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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)

„Ich bin nicht eher wieder ruhig, als bis ich die Gewißheit habe, daß Kinkel frei ist,“ sagte er zu mir in melancholischer Stimmung „Es wäre doch entsetzlich, wenn das bis dahin so glücklich durchgeführte Unternehmen noch mißlingen sollte.“ Wir verabschiedeten uns von einander. Es that mir wahrhaft weh, daß ich ihm kein tröstendes Wort auf den Weg geben durfte.

Schwarz kam am Mittage zu mir zurück und berichtete, daß kein Zweifel über die Identität der Person des Fremden mit dem Gutsbesitzer X. sein könne. Er habe über dem Daumen seiner Hand eine wundgescheuerte viereckige Stelle bemerkt und dies an Kinkel und Schurz berichtet. Diese aber hätten bezeugt, daß der Gutsbesitzer X. sich beim Hineinziehen der Pferde in den Stall des Wirthshauses in Fürstenberg in der bezeichneten Weise an der Thür des Stalles verletzt habe. Dessenungeachtet bestimmte uns die Vorsicht, dem Fremden nicht mitzutheilen, daß die beiden Flüchtlinge hier noch anwesend wären. Um ihn aber nicht ohne Trost von hier scheiden zu lassen, ward verabredet, und dies geschah im Einvernehmen mit Kinkel und Schurz, daß ich noch vor seiner Abreise ihn im Allgemeinen über das Schicksal Beider beruhigen solle. Ich ging darauf zu ihm in sein Gasthaus und traf ihn allein. Er kam mir erwartungsvoll entgegen. „Herr X.,“ sagte ich zu ihm, „es ist mir jetzt gelungen, Näheres über die beiden Flüchtlinge zu erfahren. Ich kann Sie nicht wegreisen lassen, ohne Ihnen davon Mittheilung zu machen. Kinkel und Schurz sind, wenn auch noch nicht gerettet, doch so gut wie in Sicherheit, fragen Sie nicht nach weiteren Details, ich darf Ihnen noch nicht mehr sagen. Aber vertrauen Sie meinem Wort. Am Montage werde ich Ihnen wahrscheinlich Näheres mittheilen können.“

X. drückte mir gerührt die Hand und sagte bewegt: „Ich danke Ihnen, Sie haben mir einen Stein vom Herzen genommen.“

Mit einem „Auf Wiedersehen am Montage“ trennten wir uns.

Die Ladung war am Freitag so weit completirt, daß sie als Ballast genügte. Am Abende legte sich der Sturm. Die „Anna“ ging am Sonnabend nach Warnemünde, und die Abfahrt von dort wurde definitiv auf den Sonntag festgesetzt. Frau Brockelmann hatte mit mütterlicher Geschäftigkeit dafür gesorgt, daß es den Flüchtlingen nicht an Speise und Trank und warmer Bekleidung während der Seereise fehlen sollte. Herr Brockelmann enthob sie durch Ausstellung von Creditbriefen aller Sorge für die nächste Zukunft. Wir Andern sorgten für Lectüre. Eine englische Grammatik, englische Lexica und Lesebücher sollten als Vorbereitung zur Erlernung der ihnen bis dahin unbekannten englischen Sprache dienen, deren Kenntniß ihnen später so werthvoll werden sollte. Die damalige Kolatschek’sche Monatsschrift und andere Novitäten waren für die Mußestunden bestimmt. Am Sonnabend Nachmittag reiste Schwarz nach Warnemünde, um Alles für die Abfahrt vorzubereiten und zugleich zu sondiren, ob die Küste rein sei.

Der Sonntag kam heran.

Am Morgen 9 Uhr stießen zwei Boote vom Strande ab, um nach Warnemünde zu fahren. In dem einen saßen Kinkel und Schurz zusammen mit Ernst Brockelmann, dem Capitain eines demselben gehörenden Grönlandsfahrers und einigen Herren, welche auf seinem Comptoir angestellt waren. In dem andern Boote waren verschiedene im Dienste des Herrn Brockelmann befindliche zuverlässige Personen. Etwas früher ging ich mit Bluhme zu Fuß nach dem eine halbe Meile von Rostock entfernten und an der Warnow gelegenen Dorfe Bramow. Um Aufsehen zu vermeiden, wollte ich nicht in Rostock in’s Boot mit einsteigen. Es war gelindes Frostwetter und dichte Schneeflocken fielen vom Himmel. Wir gelangten zur verabredeten Zeit an die vom Ufer in die Warnow führende kleine Brücke bei dem Wirthshause zu Bramow, welche zum Anlegen von Booten bestimmt ist. Es dauerte auch nicht lange, daß das Boot mit den beiden Flüchtlingen und den übrigen Personen anlegte und uns aufnahm. Die Luft, so kalt auf dem Lande, war auf dem Wasser ganz warm, wie dies immer in der kältern Jahreszeit der Fall, so lange das Wasser noch nicht mit Eis bedeckt gewesen ist. Der Schnee hörte auf, und der Himmel fing an sich aufzuklären. Eine frische Brise aus Ostnordost blähte die Segel und trug unser Schifflein leicht über die plätschernden Wogen.

Wie schön, wenn das Boot ohne Ruderschlag, wie durch unsichtbare Mächte getrieben, dahin fliegt und die sinnenden Blicke die durch das Steuerruder gebildete blänkernde Wasserfurche in ihren Schlangenwindungen weithin zurück verfolgen, oder den glänzenden Wasserspiegel betrachten, welcher, gleich neckischen Nixen, vor ihnen zu fliehen scheint! Alles um uns athmete Frieden. Die Ufer mit ihren Feldern, mit ihren weißen Häusern und grünen Fichten zogen wie Schattenbilder in tiefer Sonntagsruhe an uns vorüber. Das geschäftige Treiben auf dem Flusse, der Lärm vorbeipassirender Dampfer und Schiffe, das Schreien und Rufen der Matrosen, das Geräusch von Ruderschlägen, welches alles an Alltagen die Scene belebt und die Nähe der Seestadt verkündet, hatte einer tiefen Stille Platz gemacht. Man hörte nur das einförmige Geräusch der Wellen und das Gemurmel des das Wasser durchschneidenden Boots. Ab und zu ward die Stille durch den „Goden Morgen“-Gruß eines in einer vorbeifliegenden Jölle hintenüber lehnenden einsamen Steuermanns unterbrochen.

Wir waren Alle in feierlicher erwartungsvoller Stimmung. Jeder hing schweigend seinen Gedanken nach.

Wir hatten uns dem „Breitling“ genähert. Es ist dies ein etwa eine halbe Stunde breites und eine Viertelstunde langes Wasserbecken, zu welchem sich die Warnow kurz vor Warnemünde erweitert. Von dort gelangt man in den „Durchstich“, einen Canal, der erst in neuerer Zeit mittelst Durchgrabung einer Landzunge angelegt ist, um den „Breitling“ mit dem in die See ausmündenden Strom zu verbinden und so einen directen und näheren Weg zum Strom und zur See zu gewinnen, als man früher hatte, wo man der krummen Windung des Flusses folgen mußte.

„Dort, wo die beiden weißen Kreuze hervorschimmern,“ sagte ich zu den beiden Flüchtlingen, „ist die Einfahrt zum Durchstich. Wenn Schwarz dort mit einer brennenden Cigarre steht, so ist dies das verabredete Zeichen, daß die Luft rein ist, und wir segeln geradezu in den Durchstich. Sehen wir ihn dort nicht, so drohet Gefahr, und wir wenden uns rechts nach jenem weißen Häuschen im Holze, dem „Schnatermann“, und landen daselbst. Wir gehen dann längs der mit Holz bewachsenen Küste, welche sich dort, wie Sie sehen, nach Nordosten hin erstreckt, und zwar bis zur äußersten Spitze derselben, genannt die „Nase“, wo wir von Warnemünde aus nicht mehr gesehen werden können. Die „Anna“ läuft inzwischen aus und segelt bis zur „Nase“, von wo ein Boot an’s Land kommen wird, um Sie an Bord des Schiffes zu bringen. Sie sehen, daß wir unsere Vorsichtsmaßregeln gut getroffen haben.“

Ernst Brockelmann hatte indeß sein Fernrohr herausgeholt und lugte nach der Einfahrt des „Durchstichs“. Wir folgten gespannt mit unseren Blicken der Richtung des Fernrohrs.

„Doa steiht Eener, Herr Brockelmann,“ sagte der Capitain des Grönlandsfahrers nach einer Pause, mit der ruhigen Zuversicht, welche den Seemann auszeichnet.

„Waraftig – Sei hebben – Recht – Captein,“ erwiderte Ernst Brockelmann. „Sei sehn ja beter so, as ick mit minen Tubus. Doa steiht waraftig Eener.“

Wiederum eine kurze Pause.

„Dat is so ehr Swiegersöhn, Herr Brockelmann,“ sagte der Capitain weiter, indem er einen halb mitleidsvollen, halb verächtlichen Blick auf das Fernrohr warf.

„Das ist wirklich mein Schwiegersohn,“ rief Ernst Brockelmann frohlockend nach einer abermaligen Pause. „Es wird Alles in Ordnung sein.“

„Aber die Cigarre?“ wandte Carl Schurz ein.

„Sehn Se denn nich, dat et rookt, as wenn et achter em brennt?“ fragte der scharfsichtige Capitain.

Wir waren dem Durchstich jetzt so nahe gekommen, daß auch wir Landratten mit unseren bloßen Augen den Kaufmann Schwarz erkennen konnten, wie er aus einer Cigarre Dampfwolken von sich blies und uns heranwinkte. Wir fuhren in die Nähe des Ufers, jedoch ohne den Lauf unseres Bootes zu hemmen.

„Alles in Ordnung,“ rief Schwarz. „Die „Anna“ liegt gleich vorn am „Rostocker Ende“. Steigen Sie von der Wasserseite ein – der Dampfer ist bereits vorgespannt.“

Eine Centnerlast fiel uns vom Herzen. Der Augenblick der Befreiung nahte.

„Zieht die Segel ein, Kinder,“ rief Ernst Brockelmann, sich die Hände reibend und das Gesicht vor Freude strahlend, „und nehmt Eure Ruder. Der Strom läuft ein. Vorwärts!“

In wenigen Minuten erreichten wir die „Anna“, legten an und kletterten an Bord. Das andere Boot war dem unsrigen auf dem Fuße gefolgt. Kinkel, Carl Schurz, Ernst Brockelmann und ich stiegen sofort in die Cajüte. Die anderen Herren vertheilten

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863).Leipzig: Ernst Keil, 1863, Seite 154. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1863)_154.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)