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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)

ihre Pfade. Auf abenteuerliche Seefahrt, auf erbarmungslosen Kampf, auf Raub und Beute war all ihr Sinnen gestellt. Aus diesem Skandinavien, welches man die „Werkstätte der Völker“ genannt hat, ging eine solche Ueberfülle von kriegerischer Wildheit und Begehrlichkeit hervor, daß man leicht begriff, wie diese Männer daheim nicht Platz gehabt, alle diese „Wikinger“ und „Berserker“ und „Seekönige“, welche auf ihren offenen „Drachen“ den wüthenden Meeren trotzten und den Tod lachend gaben und lachend empfingen.

Wehe den Küsten, auf welche der Sturm eines jener normännischen Seezüge fiel, wie sie Sommer für Sommer von Skandinaviens Gestaden ausgingen, den seßhaften Völkern sich furchtbar machend, Deutschen wie Kelten und Slaven! In jede zur Landung ladende Bucht, zu jeder Strommündung schwammen die schrecklichen Wikingerdrachen heran, und weit in’s Binnenland herein trugen dann ihre Insassen Mord und Brand. Und doch sollte auch hier sich bewahrheiten, daß es wie in der Natur so auch in der Geschichte eigentlich keine absolute Zerstörung giebt. Denn aus dem wilden Antrieb zu normännischem Seeraub entwickelte sich jene edle Abenteuerlust, welche ihre Thaten in das Buch der Weltgeschichte einzuzeichnen verlangte. Aus Piraten und Mordbrennern wurden Staatengründer. So der Normann Rurik mit seinen Gefährten mitten unter Slaven und Finnen am Dnepr und Wolchow (852), so Rolf Gangu, der erste Herzog der Normandie (911), von wo aus ein Schwarm von Normannen unter Führung des Robert Guiscard zur Eroberung von Unteritalien aufbrach. Rolf’s Abkömmling, Wilhelm der Bastard, der Sohn Robert’s des Teufels und der schönen Wäscherin Arlete, entriß, wie bekannt, England den Angelsachsen (1066), und während in der südöstlichsten Ecke Europa’s, am Bosporus, die gefürchteten Streitäxte normännischer Söldner, der „Waräger“ oder „Wäringer“, den kaiserlichen Palast von Byzanz bewachten, spannten im äußersten Nordwesten des Erdtheils Landsleute von ihnen die Segel auf, um kühn in Meerstriche vorzudringen, in welche bis dahin nur die Phantasie und auch diese nur schüchtern sich gewagt hatte.

Ein hartes, trotziges, heldisches Geschlecht, diese Nordmänner; vor keinem Wagniß, vor keiner Mühsal, vor keinem Tod zurückschreckend, aber auch vor keiner Gewaltthat. Auf sich selbst gestellte Naturen von Granit und Eisen. Man versteht unschwer, wie einer dieser Krieger auf Olaf’s des Heiligen Frage: „An wen glaubst Du?“ zur Antwort geben konnte: „Ich glaube an mich.“

Ja, sie glaubten an sich, sie vertrauten der eigenen Kraft, dem eigenen Muth, und dieses Kraftgefühl verlieh dem ursprünglich so spröden und brüchigen altnordischen Naturell eine Beweglichkeit und Unternehmungslust, die rastlos von Erfolg zu Erfolg eilte. Vom 9. Jahrhundert an sehen wir die äußersten Küsten und Inselgruppen der Nordsee durch Normannen entdeckt und theilweise in Besitz genommen. Schon früher sogar hatten sie auf Irland Niederlassungen gegründet und im nördlichen Schottland Spuren ihrer Anwesenheit zurückgelassen. Eines ihrer Raubgeschwader sodann fand i. J. 861 den Archipel der Faröer auf. Die Shetlands-Inseln wurden seit 964 häufig von ihnen besucht. Weiterhin entdeckten und eroberten sie die Orkaden und Hebriden.

Als im Jahr 863 der Sommer gekommen und die Fjorde Norwegens vom Eise frei geworden, zog ein vielberufener Wiking[1], Naddod geheißen, seinen Drachen, d. h. sein Seeschiff, vom Strande in die Salzfluth, um mit seiner Gefolgschaft eine Fahrt nach den Faröern zu thun. Von einem Sturm gepackt, wurde sein Schiff weit nordwestwärts über den Curs hinausgetrieben, welchen er halten wollte. Endlich tauchte eine Küste von fremdartigem Ansehen vor ihm aus den Wogen auf. Er erblickte ein gebirgiges Land, und sämmtliche Berggipfel waren mit Schnee bedeckt. Deshalb nannte er es Snjoland (Schneeland). Es heißt, ein schwedischer Seefahrer, Gardar, habe ganz kurz nach Naddod, ebenfalls von einem Sturm verschlagen, das Schneeland in Sicht bekommen, ja sogar dasselbe umschifft und so gefunden, daß es eine Insel sei. Dann habe er angelandet und sogar auf der Insel überwintert, auch die Kunde von dem neuen Land nach Skandinavien heimgebracht und daß es ein gutes Land sei. Das lockte im Jahre 867 einen muthigen Mann, den Floke, Vigerde’s Sohn, eine Fahrt nach dem neugefundenen Eiland zu unternehmen. Um den Weg zu finden, nahm er, wie die Sage meldet, drei geweihte Raben mit – die Raben galten für weissagende Vögel und waren dem Odin geheiligt – welche er auf offenem Meere nach einander fliegen ließ. Der erste wies ihm zu den Shetlandsinseln, der zweite zu den Faröern, der dritte nach der großen Insel den Weg, welche ihrer Küstengestaltung nach die von Naddod und Gardar gesehene sein mußte. Floke landete an der Südwestküste, da, wo jetzt Skalholt liegt, und nannte die Insel nach den ungeheuern Massen von Treibeis an der Küste Island, Eisland. Sie erschien ihm jedoch nicht sonderlich zur Ansiedelung einladend, obgleich damals in Folge des reichlichen Vorhandenseins von Waldung das Klima der Insel unverhältnißmäßig milder und fruchtbarer war, als es heute ist, und er kehrte bald wieder heimwärts (872). Hierdurch nicht abgeschreckt, machten sich zwei Jahre später zwei reiche, engbefreundete Bonden, Ingulf und Leif, aus ihrem Heimathlande Norwegen auf, mit Weib und Kind und Knechten und Mägden, mit Geräth und Zeug, Vieh und Saatfrüchten, um auf Island sich niederzulassen. Diese Männer, denen mehrere Sippen und Freunde bald nachfolgten, sie waren die Patriarchen der isländischen Colonisation, die Gründer des isländischen Gemeinwesens, in welchem, wie schon oben berührt worden, das Germanenthum seine letzte ureigene, reine und ungemischte social-politische Gestaltung erhielt. Der kleine Freistaat gedieh, und die Bevölkerung wuchs rasch an, weil die monarchisch-centralistischen Tendenzen, wie sie Gorm der Alte in Dänemark und Harald Schönhaar in Norwegen verfolgte, viele freiheitstrotzige Jarle (Edlinge) und Karle (Bauern) bewog, nach Island überzusiedeln.

Geborene Seefahrer, wie sie waren, mußten die Isländer ihre Blicke nicht nur ostwärts, dem alten Heimathlande zukehren, sondern auch bald westwärts richten, nach dem großen Ocean hin. Ein widriger Zufall zeigte auch hier dem Unternehmungsgeist zuerst die Bahn. Im Jahre 876 oder 877 ging, ob auf den Faröern oder auf Island ist ungewiß, der Sohn des Ulf Kraka, Gunnbjörn, zu Schiffe und wurde von einem Orkan weitin nach Westen entführt. Rückgekehrt, sagte er aus, daß er westlich von den nach ihm benannten Gunnbjörn-Klippen zwischen Island und Grönland eine weitgestreckte unbekannte Küste geschaut habe. Dieses Gunnbjörn’s Augen sind darnach aller Wahrscheinlichkeit zufolge die ersten europäischen gewesen, welche ein Stück der neuen, der transatlantischen Welt gesehen haben.

Atlantis war aus den Wogen des „Meers der Finsterniß“ aufgetaucht; die Ahnungen der Alten waren in der Erfüllung begriffen.

Indessen währte es doch noch volle hundert Jahre und drüber bis zur Stunde, wo ein Mann der alten Welt seinen Fuß zuerst auf den Boden der neuen setzte. Das war Erik der Rothe (Raudi), eines gewaltsamen, unbändigen Geschlechts würdiger Sprößling. Er stammte von Edlingen oder jedenfalls von Freibauern, was eigentlich ursprünglich Eins und Dasselbe gewesen. Sein Vater hieß Thorwald. Verschiedene Umstände, worunter auch eine mittelst mehrerer Morde contrahirte Blutschuld, veranlaßten Vater und Sohn, ihr angeerbtes Heimwesen in Norwegen aufzugeben und nach Island hinüberzugehen. Es sind, wie auch dieses Beispiel wieder darthut, keineswegs immer makellose Charaktere, an deren Namen große, weltgeschichtliche Vorschritte sich knüpfen. Thorwald und sein Sohn bauten sich im nordwestlichen Island an. Jener starb bald darauf, und der rothe Erik führte die Thorhild, eines angesehenen Hauses Tochter, als Ehefrau heim. Allein es war ihm nicht beschieden, fortan das ruhige Dasein eines Landbebauers zu führen. Ein Streit, in welchen er ohne sein Zuthun mit seinem Nachbar Eyjulf Saur verwickelt wurde, nahm rasch weite Dimensionen und jene bluträcherische Wildheit an, welche auf Island, wie daheim in Skandinavien, oft mehrere Generationen hindurch in Fehde begriffene Familien decimirte. Das Ende vom blutigen Liede war diesmal, daß Erik der Rothe vom Volksthing für drei Jahre für „friedlos“ erklärt, d. h. für so lange aus Island verbannt wurde.

Wie Friedlose zu thun pflegten, rüstete Erik sein Schiff, in unbekannte Fernen zu schweifen. Als er im Jahr 982 vom Snäfellsjökul aus in See stach, sagte er einem Gastfreunde zum Abschied, daß er gesonnen sei, das Land aufzusuchen, welches Gunnbjörn, der Sohn des Ulf Kraka, vor Zeiten gesehen. Er fand es wirklich und betrat die Küste bei jenem Vorgebirge, welches die englischen Schiffer heutzutage Cap Farewell, die holländischen Staatenhoek nennen. Drei Sommer und drei Winter verbrachte der kühne


  1. Altnord. Viking, Mehrzahl Vikingar, von Vik, Busen, Meer. Ein Wiking also eigentlich ein „Meermann“, Seefahrer. Den wahren Sinn des Wortes trifft aber besser unser „Seeräuber“.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863).Leipzig: Ernst Keil, 1863, Seite 247. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1863)_247.jpg&oldid=- (Version vom 11.6.2017)