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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)

Aus dem Norden.
Von Brehm.
VI. Lemminge.


Alte norwegische Schriftsteller berichten von einem räthselhaften Thiere ihrer Heimath, welches zuweilen in ungeheuren Massen vom Himmel herabgeregnet wird und dann die ohnehin armen Gebirge vollends kahl frißt. Olaus Magnus, der bekannte Bischof von Upsala, erzählt, daß er im Jahre 1518 durch einen Wald geritten wäre, welcher von Hermelins dicht bevölkert gewesen sei, so daß er den alle Marder kennzeichnenden Gestank schon von ferne gerochen habe. Sie wären kleiner, vierfüßiger Thiere wegen gekommen, welche zuweilen bei plötzlichem Wind und Wetter vom Himmel fielen, man wisse nicht, ob von fernen Inseln hergetrieben oder in den Wolken erzeugt. „Sie treten,“ fährt er fort, „wie Heuschrecken in ungeheuren Schaaren auf, zerstören alles Grün, und was sie einmal angebissen haben, stirbt ab, wie vergiftet. So lange sie frischgewachsenes Gras zu fressen haben, leben sie in Frieden; wenn dies aber zu mangeln beginnt, sammeln sie sich, wie die Schwalben, und eilen davon, oder sie sterben und verpesten die Luft mit ihren Gestank. Die Menschen bekommen davon Schwindel oder die Gelbsucht. Glücklicherweise sind die Hermelins eifrig bedacht, diese verderblichen Geschöpfe zu vernichten: sie mästen sich förmlich mit ihnen.“

Olaus Wormius bemüht sich im Jahr 1633 mit dem Beweise, daß Thiere wirklich im Wolken entstehen und herunterfallen können. Er giebt auch an, daß man vergeblich versucht hat, die Lemminge durch Beschwörung zu vertreiben. So fabelt Einer es dem Andern nach, und erst Linné beschreibt im Jahre 1740 die Lemminge naturgemäß. Aber noch heutigen Tages ist die vortreffliche Schilderung jenes großen Skandinaviers seinen Landsleuten unbekannt, und die Bauern Hochnorwegens glauben, wie die Lappen, noch immer steif und fest Dasselbe, wie der alte Bischof. Vom Himmel regnen die Lemminge herab zum Verderben der Menschen oder zur Strafe für begangene Sünden – welche letztere auch die einfachen Bauern Norwegens bündelweise auf sich laden.

Zu meiner großen Freude – und obgleich ich eben keinen außergewöhnlichen Sündenjammer verspürte – stellten sich mir die Lemminge auf dem Dovrefjeld persönlich vor, und ich bekam somit Gelegenheit, sie und ihr Leben kennen zu lernen. 1860 war gerade ein Lemmingjahr. Man begegnete in der Höhe den schmucken, behenden und muthigen Geschöpfen überall, wohin man auch blickte: unter allen Moosbüscheln und Steinen quiekte und grunzte es, über die einzelnen Schneewälder hinweg liefen sie schaarenweise; auf den Straßen fand man täglich Dutzende von ihnen getödtet, gewöhnlich durch die Hufe der Pferde oder durch die Räder der Wagen, welche sie überfahren hatten. Ich ging ihnen, selbstverständlich, mit viel Lust und Liebe nach, fing von ihnen einen um den andern, um ihn zu mir in das Zimmer zu nehmen, und bemühte mich nach Kräften, sie kennen zu lernen, erfuhr aber doch nicht viel mehr, als der alte Linné uns bereits gegeben hat.

Alle höheren Gebirge Skandinaviens, auch die Berge auf den benachbarten Inseln, und hoch oben im Norden die Tundra sind die Heimath der Lemminge. In einem Höhengürtel zwischen zwei- und viertausend Fuß über dem Meer, d. h. zwischen der Grenze der Fichtenwälder und der des ewigen Schnees, fand ich sie am häufigsten; nur einige waren auch bis in die Thäler herabgekommen. Im Gebirge bildete jeder Grasbusch, jeder Stein, jede Höhlung im Moose einen passenden Aufenthalt für sie. Sie kamen selbst bis ganz nahe an die Häuser heran, und die Katzen der Posthalterstelle Fogstuen nährten sich während der Zeit meines Aufenthalts ausschließlich von Lemmingen, weil dieses Wild ihnen die wenigste Mühe verursachte.

Die Lemminge sind ganz allerliebste Kerls. Sie sehen aus wie kleine Murmelthiere oder wie Hamster und ähneln namentlich den letzteren auch vielfach in ihrem Wesen, erreichen aber kaum die halbe Größe von diesen bissigen und ungemüthlichen Spitzbuben unserer Fruchtebenen. Ihre gesammte Länge beträgt 6 Zoll; der Schwanz ist ein nur ¾ Zoll langer Stummel. Das Männchen ist etwas größer als das Weibchen, sonst aber nicht von ihm unterschieden. Ein reicher und langer Pelz von höchst ansprechender Zeichnung deckt ihren Leib. Seine Grundfärbung ist ein lebendiges Braungelb; von ihm heben sich ziemlich unregelmäßig dunkle Flecken ab, nur der Schwanz und die Pfoten sind fast immer gelb, und von den Augen aus laufen regelmäßig zwei gelbe Streifen nach dem Hinterkopf. Die Unterseite ist immer gleichmäßig sandfarbig gelb.

Gewöhnlich hört man den Lemming viel eher, als man ihn zu sehen bekommt. Der ruhig seines Weges dahingehende Wanderer wird manchmal förmlich erschreckt durch ein unwilliges Knurren und Pfauchen. Zehn, fünfzehn, zwanzig Schritte von ihm sitzt ein Lemming in irgend einer keinen Höhlung, unter einem Stein oder unter einem Moosbüschel und wahrt schreiend sein Heimathsrecht. Wenn der kleine Narr geflüchtet wäre, würde man ihn gar nicht bemerkt haben; er aber will gar nicht flüchten, sondern versucht alles Mögliche, um zu beweisen, daß er hier eigentlich der einzige Herr und Gebieter sei. Gutwillig verläßt er überhaupt seinen Platz nicht; er hat ein muthiges Herz und läßt sich nicht bange machen. Mit Quieken und Grunzen, nach Meerschweinchenart, wartet er ruhig ab, was geschehen wird. Nur wenn er gerade unterwegs ist, flüchtet er; aus seiner Höhle weicht er nicht. Wenn man auf ihn zugeht, nimmt er augenblicklich die Kampfstellung an. Er springt aus seiner Höhle hervor, quiekt, grunzt, richtet sich auf, biegt den Kopf zurück, so daß er fast auf den Nacken zu liegen kommt, und schaut nun mit seinen kleinen Augen so ingrimmig auf den Riesen vor ihm, daß dieser Riese wirklich unschlüssig wird, ob er sich mit dem Zwerg einlassen soll. Hält man ihm den Stiefel vor, so beißt er in denselben; er beißt in den Stock oder in den Gewehrlauf, auch wenn er merkt, daß hier Nichts auszurichten ist; er springt an die Beinkleider und beißt sich hier so fest ein, daß man ihn kaum abschütteln kann. Der Kampf vermehrt nur seine Tollkühnheit; er kommt zuletzt in förmliche Wuth, vergißt Alles um sich her und wird zum treuen Spiegelbild des bösartigen Hamsters. Geht man recht rasch auf ihn zu, während er unterwegs ist, so dreht er sich um und geht nun rückwärts, aber nur äußerst langsam, nach einem ihm passend erscheinenden Schlupfwinkel hin. Hier stellt er sich und nimmt nun gern und freudig den Kampf auf. So treibt er es mit dem Menschen; nicht anders mit großen Säugethieren oder Vögeln. Eine Kuh auf dem Dovre kam wüthend in den Hof gestürzt, kein Mensch wußte warum; ich sah ihr nach dem Bein; dort hing ein Lemming, der sich eingebissen hatte. Die kleinen Ponies des Gebirges, äußerst gutmüthige Thiere, geraten, wenn sie den Lemming sehen, in Wuth, gehen auf ihn zu und schlagen ihn mit den Vorderhufen zusammen. Die Hunde lassen den Raufbold gewöhnlich ganz in Frieden, und nur die Katze, das Wiesel, der Vielfraß, der Fuchs, der Wolf, die kurzöhrige und noch mehr die Schneeeule, der Bussard und der Rabe machen sich nichts aus allem Toben und Zanken, sondern rücken dem wehrhaften Burschen ohne Umstände auf den Leib, beißen ihn todt und verzehren ihn mit großem Behagen.

Einmal habe ich einen lustigen Kampf mit angesehen. Ich beobachtete schon längere Zeit eine Nebelkrähe, welche mehrere Male hinter einem Felsen niederstieß, aber immer und immer wieder zurückkam, sich auf den Block setzte und dort den Schnabel putzte. Nach einiger Ruhe schaute sie in die Tiefe nieder, stiebte ab und kam von Neuem zurück. So ging es mehrere Minuten lang fort. Ich wußte sofort, daß es sich hier um einen Lemming handle, welcher nicht gesonnen war, einen Braten für den Raben abzugeben. Aber die Krähe mußte hungrig sein, und der Hunger feuert bekanntlich den Muth zum Handeln an. Sie entschloß sich kurz, flog herab, und richtig, da guckte der Kopf des erbosten Thieres unter einem Moosbusche hervor. Vorsichtig näherte sich die Krähe, mehrmals sprang sie hoch auf, flüchtend vor dem Nager, welcher wie ein Pfeil hervorkam, in der Absicht, der großen Feindin einen tüchtigen Biß zu versetzen. Ebenso schnell, als er gekommen war, hatte er sich wieder in seine Höhle zurückgezogen, und von Neuem näherte sich die Krähe, von Neuem wurde sie vertrieben. Doch die Raben sind ein kluges Volk; sie machen gute Pläne und wissen dieselben geschickt auszuführen. Bisher hatte die Krähe den Lemming von vorn angegriffen, jetzt fing sie es gescheidter an: sie wackelte auf den Hügel hinauf, schaute von oben herab, führte einen Hieb und kehrte blitzschnell zurück. Drei ober vier Mal wiederholte sie diese Angriffsweise; – da sprang kein Lemming mehr aus der

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863).Leipzig: Ernst Keil, 1863, Seite 57. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1863)_057.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)