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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)

mir mein Verstand, aber mein kindisches, schwaches, eitles Herz will nicht daran glauben, und wenn ich mir’s vorstelle, wie Sie hereintreten und „Es ist aus“ sagen werden, zittere ich an allen Gliedern und das Blut steigt mir zu Kopf, und kurz, ich fühle und weiß es, daß ich das Nein nicht erwarten und hören und darnach noch weiter fortleben kann! Das Unglück der letzten Tage war zu groß; auch noch den Schlag vor den Augen der kalten Welt hinnehmen zu müssen, das würde mich an Gott verzweifeln lassen, und ich fürchte, ich würde etwas thun, was die Schmach unserer Familie nicht verringerte! Darum will ich lieber davongehen, wo mich und meine Traurigkeit Niemand kennt. Das gutmüthige Herz kann so noch immer hoffen und sich überreden: man holt Dich zu Reinhold zurück! der gute Freund, der Verstand, aber gewinnt Oberhand.

In der Residenz lebt eine Schwester meiner Mutter; zu der will ich gehen; sie wird mir einstweilen Unterkunft, Arbeit und Verdienst schaffen. Ich lege ihre Adresse bei.

Und nun verzeihen Sie mir, liebster, bester Doctor. Sei Ihnen noch tausendmal die gute Hand geküßt und Ihnen gedankt! Gott segne Sie und sei mit

Ihrer Amanda Günther.

P. S. Warum ich den Schmuck zurücklasse und was Sie damit thun sollen, brauche ich nicht zu sagen. Ach, daß ich Alles ersetzen und gut machen könnte! Die Finger wollte ich mir wund arbeiten. Das Geld, das ich zur Reise brauche, nehme ich vom Pathengeschenk der Frau Fürstin – aus meiner Sparbüchse. Das Uebrige verwenden Sie, bitte ich, wie den Schmuck. Leben Sie wohl! Gott segne Sie! Gott segne Herrn Reinhold – Theodor!“

Lange starrte Michaelis das Papier an. Es mußte wohl auch in der Stube eine kalte Luft wehen, denn der Doctor wischte sich die Augen und schüttelte sich. „Blitzkind!“ sagte er dann. „Läuft mir davon! – Trotzdem gefällt’s mir. Sie hat Ehrgefühl und steht auf eignen Füßen. – Aber, Donnerwetter, sie soll ja nicht schon selbstständig handeln! Wozu bin ich Vormund? – Wenn das die Stadt erfährt, giebt es ihrem Ruf den Rest. Ich muß eine Ausrede finden.“

Er verschloß Zimmer und Haus. Im Garten blieb er stehen. Es fehlte ihm etwas. Plötzlich schlug er sich ärgerlich vor die Stirn. „Richtig, den Hans hab’ ich vergessen! Nun läuft er in der Stadt umher. Ah, Alles geht schief! Am liebsten ging’ ich auch davon.“


7.

Der Weihnachtsabend brach an. Ein Duft von Tannen, ein geschäftiges Hin- und Hergehen und geheimnißvolles Treiben in allen Straßen und Häusern der Hauptstadt. Für Amanda schmückte Niemand den Christbaum. Still saß sie über ihre Arbeit gebückt in der Tante Wohnstube. Frau Schunke – so hieß die Tante – war eine kleine, corpulente Pastorswittwe, voll der seltsamsten Widersprüche im Innern und Aeußern. Schneeweißes Haar rahmte ein volles Gesicht von lebhafter Hautfarbe, mit hervorquellenden grauen Augen ein. Trotz ihrer sechzig Jahre trug sie beständig helle Kleider und war in ihren Bewegungen hastig und ruhelos, wie ein ungezogenes Mädchen. Jetzt aufgelöst in Schwermuth und Sentimentalität, loderte sie im nächsten Augenblick wegen eines Nichts grimmig auf und schrie und schimpfte wie ein Fischweib. Gutmüthig und boshaft, keck und schlau, hatte sie etwas von einer Katze, die nach Laune schmeichelt oder kratzt. Kinder hatte sie nie gehabt. Seit ihres Mannes Tod ertheilte sie jungen Mädchen Gesangunterricht, und obwohl alle Welt ihre geringen Fähigkeiten dazu kannte und schmähte, benutzte und zwang sie nichtsdestoweniger alle Welt, ihr jährlich eine Anzahl von Schülerinnen zu schaffen.

Als Amanda am Morgen ihrer Ankunft sich der Tante vorstellte, die traurigen Ereignisse erzählte und um Rath bat, riß Frau Schunke sie enthusiastisch an ihr Herz, vergoß Ströme von Thränen und schwur bei den Manen ihres Gatten sowohl, als ihrer Schwester, Amanda wie eine Tochter zu halten. Sie räumte ihr ein Stübchen zum Arbeiten ein und gab ihr Nachts ein Bett neben ihrem eigenen. Am dritten Tag schon änderte sich ihre Laune und blieb die folgenden Wochen gleich schlecht. Sie hatte tausend Dinge an ihrer Nichte auszusetzen, hielt zornige Reden über schlechte Erziehung, beweinte die Heirath ihrer Schwester und schmähte den Rendanten; kurz, Amanda hatte schwere, kummervolle Stunden. Sie sollte das Hauswesen in Ordnung halten, nähen, sticken und gleichwohl immer bei der Tante und für deren Unterhaltung besorgt sein; sie mußte in ihrer Trauer singen und Clavier spielen, was Frau Schunke jedesmal Gelegenheit gab, über die Talentlosigkeit ihrer Nichte sich die Haare zu raufen. Allabendlich waren die Sünden des Rendanten das Gesprächsthema, und wenn Amanda um Schonung bat, ward ihr versteckter Hochmuth und eitle Verblendung vorgeworfen. Amanda ertrug alle Launen, Nachts aber weinte sich ihr gepreßtes Herz aus. Dann wachte nicht selten Frau Schunke, die einen leisen Schlaf hatte, auf und schrie das arme Mädchen an, daß sie seinetwegen die ganze Nacht nicht schlafen könne. –

Am Weihnachtsabend war Amanda müde, denn vom frühsten Morgen an hatte sie der Magd beim Scheuern und Gardinenaufziehen geholfen. Trotzdem ließ sie, sobald die Lampe brannte, sich zu neuer Arbeit am Stickrahmen nieder, während die Frau Schunke bequem auf dem Sopha lag und gähnend bald in der Bibel, bald in Modejournalen und Notenheften blätterte.

„Es thut mir leid,“ begann die Tante, „es thut mir leid, daß ich Dich heute allein lassen muß. Aber sage selbst, ob ich Deinetwegen die Einladung der Baronin Großkopf refusiren konnte? – Du kennst die Baronin?“

„Nein, Frau Tante.“

„Du kennst sie nicht? Das wundert mich. Sie besucht mich doch sehr oft!“

„Sie vergessen, Tante, daß ich bei Ihren Besuchen nie zugegen sein darf.“

„Nicht darf?! Als ob ich es Dir je verboten hätte! Gott, ich bin ja so gut! Aber ich kenne die Aristokratie. Adelige werden durch die Gegenwart armer, bürgerlicher Wesen, wie Du, genirt. Deshalb lobe ich es, daß Du Dich nicht zu meinen Bekannten drängst.“ Sie bückte sich nach einem Notenhefte und sang, ihre schrille Stimme dämpfend, einige Take. Dann wandte sie sich wieder an Amanda. „Wo hast Du den heiligen Abend im vorigen Jahr zugebracht?“

Amanda’s Augen schimmerten feucht, als sie antwortete: „Beim Vater –“

„Hm, hm, kann mir’s denken: Weihnachten, das war ein Tag für Herrn Günther! da konnte er großthun, Einkäufe machen, Geld hinauswerfen!“

Amanda preßte die Hand auf’s klopfende Herz. „Tante!“ flüsterte sie bittend.

„Nun, nun, ich will Dir nicht wehe thun. Aber ich bin eine offene, ehrliche Natur, ich nenne die Dinge beim wahren Namen. Und so behaupte ich denn bis an’s Ende meiner Tage, daß Dein Vater ein Verschwender war, der uns Alle in’s Unglück stürzte.“

„Liebe Tante, schmähen Sie nicht heute meinen Vater, nicht heute, wo mir die Erinnerung an die entschwundene Zeit schier das Herz abdrückt! Wenn Sie ihn gesehen hätten, wie er an diesem Tag den Christbaum schmückte, Abends dann unsere Magd, die armen Nachbarskinder und mich zur Bescheerung führte, wie ihm das Glück zu geben aus allen Zügen strahlte, und wie er über unsere Freude jubelte – Sie würden den armen Todten im Grabe ruhen lassen!“

Frau Schunke trommelte mit den kurzen, fetten Fingern auf dem Tisch und schob ungeduldig die Spitzenhaube auf’s Ohr, welche immer lose auf ihrem Kopf saß.

„Dahinter steckt wohl der Vorwurf, daß ich Dir keinen Weihnachtsbaum aufputze, daß ich meine Nichte und Crethi und Plethi zu keiner Bescheerung einlade?“

„Aber, Tante –“

„Schweig! Ich erwartete den Vorwurf, weil ich menschliche Undankbarkeit kenne. Also Kind und Magd und die ganze Nachbarschaft hat er beschenkt? an mich, die arme, alleinstehende Frau, an seine Schwägerin hat er nie gedacht; mich lud er nie zu seinem Christabend, für mich hatte er nicht einen rothen Pfennig! Freilich hätte ich vom windigen Scribenten auch nicht Pfennigswerth genommen!“

Amanda stand rasch auf. „Tante,“ sprach sie zitternd vor Aufregung, „wenn ich im Zimmer bleiben soll, so sprechen Sie nicht also wieder!“

„In meinen vier Wänden kann ich reden, wie und was ich will, und Du bleibst!“

„Wenn Sie meinen Vater lästern, nein.“

Die kleine Frau warb dunkelroth; ihre Haube vom Kopfe

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863).Leipzig: Ernst Keil, 1863, Seite 50. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1863)_050.jpg&oldid=- (Version vom 29.7.2021)