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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)

der Volksversammlung gewählt, später aber ein für allemal als solche bestellt wurden und nunmehr den Namen „Schöffen“ erhielten. Das Gericht wurde zu bestimmten Zeiten und all bestimmten Gerichtsplätzen abgehalten. Es hieß das ungebotene Gericht, „ungebotene, echte Dinge“, im Gegensatz der „gebotenen“, die bei außerordentlichen Gelegenheiten abgehalten wurden.

Erst vom zehnten Jahrhundert an trat in dem Proceßverfahren insofern eine Aenderung ein, als der Begriff der handhaften That ein weiterer wurde. Ein Verbrecher, der jetzt auch nur von einem Einzelnen bei der That oder auf der Flucht oder überhaupt auf eine Weise betroffen wurde, die es zweifellos erscheinen ließ, daß er der Schuldige sei, konnte sofort auf handhafte That processirt werden, wenn nur für die Ergreifung desselben und die erforderlichen Zeugen gesorgt war. Letzteres war aber leicht zu bewirken. Wer den Verbrecher betraf und gegen ihn als Ankläger vor Gericht auftreten wollte, brauchte ihn nur zu verfolgen und dabei einen bestimmten Hülferuf auszustoßen, wie: Zetter, Jo dute, oder Mord jo dute, Zetter mordjo, Dieb jo dute! Wer diesen Hülferuf hörte, mußte bei schwerer Buße zu jeder Zeit, bei Tag und bei Nacht, der Nacheile sich anschließen. Wurde der so verfolgte Verbrecher ergriffen, noch an demselben Tag oder wenigstens dem folgenden, bis wohin ihn der Ankläger bei sich in Haft behalten konnte, vor Gericht gebracht, so wurde nun der Proceß auf handhafte That geführt. Der Kläger mußte die Schuld des Angeklagten beweisen, und zwar durch seinen und der „Schreileute“ Eid, d. h. derjenigen, welche der Nacheile sich angeschlossen hatten. In der Regel waren sechs solcher Schreileute zur Verurtheilung des Angeklagten erforderlich.

Im Uebrigen, d. h. bei nicht handhafter, der „übernächtigen“ That, blieb das alte Proceßverfahren. Nur hie und da traten einige Modificationen ein. So konnte z. B. im südlichen Deutschland der Angeklagte durch einen alleinigen Eid sich reinigen, nach anderen Rechten bedurfte er sechs Eideshelfer, mußte sich „selbstsiebent“ losschwören.

Die Gestellung des Angeklagten vor Gericht hatte der Ankläger zu bewirken. Die von letzterem ausgegangene Vorladung hieß Mannitio, und leistete der Angeklagte dieser wiederholt keine Folge, so konnte er mit Gewalt vor Gericht geführt werden. Später sorgte der Richter selbst für die Vorladung. Sie hieß Bannitio, und erschien der Angeklagte auf diese nicht, so wurde auch in seiner Abwesenheit der Proceß geführt. Er wurde in die Acht, „Verfestung“, erklärt. Der Verfestete durfte innerhalb des Gerichtsbezirks von Niemandem beherbergt werden, und der Ankläger oder dessen Angehörige konnten ihn im Betretungsfalle ergreifen und gewaltsam vor Gericht führen. Aus dieser Acht konnte er sich aber wieder „ausziehen“, wenn er innerhalb eines Jahres freiwillig vor Gericht sich stellte. In diesem Fall trat das gewöhnliche Verfahren ein. Erschien er nicht, so verfiel er in die „Reichsacht“, die sich über das ganze Reich erstreckte. Zog sich der Verbrecher durch freiwilliges Erscheinen innerhalb eines Jahres auch aus dieser nicht, so wurde die „Oberacht“ über ihn verhängt, d. h. er wurde friedlos (vogelfrei), und Jeder konnte ihn ungestraft tödten.

Mit dem Erlöschen der carolingischen Könige war endlich das altdeutsche Fehderecht, welches immer weiteren Beschränkungen unterworfen worden war, vollständig verdrängt, und der Grundsatz, daß durch ein Verbrechen die gesammte Rechtsordnung verletzt werde, zur vollen Geltung gekommen. Das alte Bußsystem kam allmählich außer Anwendung, und wenn auch einzelne Verbrechen, namentlich Tödtungen, noch geraume Zeit mit Geld gebüßt werden konnten, so geschah dies doch nur ausnahmsweise. In der Regel wurden öffentliche, und zwar meist Leibes- und Lebensstrafen verhängt. Wenn sich jetzt die Landesherren oder das Reich nur einigermaßen der Strafrechtspflege angenommen hätten, so würde diese nicht auf so traurige Abwege geraten sein, auf die sie nunmehr gerieth, und vielleicht wüßten wir nichts von einem mittelalterlichen Fehderecht.

Die alten Gesetzbücher wurden von einem in den verschiedenen deutschen Landen sehr verschiedenen und schwankenden „Gewohnheitsrecht“ verdrängt, und kaum ein Jahrhundert nach Beseitigung des alten Fehderechts tauchte ein neues auf, welches vier, ja fünf Jahrhunderte hindurch die rohe Gewalt an Stelle des Rechts setzte.

(Schluß folgt.)




Blätter und Blüthen.

Berühmte Abenteurer. Jeder, der Herrn Kinglake’s „Geschichte des Krimkrieges“ gelesen hat, wird sich erinnern, wie meisterhaft er die „Kleine Gesellschaft von Abenteurern“ schildert, die sich gegen Ende des Jahres 1848 in Paris zusammengethan hatten, um ihr Glück zu machen. Keiner von ihnen hatte etwas zu verlieren, nicht einmal einen Namen; denn von den sieben Männern hatten drei sich euphonistische Namen beigelegt (St. Armand – de Persigny – de Maupas), und das Recht, welches die Uebrigen auf ihre Namen hatten, war nicht in allen Fällen unbestritten. Die Charakteristik der einzelnen Persönlichkeiten, die Mittel und Intriguen, durch die sie Schritt für Schritt zu dem Punkte geführt wurden, wo sie Alles gewinnen oder Alles verlieren mußten, die Kühnheit der Verzweiflung, womit sie endlich Vabanque! spielten und Frankreich gewannen – alles das ist von Herrn Kinglake in die Geschichtsannalen der Welt eingetragen worden und zwar mit einer graphischen Meisierschaft, die dauernder sein wird, als die erstaunlichen Erfolge seiner „sieben Abenteurer“. Diese Erfolge aber sind erstaunlich und stehen in Bezug auf Großartigkeit einzig da in der Geschichte des Abenteurerthums aller Zeiten. Einer der Sieben ist bekanntlich mehr oder weniger anerkannter Schiedsrichter von Europa. Der Schreiber dieser Zeilen erinnert sich aus eigener Erfahrung einer Zeit, wo Herr Morny Schwierigkeiten gehabt haben würde, in Paris nur zehn Francs aufzutreiben, während der Herzog von Morny in diesem Augenblicke wahrscheinlich der reichste Privatmann des Continents ist. Die Großartigkeit und Vollständigkeit dieses Erfolges hat eine förmliche Revolution im Bewußtsein unserer Zeit hervorgerufen und unsere ersten Schulbegriffe auf den Kopf gestellt. Wir wurden irre an der Weltgeschichte, die – wie man uns gelehrt hatte – sich nach sittlichen Principien bewegen und mit all ihren Kämpfen, Siegen und Niederlagen, Actionen und Reactionen der Verwirklichung großer Fortschrittsideen entgegen streben sollte. Wenn nun „sieben Abenteurer“ durch einen extemporirten Handstreich im Stande waren, die Weltgeschichte so vollständig in die Tasche zu stecken, daß auch das geübteste Auge nicht mehr von jenen Principien und Ideen zu entdecken vermochte, – wenn sie ihre eigenen Persönlichkeiten an die Stelle der confiscirten Weltgeschichte setzen konnten: so gab es keine historische Entwickelung in dem Sinne, wie wir sie verstanden und zur Grundlage unserer politischen Bildung, Arbeit und Hoffnung gemacht hatten.

Man braucht nicht gerade deutscher Idealist zu sein, um von einer solchen „Logik der Thatsachen“ schmerzlich berührt zu werden. Ein soeben hier unter dem Titel: „Bemerkenswerthe Abenteurer von Lascelles Wraxall“ erschienenes Buch verdient daher aus mehr als einem Grunde unsere Beachtung: nicht nur weil es in sehr amusanter Weise einen Gegenstand behandelt, der so tief in unsere Zeitbewegung eingreift, sondern auch weil es eine Moral predigt, die uns für manche schmerzliche Erfahrung zu trösten vermag. Aus den interessanten Lebensbeschreibungen berühmter Abenteurer aller Zeiten und Nationen, welche das Buch füllen, geht unwiderlegbar hervor, daß das Höchste, was Kühnheit, Talent und Energie ohne Tugend und Grundsätze zu erreichen vermögen, temporärer Erfolg ist. Nur auf sittliche Grundlagen läßt sich dauernde Macht oder dauernder Wohlstand gründen. Die tiefangelegtesten Pläne schlagen am Ende fehl, wenn ihnen keine andere Hülfsquellen zu Gebote stehen, als Charlatanerie, Humbug und Handstreich. Freilich können wir uns auch beim Durchlesen dieses Buches der niederschlagenden Ueberzeugung nicht erwehren, daß die menschliche Dummheit und Leichtgläubigkeit eine Macht ist, die dem kühnen Betrüger das weiteste und dankbarste Feld eröffnet, wenn auch sein Erfolg nur von kurzer Dauer ist. Ein schlagendes Beispiel liefert die bekannte Geschichte des Königs Theodor von Corsica. Freilich verbrachte er das Ende seines Lebens im Schuldgefängnisse und war ein Gegenstand öffentlicher Mildthätigkeit, als er starb; aber seine Königswürde war gleichwohl kein leerer Titel, sondern eine wohlbegründete Wirklichkeit. Ein tapferes Volk, welches für seine Freiheit kämpfte, hatte ihm die Krone gegeben, und, fügt Herr Wraxall hinzu, „der westphälische Abenteurer war mindestens mit ebenso vielem Rechte König von Corsica, als ein corsicanischer Abenteurer 50 Jahre später König von Westphalen war.“

Mit Recht macht der Verfasser darauf aufmerksam, daß die kleinen deutschen Höfe, welche sich durch ihre Kleinheit der öffentlichen Meinung Europa’s entzogen und im eigenen Lande keine öffentliche Meinung hatten, von jeher eine leichte Beute des Abenteurerthums gewesen seien. Von den vielen Abenteurern, die der Verfasser der complicirten Geschichte unserer zahllosen Höfe und Höfchen im 18. Jahrhundert verdankt, verdient wohl keiner mehr unsere Beachtung, als der Jude Süß, der unter dem Herzog Carl Alexander in unglaublicher Schnelligkeit Herr von Würtemberg wurde. Er war der Sohn eines jüdischen Hausirers und hielt ursprünglich einen kleinen Barbierladen. Im Jahre 1732 dem Herzog von einem andern Juden empfohlen, wurde er kurz darauf sein Kanzler und erster Minister. „Mit großem Geschick,“ heißt es in unserem Buche, „aber zugleich mit noch viel größerer Gewissenlosigkeit, wußte er alle Wünsche und Pläne des Herzogs auszuführen, die Opposition niederzuschlagen, Fonds zur Erhaltung der Armee aufzutreiben und seinen Herrn über den wirklichen Stand der Angelegenheiten zu täuschen. Die Mittel, welche er anwandte, bestanden hauptsächlich in Bestechung und Einschüchterung. Binnen kurzem war der Jude Süß der eigentliche Beherrscher des Landes; alle Aemter befanden sich in den Händen seiner Creaturen; er betrug sich wie ein Pascha;

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863).Leipzig: Ernst Keil, 1863, Seite 319. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1863)_319.jpg&oldid=- (Version vom 14.10.2019)