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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)

Das Proceßverfahren wurde ein geregelteres, die Folter kam allmählich außer Gebrauch und wurde in den meisten deutschen Landen gesetzlich aufgehoben. Zuerst in Preußen 1755, in Baden 1767, in Sachsen 1770. In manchen Ländern blieb sie, wenn auch mit mehr Beschränkungen als früher, bis in unser Jahrhundert bestehen. So wurde sie in Baiern 1807, in Würtemberg 1808 und in Hannover – 1818 abgeschafft.

Im Wesentlichen behielt man das Beweissystem der Carolina bei. Man verurtheilte den Angeschuldigten auf Grund seines Geständnisses und vollen Zeugenbeweises. Die Lücke aber, die dadurch entstanden war, daß man das Geständniß nicht mehr durch die Folter erpressen konnte, suchte man in verschiedener Weise auszufüllen. In Preußen und Sachsen erfand man die sogenannten außerordentlichen Strafen wegen Verdacht. War nämlich der Angeschuldigte zu einem Geständniß nicht zu bewegen, lag aber auch kein vollständiger, sondern nur halber Beweis durch Zeugenaussagen gegen ihn vor, oder hielt man ihn blos auf Grund von Indicien für überführt, so wurde derselbe wegen Verdachts zu einer Freiheitsstrafe verurtheilt, und oft ließ man den eines schweren Verbrechens Verdächtigen zeitlebens im Zuchthaus schmachten. Bei leichteren Vergehen erkannte man dem Angeklagten einen Reinigungseid zu.

In Süddeutschland wurde dem Richter die Ermächtigung ertheilt, über den Angeschuldigten die volle gesetzliche Strafe zu verhängen, wenn der ganze Proceß so viel Verdachtsmomente ergeben hatte, daß ein vollständiger Beweis von der Schuld des Angeklagten logisch construirt werden konnte. War das nicht möglich, so wurde der Beschuldigte wegen vorhandenen Verdachts nicht völlig freigesprochen, sondern nur „von der Instanz entbunden“, mit welcher Art Freisprechung der Verlust aller bürgertichen Ehrenrechte verbunden war.

Einen bedeutenden Schritt vorwärts that Sachsen im Jahre 1838 durch ein Gesetz, welches die außerordentlichen Strafen des Verdachts aufhob und dem ganzen Beweissystem eine neue Grundlage verschaffte. Es verwies den Richter bei seinem Spruch lediglich auf seine volle Ueberzeugung, die er auf Grund der Acten gewonnen hatte und aus den Ergebnissen derselben begründen konnte. Nur behielt das Gesetz für leichtere Vergehen den Reinigungseid bei.

Dem Beispiele Baierns, Oesterreichs und Preußens folgten später fast alle übrigen deutschen Staaten. Das Königreich Sachsen erhielt sein Strafgesetzbuch vom Jahr 1838, Braunschweig von 1840, Hannover von 1841, Baden von 1845 u. s. f. Alle diese Strafgesetzbücher zeichneten sich durch Vollständigkeit, bestimmte Abgrenzung der einzelnen Verbrechen und der darauf gesetzten Strafen aus.

Die Reformen der neuesten Zeit beschränken sich im Strafrecht darauf, daß fast alle deutschen Staaten ihre Strafgesetzbücher revidirt und an deren Stelle neue gesetzt haben, in welchen die Mängel und Lücken, die erst durch die Praxis nach und nach sich herausgestellt hatten, beseitigt und ausgefüllt worden sind. So erhielten die meisten sächsischen Herzogthümer im Jahr 1850, Preußen 1851, Oesterreich 1852, Sachsen 1855 neue Strafgesetzbücher.

Eine ganz neue Richtung aber erhielt der Strafproceß. Der alte geheime und schriftliche Inquisitionsproceß wurde abgeschafft und ein öffentlich mündliches Verfahren mit dem Institut der Staatsanwaltschaft eingeführt, und zwar entweder vor den „Geschworenen“, wie in Preußen, Baiern etc., oder vor gelehrten Richtern, wie seit dem 1. October 1856 in Sachsen.

Nicht mehr hinter verschlossenen Thüren wird der Angeschuldigte processirt, sondern der Zutritt zu den Verhandlungen ist Jedem, soweit es die Räumlichkeiten des Gerichts gestatten, erlaubt. Das ganze Verfahren ist nicht mehr ein geheimes, sondern öffentliches. Wer Zeit und Lust hat, mag zusehen und zuhören, wie die Richter über den Angeklagten zu Gericht sitzen und Recht über ihn sprechen. Das Verfahren, wenigstens das Hauptverfahren, auf dessen Grund das Urtheil gesprochen wird, ist nicht mehr ein lediglich schriftliches, sondern die ganze Verhandlung wird mündlich geführt, unmittelbar vor den Richtern, die das Urtheil fällen. Eine eigentliche Beweistheorie kennt unser heutiger Strafproceß nicht. Die Richter thun ihren Spruch auf Grund ihrer aus der ganzen Verhandlung geschöpften Ueberzeugung von der Schuld oder Nichtschuld, wie sie solche bei ihrem Pflichteid vor Gott und ihrem Gewissen verantworten können. Die Geschwornen fällen das Urtheil, ohne die Gründe angeben zu müssen, die sie zu demselben bewogen haben, die gelehrten Richter dagegen haben dasselbe in den „Entscheidungsgründen“ zu motiviren.

Nur ein solches auf die Oeffentlichkeit, Mündlichkeit und Unmittelbarkeit gestütztes Strafverfahren macht eine wahrhaft gerechte Strafrechtspflege möglich.

Vieler Jahrhunderte hat es sonach bedurft, ehe dieselbe in Deutschland nach manchen traurigen Verirrungen die jetzige Höhe ihrer Entwickelung erlangt hat. Ihr höchstes Ziel aber hat sie noch nicht erreicht, denn leider haben wir noch nicht eine deutsche, in allen deutschen Staaten gleichmäßig geübte Strafrechtspflege. Ob eine solche überhaupt möglich ist? Gewiß, wenn die deutschen Regierungen es ernstlich wollen. So gut uns das Jahr 1849 eine allgemeine deutsche Wechselordnung, das Jahr 1861 ein allgemeines deutsches Handelsgesetzbuch brachte, warum sollte nicht auch ein deutsches Strafgesetzbuch und eine deutsche Strafproceßordnung möglich sein, da doch im Wesentlichen und in den Principien die aller deutschen Staaten bereits übereinstimmen!


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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863).Leipzig: Ernst Keil, 1863, Seite 336. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1863)_336.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)