Seite:Die Gartenlaube (1863) 484.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)

Tragbahre, vor dem Cordonhause. Die Russen sind eben Russen. Der Gefangene hatte sie gesehen, das todte Gesicht, den zerschlagenen Hirnschädel, die blutigen Kleider.

„Kennen Sie die Leiche?“ fragte ich ihn. Es waren die ersten Worte, welche ich seit Kalwellen zu ihm gesprochen hatte.

„Ja,“ antwortete er mit trockener, angeklebter Zunge.

„Und wer ist es?“

„Ulrich Bertossa.“

„Und wer ist der Mörder?“

Er konnte gar nicht antworten. Ich durfte dennoch den Moment nicht fahren lassen.

„Kommen Sie mit zu der Leiche.“

Er schleppte sich an meiner Seite hin.

„Wer ist der Mörder?“ fragte ich noch einmal.

Er verhüllte sein Gesicht.

„Sie sind es!“ sagte ich.

Ich durfte es nicht sagen, nach der Criminalordnung. Die Gesetze haben allerlei Vorschriften, und diese war keine schlechte. Ich mußte es dennoch sagen. Was sind alle Buchstaben der Gesetze, gegenüber dem lebendigen Rechte des einzelnen Falles!

„Mein Gott, mein Gott!“ rief er die Hände ringend.

Ich wollte, ich mußte mit dem Verhöre fortfahren. Aber der Mensch denkt und Gott lenkt, und die Russen sind eben Russen. Der erste russische Beamte trat an mich heran.

„Mein Herr, darf ich bitten, die Leiche von mir in Empfang zu nehmen, und das Protokoll darüber aufzusetzen?“

„Aber, mein Herr, in diesem Augenblicke?“

„Ich bedaure, mein Herr, ich habe keinen Augenblick mehr Zeit.“

„Es ist mir jetzt unmöglich –“

„Was Ihnen jetzt nicht möglich ist, ist später mir nicht möglich. Sie nehmen jetzt die Leiche, oder Sie bekommen sie nie.“

Da war nichts weiter zu machen. Ich mußte nachgeben, das Verhör abbrechen, die Leiche übernehmen, das Protokoll darüber niederschreiben lassen. Das Alles erforderte viele Formalitäten, nahm viele Zeit fort. Den Gefangenen hatte ich unterdeß durch den Gensd’armen in das Cordonhaus führen lassen. Als ich fertig war, wollte ich ihn wieder vorführen lassen. Wir mußten über die Grenze zurück. Aber ich war unvorsichtig gewesen – der Gensd’arm freilich noch mehr. Er kam mit verstörtem Gesichte aus dem Cordonhause.

„Der Gefangene hat sich erdrosselt, Herr Kreisjusitzrath. Ich hatte auf ein paar Minuten das Cordonhaus verlassen, und hatte ihn der Aufsicht der Kosaken empfohlen. Er hatte sich in einen Winkel gelegt. Entkommen konnte er ihnen von da nicht. Da hatten sie nicht auf ihn geachtet. Als ich zurückkam, war er schon ohne Leben.“

So war es. Ich ließ noch sofort Wiederbelebungsversuche anstellen; sie blieben ohne Erfolg. Meine Untersuchung war zu Ende. Ich hatte nichts mehr zu thun, und überließ nunmehr die Leiche des Erhängten den Russen. Die Leiche des armen Ulrich übergab ich seinem Freunde Holm.

So fuhren wir über die Grenze zurück. Aber ich hatte doch noch etwas zu thun – und doch nichts mehr. Der Herr v. Grafenberg war wegen jenes vor vier Jahren verübten Mordes verdächtig geworden. Ich mußte ihn vernehmen, ich konnte nicht anders, und fuhr daher nach Kalwellen zurück. Da wurde kein Polterabend mehr gefeiert. Das Haus lag stille wie ausgestorben da. Der Garten zeigte noch wüste Spuren des gestrigen Festes. Ich fragte nach dem Hausherrn. Er sei in der Nacht verreist, hieß es. Ich ließ mich bei der Frau des Hauses melden. Sie nahm mich an, die blasse, unglückliche Frau.

„Sie suchen meinen Mann. Er ist fort; er hat Preußen, er hat den Continent verlassen und wird in diesem Augenblicke schon eingeschifft sein. Sie würden ihn vergeblich verfolgen lassen.“

Sie hatte Recht. Wir waren nicht weit von der Küste der Ostsee.

„Aber mein Sohn?“ rief sie dann.

Da trat Holm herein, das Haupt schmerzlich gebeugt.

„Ulrich ist todt!“ rief sie.

„Ja!“

Ich ging still fort. Ich hatte gar nichts mehr zu thun.

Auch die Frau hatte nach einiger Zeit Kalwellen verlassen. Die Unglückliche war dem Unglücklichen nachgereist. Ihre Tochter hatte sie vorher mit Holm trauen lassen. Es war eine stille Hochzeitsfeier gewesen, ohne Polterabend.


Noch Eins fragt mich der geneigte Leser: wie der Mörder den Ermordeten in jener Verkleidung zu der Mordstelle verlockt hatte? Ich kann die Frage nicht beantworten. Ich habe eine wahre Geschichte erzählt, in welcher die Russen die Katastrophe herbeiführten, und Wahrheit und Russen runden ihre Geschichten nicht immer kunstgerecht novellistisch ab.

Der Vater des Leipziger Turnwesens.
Von Prof. H. E. Richter in Dresden.

Zu dem Zeitpunkt, wo aus allen deutschen Gauen Turner und Turnfreunde nach der reichen und einsichtsvollen Handels- und Universitätsstadt des Königreichs Sachsen zur Feier eines großartigen Turnfestes zusammenströmen, zu solcher Zeit geziemt es sich wohl, desjenigen Namens zu gedenken, welcher zuerst daselbst dem Turnen eine bleibende Stätte gründete, welcher einen Kreis gediegener Männer zusammenwarb, aus denen später die Bevorwortung des Turnens bei Regierung und Ständen und die Begründung des Leipziger Turnvereins hervorging, und welcher seitdem, bis heut zu Tage, mannigfach auf uneigennützigste Weise viel Zeit, viel Geld und viel Kräfte zur Förderung des praktischen Turnens wie zur wissenschaftlichen Ausbildung der Turnlehrer und Turnvereinsmitglieder gewidmet hat.

Dieser Vater des Leipziger Turnwesens ist zugleich eine Persönlichkeit, welche auch in manchen anderen Hinsichten verdienstvoll und aufopfernd für den Fortschritt eingegriffen hat. Unsere Leser kennen ihn bereits, denn – es ist „der Bock von der Gartenlaube“ das heißt der Professor der pathologischen Anatomie bei der Universität zu Leipzig, Herr Dr. Carl Ernst Bock.

Die Aufforderung unseres Keil, bei Gelegenheit des Leipziger Turnfestes Bock’s Lebensgeschichte zu erzählen, kommt mir (trotz allen Zeitmangels) nicht unlieb. Denn nur ich kann sie schreiben; nur ich stehe diesem originellen Mann seit 40 Jahren so nahe, daß ich alle seine Thaten und Unthaten nebst ihren Motiven kenne. – Wie leicht könnte mir später ein „Schlagflüßchen“ oder sonst etwas Menschliches widerfahren, das mich hinderte diese Lebensgeschichte zu schreiben! Und es wäre schade, wenn sie nicht geschrieben würde, denn sie ist ein Spiegelbild für Manchen im deutschen Volke, der zeitlebens auf falscher Fährte, auf Schleif- und Schwänzelwegen wandelte. Sie kann Tausenden von jüngeren Leuten ein lebendes Beispiel davon geben, wie am Ende der gerade Weg immer der beste ist!

Bock stammt aus Leipzig. Sein Vater war daselbst 20 Jahre lang Prosector an der anatomischen Anstalt, ein tüchtiger Anatom, takfester als mancher gelehrte Professor, aber ein reiner Empiriker. Vom niederen Chirurgen, ohne classische Vorbildung, hatte er sich durch ausdauernden Fleiß so emporgearbeitet, daß seine Vorträge zu den besuchtesten, seine zahlreichen und umfangreichen Werke zu den gesuchtesten gehörten. Und die Sucher in beiden Fällen waren alles Leute, die etwas Tüchtiges, Feststehendes, Haltbares sicher lernen wollten. Denn nur davon ist in Bock’s Schriften die Rede: nackte Anatomie, keine Physiologie, keine Phrase (damals so sehr üblich), keine Hypothese.

Bei diesem Vater nun, in den Räumen der Anatomie und frühzeitig als Gehülfe dabei, wuchs unser Carl Ernst auf. Er besuchte das städtische Gymnasium zu St. Nicolai, zu gleicher Zeit aber auch, des Zeichnens wegen, die Kunstakademie. Diese „Allotria“ (wie man sie vom Gelehrtschul-Standpunkte benennen muß) haben unseren Bock vor dem unheilvollen Einfluß jenes Lateinerthums beschützt, welches seit alten Zeiten (bis heute) die sächsischen Gelehrten- und Hochschulen beherrscht und die besten Köpfe zu unlogischen Denkern, die besten Herzen zu charakterlosen Leuten macht.

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1863).Leipzig: Ernst Keil, 1863, Seite 484. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1863)_484.jpg&oldid=- (Version vom 4.9.2018)