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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)


Genüsse. Im Anfange meiner Verhaftung suchte ich mir ein Surrogat zu verschaffen, indem ich einmal auf einem mit feinem Papier belegten Kamm blies und meiner Ansicht nach wundervoll phantasirte. Aber das Vergnügen ward sehr bald durch die Worte des herbeigeeilten Gefangenwärters unterbrochen: „Ich bitte Sie, Herr Advocat, was machen Sie da für einen Lärm? Hören Sie doch auf, das kann man ja in allen Zellen hören!“ Dabei fiel mir zu meinem Troste ein, wie Recht mein alter Lehrer Thibaut hatte, als er uns in Heidelberg vom Katheder docirte, daß die Rechtsregel: cessante ratione legis, cessat lex ipsa, ganz falsch sei, und daß, wenn z. B. ein Polizeiverbot wider das Singen in den Straßen zur Nachtzeit existirt, selbst eine Catalani sich nicht ungestraft über jenes Verbot hinwegsetzen dürfe. Ich war der Erste, welcher Kinkel wieder durch Musik erfreute. Der Eindruck war um so größer, als sie ihm seine Frau, bekanntlich eine Meisterin in der Kunst, mit verdoppelter Macht in Erinnerung rufen mochte. Wir waren bei Frau Brockelmann in ihrem Wohnzimmer, in welchem ein Piano stand, zum Thee versammelt. Ich setzte mich ans Instrument und phantasirte. Als ich geendet hatte, legte Jemand seine Hände auf meine Schulter und drückte mich sanft an sich. Ich drehte mich um und sah Kinkel, der sich über mich gebeugt hatte und mich liebevoll anblickte. „Haben Sie mir auch dies noch zu Liebe gethan?“ fagte er bewegt. Eine Thräne perlte ihm die Backe hinunter.

Eine Ueberraschung ähnlicher Art ward Kinkel durch den Werkführer Brockelmann’s, Namens Iben, bereitet. Es ist eine alte Rostocker Sitte, daß unser Stadmusikus am 10. November, dem Geburtstage Martin Luther’s, und den darauf folgenden Tagen mit seinen Leuten in der Stadt umherzieht und in jedem einzelnen Hause gratulirt, wofür die Bewohner durch Zahlung einer beliebigen kleinen Geldsumme ihren Dank ausdrücken. Gegen eine Extra-Remuneration werden auch einige Musikstücke zum Besten gegeben. Auch zu Ernst Brockelmann kam an einem jener Tage der damalige Stadtmusikdirector Schulz mit seinem Musikcorps. Iben hatte zufällig Kinkel am Fenster gesehen. Die Aehnlichkeit desselben mit einem früher gesehenen Portrait Kinkel’s hatte ihn frappirt und auf die stille Vermuthung gebracht, der Fremde möchte Kinkel selbst sein. Um demselben eine Freude zu bereiten und zugleich seine politischen Sympathien auszudrücken, bestellte er die Marseillaise, die denn auch auf der Diele des Brockelmann’schen Hauses von dem Schulz’schen Musikcorps mit gewohnter Meisterschaft executirt ward. Man denke sich die Ueberraschung der Flüchtlinge, als plötzlich die Marseillaise zu ihnen heraufschmetterte. Welch’ schroffer Uebergang! Aus der Stille und dem Zwange des Zuchtauslebens plötzlich hinein versetzt in die jubelnde, Freiheit athmende Welt! Das mächtige Freiheitslied war ihnen der Herold einer besseren Zeit. Als ich bald darauf zu ihnen kam, waren sie noch tief ergriffen und begeistert von dem Eindruck der Scene.

(Schluß folgt.)




Die St. Elmsfeuer im Januar 1863.[1]

Am Nachmittag des 20. Januar hatte ich in Geschäften meine 3 Meilen unterhalb Hamburg, nicht weit von der Elbe belegene Fabrik verlassen und wurde in dem benachbarten Orte von einem heftigen Gewitter überrascht, dessen hart auf den Blitz folgender Donner seine Nähe bezeichnete und mich veranlaßte, voll Besorgniß vor Unglücksfällen nach Hause zu eilen. Unterwegs überfiel mich ein so rasender Sturm mit Graupeln, daß ich kaum vorwärts kommen konnte und mehrmals in Gefahr war, in die breiten Marschgräben zu stürzen. Endlich erreichte ich meine Fabrik, deren Anblick mir bis kurz vor dem Eintritt in den Hof durch einen hohen Marschdeich entzogen wird. Als ich den Hof betrat, sah ich voll Schrecken meine Besorgniß vor dem Einschlagen des Blitzes zur Wahrheit geworden: die Windmühle brannte an den drei oberen Flügeln. Während ich nach dem ersten Schreck näher gehend noch mit mir überlegte, welche Maßregeln gegen das Feuer bei dem rasenden Sturme zu ergreifen seien, gewahrte ich deutlicher, daß die Flammen nicht züngelten, sondern mehr wie eine Garbe emporstanden und durch das dichte Schneegestöber ungestört an demselben Platze beharrten. Freudig bewegt von der schönen Erscheinung, welche zu sehen lange mein Wunsch gewesen war, rief ich alle Hausgenossen hervor, um den Anblick zu theilen, und etwa eine Viertelstunde (6½ Uhr), konnten wir uns dem Genusse hingeben, da erlosch das Feuer plötzlich nach einem heftigen Blitzschlage mit augenblicklich folgendem Donner. Anderen Morgens vernahm ich, eine benachbarte Windmühle habe gebrannt, es seien die Spritzen und die Löschmannschaften hingeholt. Als aber nähere authentische Nachricht eingeholt wurde, ergab sich, daß der Feuerlärm nur durch die gleiche Erscheinung entstanden sei, denn habe man einen Flügel herumgedreht, um den brennenden zu fassen, so sei der untere von selbst ausgelöscht und der oben kommende sofort in Flammen ausgebrochen, auch habe man an den zugänglichen Flügeln dann weder Kohle noch Erwärmung wahrgenommen, so daß man sich endlich beruhigt und, wie das bei solchen Gelegenheiten üblich, sich lieber dem Löschen des Durstes hingegeben habe.

Der Branddirector des Districtes theilte mir an demselben Tage mit, daß in einem benachbarten Kirchspiel, Rellingen, ein großer Zulauf von Menschen stattgefunden habe, weil die Kirche in Brand gestanden, man habe den spitzen, mit Schindeln gedeckten Thurm bis ziemlich tief herunter eine geraume Zeit in lichtem Feuer gesehen, die Spritzen seien requirirt, die Archive aus den benachbarten Predigerhäusern ausgeräumt, Alles sei auf den Beinen gewesen, nachher habe man das Feuer nicht wieder finden können, aber die Nacht hindurch doch eine Wachmannschaft von 50 Köpfen bei den Spritzen postirt gehalten.

Aehnliche Vorgänge waren zu Wedel an der Elbe geschehen, und weil daher die Erscheinung ungewöhnlich große Dimensionen gehabt zu haben schienen, theilte ich meine Kunde davon in einem Localblatte mit, indem ich zugleich um weitere Nachrichten aus dem Innern des Landes bat.

Briefe aus den verschiedensten Gegenden und mündliche Mittheilungen von meinen Collegen in der wenige Tage darauf zusammentretenden holsteinischen Ständeversammlung setzen mich in den Stand, jetzt ausführlicher zu berichten.

Wenn ich bei der Aufzählung der Thatsachen von der Gegend, wo ich selbst die erste Beobachtung gemacht, also der Nachbarschaft Hamburgs, ausgehend die Nordseeküste nach Norden hin verfolge und dann im Osten wieder nach Hamburg zurückkehre, so entsteht ein geschlossener Kreis, dessen Inneres jedenfalls als Gebiet der Erscheinung betrachtet werden kann, da man keinen Grund hat anzunehmen, daß eine lineare Verbreitung einer in sich zurückkehrenden Curve eine richtigere Vorstellung des Sachverhaltes sei.

In der Nähe von Rellingen, bei dem Dorfe Egenbüttel, ist nach mündlicher Mittheilung eines Ständeabgeordneten ein kleines Tannengehölz von lichten Flämmchen so übersäet gewesen, als wäre es aus lauter brennenden Weihnachtsbäumen aufgebaut. – Aus mündlichen Mittheilungen eines anderen Abgeordneten geht hervor, daß die Mühle zu Steinburg und der Kirchthurm zu Hohenfelde, etwa drei Meilen gegen Nordwesten, dieselbe Erscheinung gezeigt haben, wie die zuerst erwähnten Mühlen und Kirchen. Beide Orte liegen ebenso wie Uetersen und Wedel am Abhange der hohen Geest gegen die Marsch, während Rellingen und Egenbüttel mitten auf der Geest belegen sind.

Herr Mühlenbesitzer J. Kahlke aus Brockdorf, zwei Meilen westlich von Steinburg, inmitten der Marsch und hart an der Elbe wohnhaft, schreibt, daß auch an seiner Windmühle die Flammen des St. Elmsfeuers beobachtet worden sind. Das Kreuz der Mühle war gerade in schnellem Gange, und das Feuer erschien an den niedergehenden Flügeln in stärkerem Glanze als

  1. Es ist als bekannte Erfahrung in den Lehrbüchern der Meteorologie mitgetheilt, daß die St. Elmsfeuer (kleine, bisweilen von einem zischenden Geräusche begleitete Flämmchen, welche sich namentlich an hochliegenden, besonders spitzen Körpern bei starker Gewitterluft zeigen) bei Wintergewittern hervorzutreten pflegen. Die großartigste Erscheinung dieser Art, welche bisher in den Annalen der Meteorologie erzählt wurde, ist die vom 17. Januar 1817, wo sich in vielen Gegenden der östlichen Küste der Vereinigten Staaten Gewitter mit Regen, Schnee, Blitzen und seltenen Donnern entluden.
    D. Red.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863).Leipzig: Ernst Keil, 1863, Seite 138. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1863)_138.jpg&oldid=- (Version vom 23.6.2022)