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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)

erwachsene älteste Tochter, welche damals mit ihrem jetzigen Gemahl, dem Kaufmann Schwarz[1], verlobt war, wetteiferten in Aufmerksamkeiten gegen ihre Gäste. Mit mütterlicher Liebe sorgte die treffliche Frau für dieselben. Sie selbst nahm die Wunde Kinkel’s, die sich sehr verschlimmert hatte, in ärztliche Behandlung, nachdem sie von dem Hausarzt unter irgend einem Vorwande sich Auskunft über die anzuwendenden Mittel verschafft hatte. Jeden Morgen und Abend legte sie eigenhändig den Verband an. Kinkel und Schurz fühlten sich nicht wie Fremde, sondern wie Angehörige des Familienkreises. Die gesunde und kräftige mecklenburgische Kost äußerte auf den Körper Kinkel’s sehr bald ihre wohlthätige Wirkung. Sein Aussehen ward gesunder und kräftiger. Das traute Familienleben, dem Kinkel so lange entfremdet war, erfrischte auch seinen Geist. Der Uneingeweihte, welcher uns gesehen hätte, wie wir, am gemüthlichen Theetisch sitzend, mit einander lachten und scherzten, und wie der „Große“ und der „Kleine“ sich einander neckten, hätte schwerlich vermuthet, daß ein entsprungener Zuchthaussträfling und ein badischer Insurgent, auf welche die preußische Polizei mit allen ihr zu Gebote stehenden Mitteln fahndete, an unserem heiteren Kreise Theil nähmen.

Bei allem Humor, welcher Kinkel zu Gebote stand, konnte er doch die Unruhe und Beklommenheit seines Herzens nicht ganz verbergen. Noch war der letzte Berg nicht überstiegen. Welch schreckliches Loos stand ihm bevor, wenn man seiner wieder habhaft ward! Auch der Gedanke quälte ihn, daß seine Johanna über sein Geschick im Dunkeln schwebte. Zwar hatte sie Nachrichten von der glücklichen Entweichung ihres Mannes aus dem Zuchthause erhalten. Aber sie kannte weder die von ihm eingeschlagene Route, welche nicht im anfänglichen Plane lag, noch seinen augenblicklichen Aufenthaltsort. „Welche Unruhe und Angst mag sie haben, da jede Minute ihr die schreckliche Nachricht von dem Mißlingen meiner Flucht bringen kann!“ sagte Kinkel zu mir mit tiefbekümmertem Herzen. Und dennoch mußte ich entschieden davon abrathen, ihr eher einen Brief zu senden, als bis Kinkel den deutschen Boden verlassen haben würde. Sie mußte auch die grauenvolle Ungewißheit über das Schicksal ihres Mannes noch einstweilen ertragen, da bei dem bekanntlich in Deutschland nicht gewährleisteten Postgeheimniß die Absendung eines Briefes an sie zu gefährlich war.

Kinkel hatte seine Frau seit seiner Gefangennehmung am 21. Juni 1849 zum ersten Male im Mai 1850 in Köln, wo der zu lebenswierigem Zuchthause Begnadigte noch einmal auf der Anklagebank saß, wiedergesehen und dann nicht mehr. Nachdem sie die Nachricht von seiner Gefangennehmung erhalten, hatte sie sich eilends nach Rastadt begeben, wo Kinkel in den Kasematten saß. Trotz ihrer unausgesetzten Bemühungen ward ihr der Zutritt zu ihm verweigert. Erst in Köln ward ihr die Erlaubniß, ihren Gatten wiederzusehen. Aber unter welchen Umständen! Der Staatsanwalt hatte „wegen Aufreizung zur Bewaffnung bei den Aufständen in Düsseldorf und Elberfeld“ die Strafe des Fallbeils gegen ihn beantragt. Johanna wohnte persönlich, verborgen vor den Augen ihres Mannes, den Gerichtsverhandlungen bei und war Zeugin seiner herrlichen Vertheidigungsrede, welche seine Freisprechung erwirkte. Der Eindruck dieser Rede war so mächtig, daß Alle, Richter, Geschworene, Zuhörer, Wachen, in Thränen zerflossen. „Nach dem Schlusse der Verhandlungen,“ so erzählte mir Kinkel, „bahnte meine Frau sich den Eingang zu dem Gerichtssaal. Ich sah sie auf mich zueilen, um mich zu umfassen. Die Gensd’armen traten unwillkürlich zurück. Der Oberprocurator John aber stellte sich zwischen uns und befahl ihnen, die letzte Umarmung zu hindern. Ein drohender Blick, in welchem sich mein ganzer empörter Stolz ausgedrückt haben mag, und eine gebietende Handbewegung hieß ihn bei Seite gehen. „„Johanna,““ rief ich, „„komm zu mir, hier ist Dein Platz, es soll Dir Niemand wehren, mich zu umarmen!““ Der Oberprocurator wich scheu zurück. Die Gensd’armen blieben an ihrem Platze wie gebannt, anstatt ihrem Vorgesetzten zu gehorchen. Johanna stürzte in meine Arme. Wir hielten uns Minuten lang fest umschlungen. Sprechen konnten wir nicht. Aber in jenen wenigen Minuten concentrirten sich unsere Gedanken und Gefühle während einer langen Trennungszeit. Ich entriß mich zuerst der stummen Umarmung. O, welchen Schmerz und welches Glück enthielten diese kurzen Augenblicke!“

Verschiedene entschlossene Freunde Kinkel’s hatten den Plan gefaßt, ihn in der Nähe Kölns bei seiner Abführung nach Spandau gewaltsam zu befreien. Alles war für die Ausführung dieses Plans bereit, seine Freunde standen im Hinterhalt auf dem Wege, den Kinkel ihrer Meinung nach passiren mußte. Aber der Eindruck, den er in Köln hinterlassen hatte, war so groß, daß die Behörde Befreiungsversuche befürchtete und aus Vorsicht kurz vor seiner Abführung beschloß, ihn auf einem anderen Wege, als dem anfänglich beabsichtigten, transportiren zu lassen. Wegen dieses unvorhergesehenen Umstandes mißglückte das kühne Unternehmen. Ein Fluchtversuch, den Kinkel selbst nachher auf dem Wege nach Spandau unternahm, war gleichfalls ohne Erfolg. Er machte mir darüber interessante Mittheilungen „Zwei Gensd’armen,“ so erzählte er, „begleiteten mich in einem verschlossenen Wagen. Es fing schon an zu dämmern, als wir in dem Wirthshause eines Dorfes in Westphalen Rast machten. Der eine von meinen Wächtern war hinausgegangen, der andere war mit mir allein im Gastzimmer und saß an einem Tische bei der zugemachten, aber nicht verschlossenen Thüre. Der Gedanke, die Flucht zu wagen, tauchte plötzlich in mir auf. Ich ging mit gekreuzten Armen, wie in tiefen Gedanken verloren, im Zimmer auf und nieder, den Gensd’armen fest im Auge haltend. Sobald ich sah, daß er den Blick von mir wandte und zum Fenster hinausguckte, sprang ich mit einem Satze auf die Thüre, öffnete sie, schlug sie wieder zu und verschloß sie mit dem draußen im Schlosse steckenden Schlüssel. Alles war das Werk eines Moments. Darauf schoß ich wie ein Pfeil aus der Hausthüre und lief in Windeseile querfeldein. Als ich etwa eine Viertelstunde gelaufen war, hielt ich an, um Athem zu schöpfen und neue Kraft zu gewinnen. Es war mittlerweile ganz dunkel geworden. Ich glaubte in der Entfernung Stimmen zu hören, und sah verschiedene Lichter sich hin und her bewegen. Ich fing wieder zu laufen an. Die Stimmen schienen immer näher zu kommen. Immer rasender stürzte ich vorwärts. Ich erinnere mich noch, daß ich in einen Feldweg einlenkte und mit dem Kopf gegen einen harten Gegenstand rannte. Darauf verlor ich das Bewußtsein und kam erst wieder zu mir, als sich eine Gestalt über mich beugte, mit vorgestreckter Laterne mein Gesicht beleuchtete und ausrief: „Aha, da haben wir ja wohl den Vogel!“ Kaum hatte er dies gesagt, so fing er an, laut um Hülfe zu rufen. Es dauerte auch nicht lange, daß seine Helfershelfer ankamen. Ein tiefer Schmerz durchzuckte mich, als ich das Mißlingen meiner Flucht erkannte. Der von mir eingesperrte Gensd’arm war sofort aufgesprungen, um mir nachzusetzen. Da die verschlossene Thür ihm den Ausgang wehrte, so hatte er versucht, das Fenster zu öffnen. In der Hast und Aufregung war ihm dies nicht schnell genug gelungen, und er hatte das Fenster eingeschlagen und Hülfe herbeigerufen. Eine ausgelobte Belohnung von hundert Thalern hatte auch einen zufällig dort anwesenden preußischen Postillon vermocht, mir nachzusetzen. Wegen der einbrechenden Dunkelheit hatten die Verfolger sich mit Laternen versehen. Alles dies hatte einen längeren Zeitraum erfordert und mir einen ziemlichen Vorsprung verschafft. Zu meinem Unglück war aber an der Stelle, wo ich in den erwähnten Feldweg einbog, ein aufgestapelter Haufen Holz, wovon ein Scheit etwas hervorgeragt hatte. Gegen dieses war ich in der Dunkelheit gerade mit der Stirn angelaufen. Der Stoß hatte mich zu Boden gefällt. Nachdem ich eine Zeitlang bewußtlos dagelegen hatte, ward ich von dem Menschen mit der Laterne entdeckt.“

Durch nichts konnte man Kinkel mehr erfreuen, als durch Musik. Erst jetzt begreife ich, wie mächtig ihr Eindruck sein muß, wenn nach langer, stiller Einsamkeit zum ersten Male wieder diese Zaubersprache das Ohr berührt. Wie mächtig ergriffen ward ich, als etwa ein Jahr nach meiner Verhaftung die Stille meines Gefängnisses plötzlich durch von der Straße her erschallende harmonische Accorde unterbrochen ward! Eine Musikbande, wie ich später hörte, aus Sülz, welche sehr schön und rein verschiedene Stücke auf Blasinstrumenten vortrug, hatte sich in unsere Nähe verirrt. Neue Lust und Liebe zum Leben erfaßte mich, alte theuere Erinnerungen tauchten wieder in mir auf. Die Musikanten haben es vielleicht büßen müssen, daß sie unvorsichtiger Weise den Gefangenen einen solchen Genuß bereitet haben. Ich aber habe die Erinnerung daran nicht verloren. Mit Ausnahme der Orgelklänge und des Kirchengesanges der Zuchthaussträflinge, welche ich zwangsweise genieße, habe ich seitdem nie wieder Musik gehört. Manche Entbehrungen habe ich in den letzten vier Jahren ertragen müssen, aber nichts habe ich bitterer empfunden, als die Vorenthaltung musikalischer

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863).Leipzig: Ernst Keil, 1863, Seite 137. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1863)_137.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)