut es mit Farben, der Bildhauer mit Thon und Marmor, der Musiker mit Tönen, der Dichter mit Gedanken und Bildern. Die Ideen sind demnach die Seele der Gedichte und Kunstwerke, die Form ihr wahrnehmbares, äußeres Gewand. Ein Dichter- und Künstlergeist kann nur geboren werden, denn die Kunst läßt sich weder lehren noch lernen. Was wir aber lernen können, das ist das Verstehen und Genießen der schönen Kunstwerke, das ist das Unterscheiden des Trefflichen vom Schlechten, was uns die Mode der Zeit oder das unreife Urtheil oder der verderbte Geschmack als gut aufdrängen will. Wessen Sinn für das Schöne erschlossen, wessen Geschmack durch die Kenntniß des Besten, was Poesie und Kunst hervorbrachten, gebildet ist, dem wird das Unschöne und Unedle sich nicht nahen dürfen; das Häßliche und Schlechte kann in seinem Innern keine bleibende Stätte finden.

Aber – könnte man hier einwenden – wozu bedarf es so großer Vorbereitungen, wenn die Welt des Schönen in den Dichterwerken und den Kunstschöpfungen der besten Zeiten zu finden ist? was braucht es weiter, als zu lesen und die Augen aufzuthun? Allerdings, wenn es sich um das bloße Sehen und Kennenlernen handelt. Ein Anderes aber ist Sehen und ein Anderes Verstehen. Oder willst Du Dir anmaßen, das, was die Größten und Besten als das Resultat ihres Lebens, als die Blüthe ihrer Bildung in ihren Schöpfungen niedergelegt, woran sie ein halbes Leben gelebt und manches Jahr geschaffen, beim einmaligen Lesen zu erfassen, mit einem Blick zu übersehen? Wenn jene Touristen-Karawane vor den Ueberresten des Poseidontempels in Pästum vorbei defilirt und mit dem Augenglas hinübersehend blos die Worte findet: „very nice, very nice indeed!“ so werden diese Kunstfreunde auch nicht mehr Genuß gehabt haben, als die Besucher unserer Concerte, Theater und Gemäldegallerien, wenn sie sprechen: „entzückend, herrlich, außerordentlich schön!“ Wenn man auch von dem Freund der Kunst und Literatur nicht das Urtheil des Kenners fordern darf, so soll er doch von sich selbst eine gewisse Rechenschaft verlangen. Er muß wissen, warum ihm etwas schön oder unschön dünkt, wodurch das Schöne schön ist, worin der Reiz und Zauber seiner Wirkung auf die Leser oder Betrachter liegt, und durch welche Eigenthümlichkeiten ein schönes Kunstwerk sich von Werken anderer Art, die von gleichem Werthe sein können, unterscheidet. Der sicherste Weg, ein richtiges Urtheil und einen guten Geschmack im Gebiete des Schönen zu erlangen, ist, viel Gutes zu sehen und oft zu sehen. Da aber die Wenigsten hierzu Zeit, Lust und Gelegenheit haben, so müssen sie sich einem Führer in die Welt des Schönen anvertrauen, der sie vorbereitet, anleitet und orientirt.

Nach Beseitigung des erhobenen Einwandes kehren wir zu der Vorstellung, die wir uns von der Idee gebildet, zurück und betrachten ihre Fortentwicklung zum Ideal. Ich halte diesen Gedankengang darum ein, weil ich glaube, daß man einen Gegenstand am besten begreift, wenn man seine Entstehung verfolgt. Aus der Idee, jener Stimmung der Seele an sich, geht noch kein Kunstwerk hervor, weder ein Gedicht, noch ein Drama, weder ein Gemälde, noch eine musikalische Production, obgleich die Seelenstimmung des Künstlers während seines Schaffens in ihrer Tiefe und Kraft fortwirken muß. Aber nach und nach gestalten sich jene Empfindungen zu einem Bild von Figuren, Gestalten, Handlungen, zu einem innern Gemälde, welches klar und lebendig vor der schöpferischen Phantasie des Künstlers steht. Dieses Bild, welches das Ideal genannt wird und vermöge der Empfindung zu Stande kommt, bildet gleichsam den zweiten Act des Vorgangs der Entstehung eines Kunstwerkes. Der dritte Act, der am meisten Zeit erfordert, ist dann die Ausführung mit den Mitteln, welche der besondern Kunstgattung zu Gebote stehen, – die äußere Darstellung für den Leser, Hörer oder Beschauer. Hier liegt die Frage nahe, ob nicht diejenige Ausführung die vollendetste sein wird, welche die Natur am treuesten wiedergiebt. Diese Frage muß verneint werden, sonst würden die Portraits von Denner, welche so genau waren, daß man jedes Härchen und jeden kleinen Riß in der Haut mit der Lupe nachweisen konnte, die vollkommensten sein; aber sie machen keineswegs einen großen Effect der Wahrheit; sonst müßten die Photographieen die ähnlichsten Bilder sein, eine Theatervorstellung bei Tage und zwischen wirklichen Bäumen und Häusern eine größere Wirkung haben, als das Spiel bei Lampenlicht mit Coulissen von Papier und Leinwand; – sonst müßten weiße Marmorstatuen, mit den Farben des Lebens angestrichen, schöner und vollendeter aussehen. Allein die Aufgabe der Kunst ist nicht, die Natur nachzuahmen, – das kann sie nur bis zu einem gewissen Grad, – sondern das Ideal in der Sprache und mit den Mitteln der Natur zur Darstellung zu bringen. Ein Kunstwerk darf der Natur nicht widersprechen, es muß das genaueste Studium derselben verrathen, aber es darf sie nicht erreichen wollen. Die Naturnachahmung ist nur ein Mittel zum Zweck. Das Schöne ist immer nur ein Schein, eine Täuschung, deren wir uns beim Betrachten desselben wohl bewußt sind, aber dieser Schein redet in der ergreifendsten Sprache zu uns, vermittelt uns das Höchste und Tiefste, was die Brust des Künstlers bewegt hat.

Jene scheinbare Unvollkommenheit bei der Ausfüllung ist aber keineswegs ein Verlust, sondern ein Gewinn für das Kunstwerk. Wenn ein photographisches Portrait nur den Moment geben kann und diesen in einem todten Abklatsch der Natur, so steht es in den meisten Fällen einer einfachen Stiftzeichnung – wenn auch nur in leichtem Umriß – von Künstlerhand weit nach; denn hier ist Auffassung, Geist, Allgemeines, – dort die Arbeit der vernunftlosen Maschine, welche nur wiedergeben kann, was der Augenblick ihr bietet; also muß es ein Vorzug sein, wenn der nachzubildende oder darzustellende Gegenstand durch den Geist des Künstlers geht („die Feuertaufe des Geistes erhält“), und dies ist in der That eine unabweisbare Bedingung alles Kunstschönen, wie bei den Gesetzen des Schönen weiter gezeigt werden soll.

Denken wir uns einen Maler, welcher, vielleicht durch irgend eine hübsche Landschaft, welche die Natur ihm bietet, zu der Idee einer beschaulichen Ruhe und Stille in der Einsamkeit angeregt wird. Er will ein Bild schaffen, welches diese Stimmung ausdrückt. Wird es ihm aber gelingen, wenn er sein Vorbild bis in’s Kleinste abschreibt und nachahmt? Gewiß nicht. Er muß das Vorhandene in sich aufnehmen und durch Wegnehmen und Zuthun, durch die geeignete Beleuchtung und Lichtvertheilung, durch ein glückliches Arrangement überhaupt den Gegenstand für seinen Zweck zurecht machen. Dann erhält er ein Bild, welches seine Stimmung klar ausdrückt, ohne das Vorbild so zu verändern, daß es unkenntlich würde. Es ist dieselbe Gegend, es sind dieselben Objecte, aber in einer geistigern, verklärten Weise; es ist die Wahrheit im schönen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863).Leipzig: Ernst Keil, 1863, Seite 31. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1863)_031.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)