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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)

ein Knabe hervor, in zerrissenen, schmutzigen Gewändern, mit einem schwarzen Käppchen auf dem dicken lockigen Haar, und sich gerade vor die beiden Wanderer hinstellend, schaute er sie aus seinen kleinen, blitzenden, schwarzen Augen mit trotzigen, finstern Blicken an.

„Es ist nicht nöthig, daß Sie mit dem kleinen Mosje Prinzen daher kommen in die Judenstadt,“ sagte er in dem gemeinen, kaum verständlichen Jargon des Frankfurter Judendialekts. „Der kleine Knirps von Prinz hat genug gesehen, wenn er die Herrlichkeit vom Römer und der Kaisergeschicht’ gesehen hat, und da hat er sein Herz aufblähen und sich wünschen können, daß er auch dereinst ein großmächtiger Kaiser werden könnt’, da er doch schon ein Prinz ist. Aber die Herrlichkeit der Judenstadt, die braucht er gar nicht zu sehen, denn die Herrlichkeit des Unglücks, die versteht der junge Mosje doch nicht, und er kann doch nix davon lernen mit seinem dummen, hochmüthigen Fürstenherzen. Nennt uns hier an den Pforten unserer eigenen Residenz Bettler und Betrüger und ist doch von seinem Lehrmeister hierher gebracht, daß er von uns lernen soll. Hört nur Ihr Alle, hört, Baruch, Veilchen, Schmuel und Eva, hört nur, Adam und Rachel, Jakob und Abraham, Blümchen und Laban, hört nur, da ist ein kleines Herrchen, das uns Bettler und Betrüger nennt!“

Und wie er das mit schriller, erhobener Stimme rief, öffneten sich die niedrigen, schmutzigen Thüren der nächst belegenen Häuser, und eine ganze Schaar zerlumpter, schwarzäugiger, schwarzhaariger Kinder stürzte aus denselben hervor.

„Was hat er gesagt? Wie hat er uns geschumpfen, Mayer Anselm?“ fragten, kreischten und lachten sie untereinander, indem ihre funkelnden Augen sich auf den blonden, blauäugigen Knaben hefteten, der verlegen und furchtsam sich an die hohe Gestalt seines Lehrers anschmiegte.

„Er hat gesagt,“ schrie der Knabe, „wir Juden –“

Aber die Hand des prinzlichen Hofmeisters legte sich eben mit einer raschen Bewegung auf Mayer Anselm’s Schulter, und das Erstaunen darüber machte den Knaben verstummen.

„Was?“ fragte er, „Ihr scheut Euch nicht den schmutzigen Judenknaben zu berühren? Ihr legt Eure vornehme weiße Hand auf meine Schulter, und fürchtet nicht, daß Ihr davon den Aussatz bekommt?“

„Still, mein Sohn,“ sagte der prinzliche Hofmeister leise und eilig. „Laß jetzt das Lärmen und Schreien, denn sonst müssen wir sogleich wieder umkehren, und das wäre zu Eurem eigenen Schaden, weil wir alsdann kein Geschenk für Eure Armen und Kranken zurücklassen werden.“

„Herr Baron, ich werde schweigen,“ murmelte der Knabe, dessen erregtes Gesicht jetzt sofort einen demüthigen und unterwürfigen Ausdruck angenommen hatte.

„Du hast uns behorcht?“ fragte der Baron.

Der Knabe sah mit einem scharfen, trotzigen Blicke zu ihm empor. „Behorcht? Nein, aber ich habe gehört! Ich stand hinter dem Pfeiler, als Ihr Beide daher kamt, und da mußte ich wohl, ohne daß ich’s wollte, Eure klugen Reden und auch die dummen Reden des kleinen Prinzen da mit anhören. Aber sagt mir doch, Herr Baron, was für ein Prinz ist der kleine Mann? Auf welchem Stammbaum ist er gewachsen, und was für ein Stern ist vom Himmel gefallen, um sich als Gockelhahn ihm auf die Brust zu setzen und seine prinzliche Erhabenheit auszukikrikihen?“

„Du hast mir versprochen zu schweigen,“ sagte der Baron ernst. „Schweig also und laß uns vorüber gehen.“

Und indem er das sagte, nahm er aus seiner Börse ein Geldstück und drückte es dem Knaben in die Hand. Mayer Anselm zuckte zusammen, und eine Zorneswolke flog über die Stirn des keinen Mannes hin.

„Ich bin kein Bettler, Herr,“ schrie er, „ich habe Euch um kein Almosen gebeten, und für Nix nehm’ ich auch Nix nicht!“

So sprechend schleuderte er mit einer geringen Bewegung das Geldstück weit von sich auf die Straße, in dessen Schmutz es wie ein silberner Stern aufleuchtete. Die Kinder, die in dichtzusammengedrängter Gruppe die Fremden angestarrt hatten, stürzten jetzt mit lautem Geschrei nach dem Geldstück hin, und man sah jetzt nur einen verworrenen Knäuel von Armen, Beinen und Köpfen durch und über einander, man hörte nur noch lautes Geschrei, Schimpfreden und Drohungen. Jedes von den Kindern wollte das Geldstück haben, Jedes wollte es dem Andern abringen und sich zum alleinigen Besitzer desselben machen, und während die kleinen Mädchen sich zurückzogen, entstand eine erbitterte Schlägerei unter den Buben.

Dieser Anblick war für den kleinen Prinzen so interessant und belustigend, daß er darüber seine Beklommenheit vergaß und hinter seinem Erzieher hervortretend mit leuchtenden Augen und lachendem Munde auf die verworrene Gruppe hinschaute.

Der keine Mayer Auselm aber runzelte die Stirn, und das Lachen des Prinzen schien ihm weh zu tun. „Herr Baron,“ sagte er hastig, „Ew. Gnaden wollten ja dem Herrn Prinzen die Judenstadt zeigen. Wenn’s Ihnen recht ist, will ich Sie herum führen und Ihnen all die Herrlichkeit und Pracht unserer Stadt zeigen, denn unsere Herrlichkeit das ist unser Unglück, und unsere Pracht das ist unser Schmutz und unsere Armuth. Soll ich Ihnen das zeigen, gnädigster Herr Baron?“

„Ja, zeige uns das, sei unser Führer,“ sagte der Baron, indem er dem Prinzen seine Hand darreichte und sich anschickte, dem Knaben zu folgen, der jetzt mit gravitätischer Miene und ernster Haltung im vollen Gefühl seiner Würde als Cicerone vor ihnen herschritt.

Und durch schmutzige Gassen und düstere, traurige Winkel führte der Knabe die vornehmen Besucher der Judenstadt dahin. Hier und da blieb er vor irgend einem Hause stehen und erzählte ihnen mit herber Stimme, wie viele Menschen zusammengepfercht in dieser schmutzigen Höhle wohnten, wie viel Jammer und Elend beisammen sei in diesem Hause ohne Sonne und ohne Licht, dessen kleine niedrige Fenster mit verräuchertem Papier verklebt waren, aus dessen offener Pforte ein ekler Qualm und Dunst bis auf die Straße hervorquoll. Dann wieder erzählte er ihnen, wie hohe Abgaben die Juden an die Stadt Frankfurt entrichten müßten, trotz ihrer Armuth und Erniedrigung, wie jeder Vater das Leben seines Kindes selbst von der Stadt erkaufen und für jeden Kopf seiner Familie eine hohe Steuer zahlen müsse. Aber wie sie vor dem alten Tempel standen, dessen Wände so grau und düster und verdrossen aussahen, wie seine ganze Umgebung, da glänzten doch die Augen des jüdischen Knaben höher auf, und ein Ausdruck frommer Begeisterung überstrahlte sein kluges intelligentes Angesicht. Er kniete nieder auf der Schwelle des alten verwitterten Gebäudes und sprach ein leises inbrünstiges Gebet, dann sprang er rasch wieder empor und begann mit lauter freudiger Stimme zu erzählen von der Herrlichkeit und Pracht, die sich hinter diesen Mauern berge, von den schweren goldenen Leuchtern, die auf dem Altare aufgestellt seien, von den massiven goldenen Thüren, welche den Schrein des Allerheiligsten verschlössen, von dem Rebenschaft, der aus dem echten Tempel Salomonis in Jerusalem herstamme, aus diesem Tempel Salomonis, welcher prächtiger und herrlicher gewesen, als alle Paläste der Kaiser und Könige dieser Tage, und wie damals das Volk Juda das mächtigste und reichste Volk der Erde gewesen, das Volk, welches Gott vor allen andern geliebt habe. Und dann wieder mit klagender, seufzender Stimme, mit singendem Tone, als wär’s ein Schmerzenslied, das er ihnen singen wolle, schilderte er die jetzige Erniedrigung des Volkes Gottes, und wie es ausgestoßen sei in die Welt, wie es geknechtet und geschmäht umherirre unter den grausamen, hartherzigen Menschen, die Schmach und Schande auf dasselbe häuften und es verfolgten mit Schimpfreden und Verleumdungen.

Der kleine Prinz erröthete, als Mayer Anselm, die stechenden Blicke auf ihn geheftet, so klagte, der Baron aber schaute staunend und tief ergriffen auf den seltsamen Knaben hin.

„Du bist ja in der That ein außerordentlich gelehrter kleiner Mann,“ sagte er. „Woher weißt Du denn alle diese Dinge, mein Sohn?“

„Mein Vater hat sie mich gelehrt,“ sagte der Knabe. „Mein Vater war sehr gelehrt, obwohl er nur ein Schacherjude war, er wußte den Talmud und die Gesetzbücher auswendig, und in den langen Winterabenden, wo wir im Dunkeln saßen und hungerten, da hat er mir so viel herrliche Dinge erzählt, daß es hell ward in unserer finstern Kammer und daß ich nicht mehr hungerte.“

„Du sprichst von Deinem Vater, als wäre er nicht mehr bei Dir. Ist er todt?“

„Ja, Herr Baron, er ist todt,“ sagte der Knabe mit Thränen in den Augen. „Er ist todt, und meine Mutter wird ihm bald folgen, denn sie ist krank und elend. Der Arzt sagt, sie könnte vielleicht noch wieder besser werden, wenn sie hier aus der Sackgaß heraus und in bessere Gegend und Luft käme, wenn sie nach

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