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verschiedene: Die Gartenlaube (1864)

Himmel sie hört, schreien Männer und Frauen: „Hurrah!“ Es gilt dem Bischof, dem Kloster, dem Fest, dem Frühling!

In diesem allgemeinen Taumel landet das Schiff; die würdige Greisengestalt des Bischofs, in rothem Talar, löst sich aus der bunten Masse, er steigt die Treppe nieder und umarmt den Prior. Dann wird es ringsum still, ein Sängerchor beginnt, und unter ihrem Gesang, auf Blumen schreitend, welche Kinderhände streuen, zieht der Bischof in die Kirche, das Volk am Wege segnend. Das Hochamt begann. Gregor war der assistirende Priester. Bevor der Bischof die Mitra aufsetzte und den Hirtenstab zur Hand nahm, knieten er und der Prior auf den Stufen des Hochaltars nieder und beteten laut das katholische Sündenbekenntniß.

Während dieses Gebets war es todtenstill in der hohen, säulengetragenen Halle, und Gregor hörte das Fenster, das nach der Donau ging, im Morgenwinde knistern. Ihn und die übrigen Priester vor dem hochgelegenen Altar traf das volle Tageslicht, während es im Schiff, mannigfach gebrochen, nur da und dort die Knieenden beleuchtete; Männer, Frauen, Jugend und Alter, Arm und Reich dicht nebeneinander, hier Alle nur Menschen, und über ihnen der Geist Gottes.

Das Geräusch des verhängnißvollen Fensters machte Gregor fast wahnsinnig; indem er es zu übertäuben suchte, sprach er mit wachsender Hast und immer lauter. Die Worte: „Meine Schuld! meine Schuld!“ klangen wie ein Angstschrei von seinen Lippen. In einem entfernten Winkel begann ein Kind zu weinen – ein Zufall, aber Gregor war’s, als sähe er sich selbst als Kind dort knieen, woher das Weinen drang …

Dann brauste die Orgel, und im Gewog der Instrumente ertönten die Worte, die unter wehenden Cedern und der Sternenpracht des Orients ein König einst zur Harfe sang. Unsagbares durchschauerte Gregor während der Messe. Es waren nicht Gedanken, sondern nur noch Empfindungen. Als das Sanctus vorüber und das Opfer nahe war, verhallte Orgel und Paukenklang. In sanfter Schwermuth begannen die Violinen, und eine melodische Knabenstimme sang: Benedictus

Da hielt Gregor die aufquellenden Thränen nicht länger zurück; er preßte seine Stirn auf die Stufen, vor denen er kniete, und schluchzte laut, ganz aufgelöst in Sehnsucht und Schmerz um Benedictus.




Kurz nachdem das Hochamt vorüber und die Kirche geleert war, wurden die Anstalten zur priesterlichen Versammlung getroffen. Der bischöfliche Stuhl unter rothem Baldachin stand, dicht am Flußfenster, schon bereit; in der Tiefe, dem Hochaltar gegenüber, wurden Bänke für die Priester und Mönche aufgestellt. Unterdessen war Gregor mit dem Bischof in der Sacristei. Der siebenzigjährige Greis, der das Haupt ein wenig zur Brust geneigt trug, wie unter der segnenden Hand eines Unsichtbaren, saß vor dem aufgeschlagenen Kirchenbuch. Sein Blick verweilte auf einer Stelle dieses Buches, die also lautete:

Benedictus Henricus Burgh.
Dr. theol und Pater O. S. B.
gest. am 20. April 185*. In der Donau verunglückt.

„Todt!“ sprach der Bischof mit schmerzlichem Ton. „Und Sie haben keine Ahnung, Herr Prior, warum der arme Mann so jäh, so traurig endigte?“

„Er war ein Zweifler,“ stammelte der Prior mit blassen Lippen.

„Wer war das nicht?“ sagte der Bischof leise vor sich hin.

Der Andere sah ihn überrascht, erschrocken an.

„Benedict war in Versuchung, von unserer heiligen Kirche abzufallen,“ betonte er.

Der Bischof seufzte. Nach kurzem Nachdenken sagte er: „Und doch wüßte ich ihn lieber unter den Abtrünnigen, als unter den Todten.“

„Hochwürdigster!“ rief der Prior außer sich.

„Denn wer darf, wer kann einen Lebenden verloren nennen?“ sprach der Greis; Gregor aber, von diesem Wort tödtlich getroffen, senkte den Blick.

„Ich fühle,“ begann der Bischof nach einer Weile wieder, „wie tief gerade Sie von diesem Unglück berührt sein müssen, als sein Prior und mehr noch, als sein Freund. Ich erinnere mich, von Pater Benedict gehört zu haben, daß Sie ihm einst das Leben retteten!“

Gregor rang stöhnend die Hände.

„Getrost!“ sprach der Bischof sanft, „wir werden ihn wiedersehen. Gott ist barmherziger als wir Menschen.“

„Wohl, wohl!“ flüsterte der Prior, den jedes Wort des Andern vernichtete. Seine Seele kämpfte vergebens gegen die Gewalt, die in des Bischofs Menschenliebe lag. Er suchte nach einem Wort, das er dieser Duldsamkeit entgegenschleudern konnte, aber der Vorwurf der Lässigkeit und des Unglaubens paßte nicht auf den Bischof; dieser Mann war fromm und gut.

„Hochwürdigster,“ sagte Gregor zuletzt, „der Unglaube, der Abfall nehmen überhand, schon wuchern sie innerhalb geweihter Mauern. Warum sollen wir nicht das Richtschwert vergangener Jahrhunderte ergreifen?“

Ein Schatten flog über des Bischofs Stirn, dann hob er sanft lächelnd die Hand: „Freund,“ sagte er, „laß uns Hirten, nicht Henker sein!“

„Aber zur Ehre der Kirche!“

„Die Ehre der Kirche ist Christus. War er ein Verfolger oder Verfolgter? Er hatte das Wort, nicht das Schwert.“


– – –


Wenige Minuten darauf wankte Gregor aus der Sacristei in die Kirche. Dort stand nur der Bruder Küfer, stand im hellen Sonnenlicht am offenen Fenster, unter dem die Donau floß. Er, der Einzige, der auf dem Weltenrund die Geschichte dieses Fensters kannte! Ein tiefer Schauder packte Gregor bei diesem Anblick, ein furchtbarer Gedanke durchzuckte ihn, dann, am ganzen Leibe zitternd, streckte er beide Arme gegen den Mönch hin und schrie, daß es laut durch die Kirche dröhnte: „Hinweg! hinweg! hier ist Gregor!“

Der Mönch drehte sich um und fing den Wankenden in seinen Armen auf: „Memento mori!“ sagte er. – Dann kamen die Klosterbrüder, die Canonici und Vicare des Bischofs, die Priester der Umgegend, der Bischof selbst und ließen sich auf den angewiesenen Sitzen nieder. Es waren über hundert Geistliche in der Kirche. Das Schiff aber lag still und leer. Nach einem kurzen Gebet begann der Bischof zu sprechen:

„Hochwürdige Väter und Priester! Der Hohepriester des alten Bundes trug zwei köstliche Steine im Brustschild. Diese Steine wurden Licht und Recht genannt. Lasset Licht und Recht auch unser Brustschild sein. Seid einander ein Beispiel! Legt nicht die Hände in den Schooß und saget: die Zeit ist zu schlecht für die Frommen! Gutes zu thun, ist immer gute Zeit! – Da ist dieses Kloster. Vor vierzig Jahren nährte und kleidete es fünfundzwanzig unter zweihundert Armen, jetzt versorgt es fünfzig unter hundert. Ihnen, Herr Prior, gebührt unser Dank hierfür. Aber nicht nur Ihre rastlose Thätigkeit für des Klosters Hebung und das Wohl der Armen, sondern auch Ihre Frömmigkeit und Glaubenstreue, all Ihre seltenen Tugenden sind in Rom sowohl, wie im Lande erkannt und gewürdigt, und mir ward der Auftrag, Ihnen dies auszudrücken. – – Gregor, Abt von Felsenburg, dienen Sie auch fernerhin der Kirche, der Menschlichkeit, dem ewigen Licht!“

Eine freudige Bewegung geht durch die Versammlung, Viele springen empor, Aller Augen hängen am Prior. Dieser erhebt sich und macht rasch zwei, drei Schritte vorwärts. Ein Sturm von Gefühlen durchtobt ihn, Freude und Schmerz, Genugthuung und Verzweiflung. In seiner Hand ruht sein Geschick. Hier Schmach, Fluch und Verstoßung, aber auch Recht und Sühne. Dort eine Bahn der Macht und des Ansehens, der Wohlthätigkeit und stillen Buße, aber auch der Lüge und ewiger Gewissensqual! Er überdenkt seine und des Klosters Ehre, hört den Jubel seiner alten Mutter und breitet die Arme aus, wie um die Hoffnung an’s Herz zu drücken, und indem er so das Auge rathflehend gegen den Himmel erhebt, sieht er über seinem Haupte Benedictus’ Ampel, das ewige Licht … Da faltet er beide Hände über der Brust, wankt vorwärts und kniet an den Stufen des bischöflichen Stuhles nieder. Und mit seiner tiefen, metallenen Stimme spricht er im allgemeinen Schweigen: „Hochwürdigster Bischof! Väter und Brüder! Ich – ich bin der Mörder Pater Benedict’s …!“




Drei Monate später ging in der Residenz das Gerücht, die Gräfin Cosima von Geldern, deren Geist und Schönheit Jedermann bewunderte, sei in den Orden der barmherzigen Schwestern getreten.




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verschiedene: Die Gartenlaube (1864). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1864, Seite 52. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1864)_052.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)