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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)

Leichenhaus abgeliefert und jede wissenschaftlich interessante auch auf eine höchst genaue und vollständige Weise geöffnet und darüber ein ausführliches Protokoll geführt wird: so bietet dieser Centralpunkt, wo Tag für Tag, Jahr für Jahr unausgesetzt gearbeitet wird, ein anatomisches Material, wie man es ebenfalls in der ganzen Welt nicht in gleicher Fülle findet. Nach den eben erwähnten Krankheitsberichten wurden in den letzten Jahren durchschnittlich 1275 Sectionen im Jahre gemacht, ungerechnet die von Gerichts- und Polizeiwegen in demselben Locale vorzunehmenden und zu Protokoll zu bringenden!

Lange Zeit hindurch scheint man in Oesterreich kaum geahnet zu haben, welch ein Schatz von Aufklärungen zum Besten der leidenden Menschheit, nicht blos für die prakticirenden Aerzte, sondern für öffentliche Gesundheits- und Krankheitspflege, Statistik und Volkswirthschaft in diesem Material des Wiener Kranken- und Leichenhauses verborgen stecke. – Es war einem einzigen Manne, einem wahrhaft Einzigen, beschieden, diesen Schatz zu heben und in einer Weise zu verwerthen, daß die gesammte Medicin davon Gewinn ziehen mußte. Dies geschah aber nicht etwa durch einen kühnen Griff, sondern durch eine jahrelange, mit unerhörter Ausdauer

Das alte Leichen- und Sectionshaus des allgemeinen Krankenhauses in Wien.

und Hingebung und ohne höhere Ermuthigung fortgesetzte Arbeitsthätigkeit.

Dieser Mann ist es, den wir unsern Lesern in wohlgelungenem Bilde (in nächster Nr.) und mittels einer kurzen Lebensgeschichte vorführen wollen. Es ist der Dr. Carl Rokitansky zu Wien, Professor der pathologischen Anatomie, jetzt Regierungs- u. Ministerialrath – bei allen jüngeren Aerzten „Vater Roki“ genannt. Derselbe stammt (wie eine Mehrzahl der hervorragenden Professoren der sogenannten neuen Wiener Schule) aus Deutschböhmen und ist der Sohn eines Regierungsbeamten in Königingrätz. Hier und in Leitmeritz vollendete er seine Gymnasialstudien, zu Prag und Wien seine medicinischen. Er ward 1828 zu Wien Doctor und kurz darauf als Gehülfe an der obenbesprochenen pathologisch-anatomischen Anstalt angestellt. Nach dem frühzeitigen Tode seines Vorgesetzten, des Professor Wagner, eines begabten jungen Mannes, wurde Rokitansky im Jahre 1832 Vorsteher dieser Anstalt. Er begann dieses Amt, welches er noch jetzt bekeidet, sofort mit der Sorgfalt und Gründlichkeit, durch welche sich das Institut noch heute auszeichnet und vielen anderen als Vorbild gedient hat. Ganz im Stillen nutzte er dessen reiche Schätze aus. Aber er speicherte seine Erfahrungen auf, um zu festbegründeten Ergebnissen zu gelangen, von denen nur Einzelnes zur Oeffentlichkeit kam. So blieb Rokitansky und sein Sectionssaal in seinem eigenen Vaterlande lange Zeit wenig beachtet, und es waren anfangs hauptsächlich fremde Aerzte, welche dessen Werth zu schätzen wußten. Erst nach zehnjähriger Wirksamkeit, nachdem sich Rokitansky über das Gesammtgebiet der Krankheiten, soweit sie an der Leiche, unter steter Beihülfe der Beobachtung am Krankenbette[1], erforschbar sind, die ausreichendste Kenntniß und Uebersicht verschafft hatte, begann derselbe die Herausgabe seines berühmten „Lehrbuchs der pathologischen Anatomie“ (1842 bis 1846), welches fortan die Grundlage jedes ärztlichen Forschens werden und nicht nur die deutsche, sondern auch bald (in mehrere lebende Sprachen übersetzt) die ausländische Medicin nach und nach im Geiste neuerer Naturwissenschaft umgestalten sollte. Zu gleicher Zeit etwa sammelten sich auch um ihn die strebsameren Aerzte Oesterreichs (längst vorausgegangen war sein Busenfreund Skoda, welcher neben Rokitansky als zweiter Grundpfeiler der neuen Schule stets zu nennen ist). Diese Schüler, in ihre Heimath zurückgekehrt und bald in Besitz der wichtigeren klinischen Stellen getreten, übertrugen nun die von Rokitansky gewonnenen Erfahrungsthatsachen eine nach der andern auf die Beobachtung und Behandlung am Krankenbette und setzten seine Forschungen am Leichentisch weiter fort. So entstand die weitberühmte Wien-Prager Schule, welche besonders für Erkenntniß der Krankheiten (Diagnostik) und für einfache naturgemäße Behandlung derselben (Therapie) in kurzer Frist so Ausgezeichnetes geleistet hat.

Um die Bedeutung der durch Rokitansky bewirkten Reform zu würdigen, möge der Leser sich Folgendes vergegenwärtigen. Bis dahin war die Medicin ein, wie schon oben erwähnt, – trotz manches glücklichen Anfangs, namentlich der Pariser Schule – nur ein buntes Gewebe von Thatsachen und Meinungen, Beobachtungen und Einbildungen, welches durch allerlei dichterische Einfälle und hochklingenden Wortkram zusammengehalten wurde. Erst durch Rokitansky wurde das Gesammtgebiet der Heilkunde (der inneren, chirurgischen und geburtshülflichen) hinsichtlich seines eigentlichen Vorwurfes (Gegenstandes, Objects), nämlich des erkrankten Körpers und seiner Unterschiede vom gesunden, auf jene Grundlage gestellt, welche von anderen Naturwissenschaften schon längst eingenommen wird, nämlich auf die nüchternste und gewissenhafteste Durchforschung des Einzelnen (des Details), verbunden mit stufenweise fortschreitender Verknüpfung der Thatsachen zu allgemeineren Sätzen und zur Enträthselung des gesetzmäßigen Entwicklungsganges der einzelnen organischen Vorgänge (Processe) im Verlauf der Krankheiten und Genesungen. Dazu war es eben nothwendig, daß ein und derselbe Mann – wie hier unser Rokitansky – die Gelegenheit hatte und jahrelang benutzte, um an zahlreichen Leichen, von denen jede doch nur einen einzelnen Zeitabschnitt eines Krankseins darstellt, die verschiedensten Seiten dieser Vorgänge aufzufinden und nach ihrer wirklichen Folge aneinander zu reihen. Diese Hingebung, dieses wohlbewußte Zögern, binnen nunmehr dreißig Jahren, vielleicht an mehr als 40,000 Leichenöffnungen geübt, erwirbt unserm Rokitansky allein schon das Recht auf den Titel des ärztlichen Fabius Cunctator, „welcher allein durch sein Zaudern das Reich errettet hat,“ wie Ennius sagt:

Unus homo nobis cunctando restituit rem.

Es gehörte aber zu solch umfassender Arbeit noch ein zweites und drittes Erforderniß. Erstens eine anschauliche Kenntniß des Verlaufes der Krankheiten am lebenden menschlichen Körper. Dazu bot das reiche Material des Wiener

  1. Ueber alle Kranke des Wiener allgemeinen Krankenhauses werden Tagebücher geführt, und jeder Chefarzt der zahlreichen klinischen Abtheilungen hat das Recht, eine Section jedes der ihm verschiedenen Kranken zu verlangen, welcher er dann nebst seinen Unterärzten beiwohnt. So bleibt das pathologisch-anatomische Institut immer in Verbindung mit den lebendigen Vorgängen des Krankenbettes.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863).Leipzig: Ernst Keil, 1863, Seite 748. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1863)_748.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)