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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)

innewohnende Trieb der Thätigkeit hebt ihn über manchen Abgrund hinweg, in welchem andere Ausländer versinken. Es mag ihm oft und lange schlecht gehen, er mag die plötzlichsten und härtesten Schicksalsschläge zu erdulden haben, heute in Reichthum schwelgen und morgen in Armuth darben: er wird nie ganz niedergeworfen, die halsbrechendsten Sprünge von Ueberfluß zu Mangel executirt er mit der größten Leichtigkeit, die Noth und er sind alte Bekannte, die sich vor einander nicht fürchten, er versteht gute Miene zum bösen Spiele zu machen und nimmt mit derselben Rührigkeit die Bandschachtel unter den Arm, mit der er noch vor Kurzem die Börsencourse studirte und alle Zonen in den Bereich seiner Speculationen zu ziehen suchte. Er weiß, daß Gott einen ehrlichen Deutschen nicht verläßt, zumal wenn dieser Deutsche Jude ist und es mit der Ehrlichkeit ebenso genau nimmt, als manche Christenseele, die in der schwülen Atmosphäre des Londoner Geschäftslebens treibt, blüht und wuchert. Er kommt immer wieder oben auf, weil er nie den Glauben an seine Thätigkeit verliert. Der deutsche Jude in London arbeitet zwar selten, aber er ist nie müßig, er sucht und findet immer Beschäftigung, er handelt, schachert, photographirt, ist Künstler und Lohndiener, Gelehrter und Stiefelwichser, Krämer und Großhändler, Banquier und Kommissionär, Diebshäscher und Schwindler, aber etwas ist und muß er sein, an der absoluten Faulheit, der so viele andere Ausländer hier obliegen, geht er nicht zu Grunde. Selbst wenn er liederlich wird, wozu er große Anlage besitzt, so betreibt er die Liederlichkeit geschäftsmäßig und regt seine physischen und moralischen Kräfte auf, ohne sie zwecklos zu vergeuden.

Diese allgemeine Charakteristik könnten wir sehr leicht noch weiter ausdehnen; aber wir würden dadurch unserem Ziele, dem Leser ein lebenswahres Bild von der Gattung und Species des „deutschen Juden in London“ zu zeichnen, um kein Haar breit näher kommen. Im gewöhnlichen Leben pflegt man hier den deutschen Juden in drei Theile zu zerlegen: 1) den Berliner, 2) den Frankfurter und 3) den eigentlichen Juden, womit jedoch nicht gesagt sein soll, daß jene uneigentlich seien. Im Gegentheil, sie sind eigentlich genug, haben jedoch den Gattungscharakter zu einer bestimmten Specitalität ausgebildet, die oberflächlich mit „Berlinisch“ oder „Frankfurtisch“ bezeichnet werden kann. Ueberhaupt macht diese Eintheilung auf wissenschaftliche Gründlichkeit keine Ansprüche, aber für die praktische Orientirung genügt sie. Der „Berliner Jude“ kommt selten zu etwas in London; er ist zu sehr an das Berliner Zehnsilbergroschen-Börsenspiel gewöhnt, und das zieht hier nicht. Die Londoner Börse ist eine sehr ernsthafte Institution, die sich durch wuchtige Privilegien gegen die Zwickauerei verschließt und nur demjenigen ihre Thore öffnet, welcher Tausende von wohlerworbenen oder wenigstens wohlgezählten Pfunden einzusetzen vermag. Das Börsenspiel, wie es in Paris und in verkleinertem Maßstabe in Berlin betrieben wird, hat hier überhaupt keine Chancen und ist nur dann erfolgreich, wenn es großartigere Dimensionen annehmen kann. Dasselbe gilt vom Schwindel, Der kleine Schwindel, der meist von Ausländern betrieben wird, wirft gewöhnlich nicht viel ab und ist von kurzer Dauer. Um Erfolg zu haben, muß sich der Schwindler erst durch jahrelange ehrliche Geschäftsführung Respectabilität und Capital erworben haben. In England muß gearbeitet werden, selbst der professionirte Dieb hat Vorstudien, Plan, Capital und Energie nöthig, um sein Geschäft mit Erfolg zu betreiben.

Alles das geht über den Geschmack und die Fähigkeit derjenigen Juden, die man hier unter dem Namen „Berliner“ zusammenfaßt. Der Berliner Jude ist zu fanatischer Preuße und zu eingefleischter Berliner, um aus Abenteuerlust und Geschäftstrieb in die Welt zu gehen; daher ist seine Uebersiedelung nach London gewöhnlich unfreiwilliger Natur. Am liebsten pflegt er politischer Märtyrer zu sein. Reactionäre Gläubiger haben ihn vor den Bankerottgerichtshof gebracht, polizeiliche Werkzeuge einer despotischen Regierungsform haben seine Art der Wechselausstellung beanstandet, um die Volksfreiheit ihres wackersten Kämpen zu berauben u. f. w. Außerdem spricht er immer von Berlin, macht Erfindungen, später Gedichte, die er zu declamatorischen Abendunterhaltungen benutzt, geräth tiefer und tiefer in den Schmutz von Leicester-Square, bis endlich seine Schuhe darin stecken bleiben. Sein röthlicher Bart wird nicht mehr schwarz gefärbt, Demokratie, Gedichte, Erfindungen und Philosophie laufen bettelnd auf der Straße herum und suchen jeden Menschen in Contribution zu setzen, der ein ausländisches Gesicht trägt und wo möglich Berlinisch versteht. Der „Berliner Jude“ bildet eine Ausnahme von allen seinen Glaubensgenossen, er lernt nie seine eigene, geschweige denn eine fremde Sprache, ist durchaus unpraktisch, voll Selbstüberschätzung und passiver Selbstgefälligkeit, er speculirt, aber er arbeitet nicht und reibt sich mit seinen Berliner Mucken und Grillen so lange an den scharfen Ecken und Kanten des englischen Lebens wund, bis ihm nichts Anderes übrig bleibt, als religiös zu werden. Bekanntlich giebt es hier religiöse Gesellschaften, welche einen bestimmten Marktpreis für jede bekehrte Judenseele zahlen; ihnen fällt er gewöhnlich in die Hände, läßt sich zum Christen machen und unter die Judenmissionäre anwerben. Er trägt jetzt wieder ganze Schuhe, hält Vorträge über die Rechtfertigung durch den Glauben in den Vereinen „christlicher Arbeiter“, schreibt auch Tractate über seine „persönlichen Erfahrungen in Christo“, giebt seinem Haar einen gottseligen Scheitel in der Mitte, geht glatt rasirt und bekundet seine Wiedergeburt vor aller Welt, indem er nur noch Schinken und Bratwürste ißt. Aber lange dauert das auch nicht. Er wird des Christentums und die Engländer werden des Zahlens müde; und bald sieht man ihn wieder in Leicester-Square und in dem alten Aufzuge, ein trauriges Bild verkommener Großthuerei. Ihm ist nicht zu helfen, die passive Berliner Kritik, die von jeher seine Arme lähmte, fährt ihm schließlich in die Beine, er kann nicht mehr fort und sinkt an den Stufen eines Hospitals nieder, das ihn aufnimmt, sterben und von seinen medicinischen Prakticanten seciren läßt.

In diesem Schicksale, das unter der Klasse von Ausländern, die man hier der Kürze halber als „Berliner Juden“ bezeichnet, leider zu gemein ist, liegt nun freilich durchaus nichts Jüdisches. Wenn er mehr Jude und weniger Berliner wäre, so würde es ihm in London viel besser ergehen. Er würde dann arbeiten können und sich nicht bis zum Hospital durchzubetteln brauchen, er würde sich zu fügen und zu schicken wissen, er würde den rauhen Stößen des englischen Lebens geschickt auszuweichen verstehen, anstatt sich von ihnen zerschlagen zu lassen, er würde einen guten Puff vertragen können, wie seine anspruchsloseren Glaubensgenossen, die in den polnischen Landstädtchen oder im Verkehr mit süddeutscher Intelligenz dieses gelernt haben, er würde vor die Füße und in die Zukunft sehen, anstatt für die Berliner Oper zu schwärmen und in sentimentaler Erinnerung an die verschwundenen Genüsse des Kroll’schen Etablissements dahin zu leben, er würde keine Gedichte machen und keine Abhandlungen über hohe Politik schreiben, sondern beobachten und lernen, daß das Preußenthum, über das er nicht hinauszublicken vermag, in seiner jetzigen Gestalt außerordentlich klein ist und mit der hohen Politik ebenso wenig zu schaffen hat, wie Zwickauer mit den riesenhaften Proportionen des englischen Geldmarktes. Wollen wir nun noch eine Moral daraus ziehen, so ist es die, daß sich der auswandernde Berliner vor zwei ererbten Vorurtheilen zu hüten hat, die mehr als alles Andere dazu beitragen, um den „Berliner Juden“ in England erfolglos zu machen. Diese sind 1) die durchaus ungegründete, aber zur süßen Gewohnheitsphrase gewordene Ansicht, daß das Berlinerthum witzig sei und daher jeder Berliner das angeborene Talent und Privilegium des Witzes besitze. Das Berlinerthum ist nicht witzig. Der Eckensteherwitz wurde von Glaßbrenner erfunden, der kein Berliner ist, und die Gelehrten des Kladderadatsch sind unseres Wissens zum größten Theile nach Berlin übergesiedelte Schlesier. Die Witzelei, zu der sich jeder specifische Berliner gedrungen fühlt, ist einfach unausstehlich und bedarf einer starken Portion Unverschämtheit, um nur einige Würze zu haben, sie gewinnt nicht, sondern sie entfremdet und ist die schlechteste Empfehlung, mit der ein Mensch in ein neues Leben eintreten kann. Ebenso verkehrt ist 2) die Annahme, daß Niemand, der den Accusativ von dem Dativ zu unterscheiden und die Präpositionen richtig zu construiren vermöge, sich an Genialität und Geistestiefe mit demjenigen messen könne, der in glücklicher Unkenntniß über solche grammatische Pedanterien schwebt. Es heißt zwar, daß nur die Lumpe bescheiden seien; aber es ist auf der andern Seite ebenso wahr, daß ein großer Theil von Bescheidenheit dazu gehört, um den Menschen vor der Verlumpung zu bewahren. Der Berliner Jude besitzt diese Bescheidenheit nicht. Daher ist es eine durchaus nicht auffallende Thatsache, daß sich fast keine der vielen jüdischen Firmen der City, die es zu Wohlhabenheit und Ansehen gebracht haben, auf einen Berliner Ursprung zurückführen läßt, während die Vertreter der beiden andern Classen des „deutschen Juden in London“ ein sehr gewichtiges Wort in

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863).Leipzig: Ernst Keil, 1863, Seite 313. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1863)_313.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)