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verschiedene: Die Gartenlaube (1864)

singt, und auch das erfreut des Menschen Herz. Frauen und Männer, Alles singt mit. Dann declamirt wohl Herr Würkert auch ein Gedicht mit Musikbegleitung, und was er für seine Gäste wählt, ist gut, muß veredelnd wirken; zur bloßen Unterhaltung bietet er nichts.

Abermals betritt Ludwig Würkert seinen einfachen Rednerplatz, diesmal mit verschiedenen Zeitungen in der Hand. Aus diesen liest er theils vor, theils erzählt er das Wichtigste aus der Tagesgeschichte. Auch dies geschieht wieder mit der aufmerksamsten Rücksicht für das Fassungsvermögen von Gästen von so außerordentlich verschiedenem Bildungsgrade. Wir bewundern sein Geschick in der Bewältigung solcher Schwierigkeiten, die um so größer sind, als er auch jetzt nicht die Aufgabe eines ruhigen Erzählers löst, sondern auch jetzt ist es ihm Herzensbedürfniß und Mannespflicht, seine Gäste zu erwärmen, zu ermahnen, zur That zu stärken. Mit einem Kraftwort, an welchem Jedes noch Etwas mit nach Hause zu nehmen hat, schließt er gewöhnlich gegen 10 Uhr, der Zeit, wo der Bürger und Arbeiter selbst den Abend zu schließen gewohnt ist.

Das war einer der Vortragabende im Hotel de Taxe, und so haben sie seit 1861 mit immer steigender Theilnahme der Einheimischen und Auswärtigen stattgefunden. Unsere Leser dürfen sich jedoch durch den heutigen Abend nicht zu der Ansicht verführen lassen, als ob hier blos Politik getrieben würde. Das bringt jetzt nur die Zeit so mit sich. Würkert sucht in weniger erregter Zeit seine Stoffe auf den reichen Feldern der Geschichte, der Literatur, der Arbeit und des Verkehrs, des Familienlebens und besonders der rein menschlichen Bestrebungen. Die Abende „bei Würkert“, welche er z. B. dem ehrenden Gedächtniß unserer großen deutschen Männer widmete, gehören offenbar zu den lohnendsten. Er beging keinen Geburts- oder Todestag eines wirklichen Großen, ohne seinen Gästen ein klares Bild von dem Leben und Wirken desselben zu geben. Und wie sehr seine Gäste gerade dafür ihm Dank wußten, das bethätigten sie, indem sie den Saal mit jenen acht Büsten schmückten, die oben genannt sind.

Wer ist nun dieser Ludwig Würkert, der als Bierwirth vor uns steht und wie ein Gelehrter und Redner von Fach zu uns spricht?

Ludwig Würkert mit seiner Kneipe und ihrer doppelten Bestimmung ist eine so seltsame, so außerordentliche Erscheinung, wie sie wohl nur einmal in Deutschland, ja vielleicht in Europa dasteht. Denn dieser Bierwirth ist wirklich nicht blos Wirth, er ist zugleich ein ebenso fleißiger, als tüchtiger Schriftsteller, er ist ausgezeichnet als lyrischer Dichter und im Fache der Novelle, in welchem er sogar einen ersten Preis errang; noch mehr, Ludwig Würkert war einer der gefeiertsten Kanzelredner Sachsens, er gehörte zur höheren Geistlichkeit des Königreichs; und noch mehr, er ist auch Züchtling gewesen, und zwar erster Classe, und hat am Spinnrad gesessen. Und jetzt ist er Wirth und dazu, nicht blos im Kreise der Schriftsteller und des Geschäfts, sondern als Mensch und Mann von Jedem hochgehalten, der ihn kennt.

Diese Andeutungen müssen den Wunsch rege machen, daß L. Würkert seine Erlebnisse in einer ausführlichen Selbstbiographie niederlege; bis dies geschehen, mögen den Leser die folgenden Mittheilungen an jenem Wunsche um so fester halten lassen.

Ludwig Würkert ist ein Krempelfabrikantensohn aus Leisnig in Sachsen, wo er am 16. Decbr. 1800 zur Welt kam. Nachdem er, der als Student zu Leipzig schon als Sprecher der Burschenschaft geglänzt hatte, 19 Jahre lang Diaconus in Mittweida gewesen war, kam er im Jahre 1843 als Oberpfarrer nach Zschopau. Während dieser langen Zeit bis zum Sturmjahr 1848 erfüllte sein Leben sein geistlicher Beruf, eine außerordentliche Schriftstellerthätigkeit (neben wohl 30 Bänden wissenschaftlicher und geistlicher Bücher füllen seine Novellen, unter dem Autornamen Ludwig Rein veröffentlicht, allein 8 Bände) und ein durch die Pflege der Kunst verschöntes, reizendes Familienleben. Auch den Mann verließ der frohe, freie Sinn des Studenten nie ganz, Burschenschafter im Geist blieb er immer. Beides trennte er auch von seiner geistlichen Amtsauffassung nicht; und dies sowohl, wie seine glänzende, von dichterischer Kraft gehobene Beredsamkeit, sowie die vielen Beweise seiner Herzensgüte, seiner redlichen Theilnahme an dem Geschick seiner Mitmenschen, erwarben ihm die Anhänglichkeit seiner großen Gemeinde in einem seltenen Grade.

Daß auf einen solchen Mann, als die Bewegung von 1848 über Sachsen kam, das Auge nicht blos seiner Gemeinde, sondern des ganzen Gebirgs gerichtet war, ist eben so natürlich, als daß in Würkert der alte Burschenschafter über den Priester Herr wurde. Er war der Hauptredner auf allen Volksversammlungen. Sein Name galt Tausenden als ein Zeugniß für die Sache, die man damals verfocht. Und wie Würkert die kirchliche Feierlichkeit der öffentlichen Huldigung für den Reichsverweser geleitet, so hielt er sich auch später für verpflichtet, dem Kampfe für die Reichsverfassung dieselbe geistliche Thätigkeit zu weihen. Dadurch gerieth er in schweren Conflict mit der eigenen Regierung. Denn als es im Mai 1849 zu den blutigen Tagen in Dresden kam, entwickelte er eine verhängnißvolle Thätigkeit für bewaffneten Zuzug zum Kampfplatz, die Sturmglocken dröhnten weit und breit, und auch jetzt den Geistlichen vom Bürger nicht trennend, ermuthigte er die Schaaren durch seine begeisternden Reden und segnete sie und ihre Fahnen öffentlich für den Kampf.

Die Regierung siegte, die Aufständischen flohen, Zschopau ward von den Preußen besetzt, Würkert ward gewarnt und zur Flucht gemahnt, glaubte jedoch nicht an die Gefährlichkeit seiner Stellung, und so stand er an einem Sonntag, den 13. Mai 1849, auf der Kanzel, als gegen das Ende seiner Predigt die Blicke aller auf den oberen Emporen Sitzenden sich nach den Fenstern wandten. Reiter- und Infanteriezüge kamen den Berg herunter. Unruhe und Angst ergriff die ganze Gemeinde. Würkert vollendete seine Predigt. Als er aber die Kanzel verließ und in die Sakristei trat, empfing ihn ein königlicher Commissär mit dem Verhaftsbefehl. Die Kirche war von den Truppen umstellt. Der Gefangene bestieg, nachdem er im Pfarrhause das Nöthigste geordnet, den Wagen, und von einer starken Reiterschaar umringt, setzte sich der Zug auf dem Wege nach der hohen Augustusburg in Bewegung – und weinend und wehklagend folgte dem Zug das ganze Volk, viele Hunderte die drei Stunden Wegs, bis das Thor der festen Burg sich hinter dem Gefangenen schloß.

Wir erzählen das Niemandem zu Leide, denn über jene Tage ist längst eine ernste Zeit gegangen, die nach allen Seiten hin versöhnend gewaltet hat; im Gegentheil, wir wissen ja Alle, daß das sächsische Volk in neuerer Zeit in einer hochwichtigen Angelegenheit des Vaterlandes mit Enthusiasmus und treuer Anhänglichkeit hinter seiner Regierung steht; wir führten das Obige nur an als eine Thatsache, die von der Theilnahme zeugt, die der Mann sich in seinem Wirkungskreise erworben hatte und die sich auch während seiner anderthalbjährigen Untersuchungshaft in der rührendsten Weise bethätigte. Ein Bürger von Schellenberg verpfändete sein ganzes Vermögen, seinen Kirchenstuhl nicht ausgenommen, um dem Gefangenen die Erlaubniß zu verschaffen, bisweilen in den Parkanlagen bei der Burg die Wohlthat des Athmens in der freien Natur genießen zu dürfen; seine Familie und seine Gemeinde unterließen keine Gelegenheit, für ihn zu bitten, und als selbst Harleß, der strengkirchliche Dresdner Hofprediger, sich seiner annahm und Alles aufbot, um eine solche Kraft der Kanzel zu erhalten, machten sich die vier ältesten Männer des Kirchspiels auf den Weg, eisgraue, von mehr als achtzig Jahren gebeugte Greise, um „mit dem einen Fuß bereits im Grabe“ für ihren Oberpfarrer zu zeugen, weil es ihr Gewissen ihnen gebiete. Und wirklich war König Friedrich August von so viel Theilnahme für den Mann ergriffen und geneigt, die Untersuchung niederzuschlagen; durch den Umstand jedoch, daß Würkert beim Beginn der Untersuchung eine Erklärung zu den Acten gegeben hatte, welche durch ihre Schroffheit die Justiz ebenso zu aller Strenge der Gesetzeshandhabung herausforderte, wie sie die Fürsprache von der geistlichen Seite abschwächte, sah sich der König genöthigt, obwohl, wie Harleß erzählte, mit Thränen in den Augen, dem Gesetz seinen Lauf zu lassen.

Würkert wurde zu 8 Jahren Zuchthaus ersten Grades verurtheilt, nach Waldheim gebracht und in das Züchtlingsgewand gekleidet. Nach vier Jahren, von denen er fast drei im Krankenzimmer zubrachte, und in welche Zeit auch sein fünfundzwanzigjähriges Amtsjubiläum und sein fünfundzwanzigjähriges Ehejubiläum fiel, erlöste ihn die Begnadigung.

Wer das innere Leben und Leiden eines solchen Züchtlings kennen lernen will, der lese in der Zeitschrift, die L. Würkert im Jahre 1856 herausgab, in der „Feldkirche“, seinen Gedichtcyklus „Der Gefangene und sein Ring“ – d. i. sein Trauring, den man ihm auf sein inständiges Bitten als einziges Kleinod der Erinnerung

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verschiedene: Die Gartenlaube (1864). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1864, Seite 71. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1864)_071.jpg&oldid=- (Version vom 14.2.2021)