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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)

mit schwerem Herzen fort, denn ich konnte mich der schlimmsten Befürchtungen nicht erwehren. Wenn dieses Mädchen sich zwingen ließ, das Weib jenes rohen jungen Mannes zu werden, konnte ihr Schicksal nur ein sehr trauriges sein. Verharrte sie dagegen bei ihrer Weigerung, so ließ sich, nachdem Charakter ihres Vaters, nur eine gewaltsame Lösung des Conflictes erwarten, und es erfaßte mich ein Schauer des Entsetzens, als ich auf meiner einsamen Wanderung an eine solche Möglichkeit dachte.

Da ich der schließlichen Entwicklung des Dramas nicht selbst beiwohnen konnte, an Martha aber den innigsten Antheil nahm, so schrieb ich sofort nach meiner Heimkehr an Freund Engel, um ihn dringend zu bitten, mir so oft und so ausführlich als möglich über Martha und ihr Schicksal Mittheilungen zu machen. Aus seinen Briefen also entnehme ich das Weitere.

Martha war seit der „Brautschau“ stiller, ernster und blässer als je geworden, und jeden Tag vermißte man sie im Hause ein- oder auch mehrmals, auf kürzere oder längere Zeit, ohne daß man anfangs wußte, wohin sie ging. Die Leute im Dorfe freilich wußten es und wunderten sich nicht wenig, daß sie so gar oft auf dem Friedhofe sei. Sie trugen es endlich auch ihrem Vater zu, der ihr diese Gänge gern untersagt hätte, aber davon abstand, weil Martha nie mehr von der Heirathsweigerung sprach und sich also, seiner Meinung nach, vorgenommen hatte, gehorsam sich zu fügen, dann aber auch, weil sie, als er einmal von diesen Friedhofsgängen gesprochen, mit der ruhigsten Sanftmuth geantwortet hatte: „Laß mich doch immer dahin gehen, Vater! Ich bete da ja nur zu dem lieben Gott und rede mit der seligen Mutter. Das thut mir so wohl!“

So duldete Michel Gerber schweigend jene Besuche bei dem Grabe der Mutter Martha’s, so wenig sie ihm auch gefielen.

Je näher der Tag kam, an welchem sie mit ihrem Vater den ihr angekündigten Besuch an dem Orte machen sollte, den er als ihre künftige Heimath ausgewählt, desto länger verweilte sie auf dem Friedhofe. Am Freitag, zwei Tage vor der beabsichtigten Reise, blieb sie bis zur Nacht, obgleich gegen Abend ein schweres Gewitter mit heftigem Blitz und Donner über die Gegend gezogen war und selbst starke Regengüsse hatte niederströmen lassen. Michel Gerber ging unruhig in dem Hause hin und her. Nicht, daß er gefürchtet hätte, seine Tochter habe sich selbst ein Leid gethan, um der Heirath zu entgehen. Ein solcher Gedanke kam ihm gar nicht in den Sinn, denn es ging weit über sein Fassungsvermögen hinaus, daß Jemand sich selbst das Leben nehmen könne, um sich einer Heirath, einer reichen Heirath, zu entziehen. Aber konnte dem Mädchen nicht irgend ein Unglück geschehen, ein Unfall in dem Unwetter zugestoßen sein? Er bot sogleich mehrere seiner Leute auf die Vermißte zu suchen, und er selbst schloß sich ihnen an. Wie unwahrscheinlich es auch sein mochte, daß Martha noch immer auf dem Friedhofe sich befinde, gingen doch einige der Suchenden dahin und unter ihnen Gerber selbst. Die Gewitterwolken hatten sich fast ganz verzogen, und als man auf den Friedhof kam, trat sogar der Mond an dem reinen blauen Himmel hervor. Hell fiel sein Licht gerade auf das Grab, zu dem man sich wendete, und die goldenen Geländerspitzen um dasselbe her leuchteten in seinem Schimmer. Michel Gerber ging mit großen Schritten voran, so daß auch er zuerst das Entsetzliche gewahrte, das sie hier erblicken sollten. Da lag Martha, wie eine vom Sturme geknickte Blume, zusammengesunken, so daß ihre Arme und das Gesicht auf dem Grabhügel ruheten. Sie war völlig durchnäßt von dem heftigen Regen, der auf sie niedergeströmt. Michel trat hastig durch die offene Geländerthür hinein an das Grab, faßte zornig mit beiden Händen die daliegende Tochter und wollte sie so emporreißen, aber starr vor Entsetzen blieb er einen Augenblick, über ihr gebeugt, stehen, und man sah, daß die Kniee des starken Mannes und die Arme, welche die Tochter hielten, heftig zitterten. Darauf rief er laut mit bebender Stimme voll Jammer: „Mein Kind! Sie ist todt!“

Dann nahm er die Tochter, wie ein kleines Kind, auf den rechten Arm und ging mit ihr so rasch, daß ihm die Andern kaum folgen konnten, nach seinem nicht weit entfernten Hause zu. Sobald er in den Hof trat, rief er so laut, als es ihm bei der Angst möglich war, die ihm die Brust zusammenschnürte: „Pferde! Die besten! Schnell! Zwei Knechte müssen sogleich nach M. und Z. reiten und Aerzte holen! Laßt die Pferde laufen was sie können! Stürzt eins – einerlei! Laßt’s liegen und lauft vollends in die Stadt. Den Doctor holt ihr, wo er ist, vom Essen, vom Krankenbette, vom Spiel, aus seinem Bette! Postpferde soll er nehmen, Extrapost. Ich bezahl’s. Zehn Thaler dem, der mir zuerst einen Doctor in’s Haus bringt!“

Während er diese Befehle gab, schritt er weiter im Hofe hin, den starren Körper der Tochter noch immer auf dem Arme. So trug er sie in das Haus, die Treppe hinauf und rief dabei nach der alten Haushälterin. Im Zimmer Martha’s endlich legte er seine Last sanft auf das Sopha und nun überließ er die Tochter einigen der bestürzt herbeikommenden Mägde, damit sie ihr vorsichtig die nassen Kleidungsstücke auszögen, trockene Wäsche anlegten und sie in das Bett brächten. Er selbst lief wieder die Treppe hinunter, um die Knechte, welche nach Aerzten reiten sollten, zur Eile anzutreiben. Das war indeß nicht nöthig, denn als er in die Hausthür trat, jagte bereits einer der Knechte, der sich nicht einmal Zeit genommen hatte das Pferd zu satteln, in sausendem Galopp aus dem Hofe, durch die Einfahrt, hinaus in die Nacht, und gleich darauf folgte auch der andere. Michel Gerber sah ihnen nach und sagte mit einem tiefen Seufzer: „Gott sei Dank!“ Der Gedanke schon schien ihn einigermaßen zu beruhigen, daß doch die Boten fort wären und ein Arzt bald kommen müßte. Er ging dann wieder die Treppe hinauf, um nach der Tochter zu sehen. Sie war bereits ausgekleidet und in das Bett gebracht.

Michel Gerber setzte sich an das Bett Martha’s und ließ seine Blicke unverwandt auf dem leichenbleichen Gesicht derselben ruhen, aber lange gestattete ihm die Angst keine Ruhe. Er stand auf und trat an das Fenster, um zu horchen, ob vielleicht ein Wagen heranrolle, der den Arzt bringe, obschon keiner der reitenden Boten, selbst bei der größten Eile, die Stadt schon erreicht haben konnte. Nach einiger Zeit setzte er sich wieder an das Bett, um bald von Neuem aufzustehen und an das Fenster zu treten. So verbrachte er zwei qualvolle Stunden. Da vernahm er wirklich näher und näher kommende rasche Hufschläge. Er holte tief Athem, als sei ihm eine Last von der Brust gewälzt, und ging rasch aus dem Zimmer hinaus, die Treppe hinunter vor die Thür des Hauses. Eben sprengte einer der Knechte in den Hof und schwang sich vor der Thür von dem keuchenden, mit Schaum bedeckten Pferde.

„In höchstens einer Viertelstunde ist der Doctor da,“ sagte der Knecht. „Ich wartete nur, bis die Postpferde angespannt wurden, dann ritt ich scharf voraus.“

„Das vergesse ich Dir nicht, so lange ich lebe,“ sagte Gerber. „Die zehn Thaler hast Du verdient. Jetzt sorge für das Pferd.“

Nach kaum zehn Minuten erschien in der That ein Arzt und er wendete sofort, während man ihm erzählte, was geschehen, die zweckmäßigsten Belebungsversuche an. Leider schien alles Bemühen vergeblich zu sein, und der Arzt fing an ein bedenkliches Gesicht zu machen.

„Herr Doctor,“ sagte Gerber nach einer halben Stunde, „geben Sie mir meine Martha lebendig wieder und verlangen Sie viel Geld von mir dafür. Ich geb’s; ich kann’s geben. Und sie ist Braut.“

„Jetzt!“ äußerte der Arzt nach einer weitern Viertelstunde, und seine Züge heiterten sich etwas auf. Als Gerber dies sah und hörte, glaubte er, alles Schlimme sei vorüber. „Jetzt,“ fuhr der Arzt fort, „habe ich wirklich gefühlt, daß der Puls sich wieder regt. Nun dürfen wir hoffen!“

Die Bande des Todes, welche das Mädchen bereits umschlungen hatten, begannen in der That sich zu lösen, allmählich zwar und sehr langsam, aber doch immer merklicher und deutlicher.

„Sie athmet!“ sagte der Arzt nach einiger Zeit. „Ich fühle, daß die Brust leise sich hebt. Einen Spiegel!“

Gerber riß den ersten besten Spiegel von der Wand, ohne zu ahnen, was damit geschehen solle. Der Arzt hielt das Glas dicht vor den Mund Martha’s und sagte dann:

„Da! Sehen Sie den leichten Hauch daran? Sie lebt!“

„Gott sei’s gedankt!“ fiel der Vater andächtig ein. Und er beugte sich über die noch immer regungslos daliegende Tochter und sagte zu ihr, als könne sie ihn hören, in einem so weichen Tone, wie man ihn von dem starken Manne kaum hätte erwarten können: „meine Martha!“

„Sie wird gewiß auch bald die Augen aufschlagen,“ setzte die alte Haushälterin hinzu, und ihre Schmerzensthränen schienen sich bereits in Freudenthränen zu verwandeln. „Sehn Sie nur, Herr Doctor, wie die Wimpern leicht zucken!“

Es schien in der That, als wollten die Augen sich öffnen, als

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