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verschiedene: Die Gartenlaube (1864)

unserer Zeichnung annehmen mag. Das für die gesammte Bewohnerschaft bestimmte Futter wird nicht jedem Einzelnen besonders zugetheilt, sondern einfach in den Raum geworfen, und jedem Hungrigen bleibt es überlassen, sich selbst seinen Theil zu erbeuten.

Sofort nach Ablegung des Fleisches stürzen sie sich, groß und klein, von der Höhe herab, und um die Nahrung bildet sich ein wirrer Haufen von Streitlustigen, in welchem jeder Einzelne der Gesammtheit feindlich gegenübersteht und diese ihm. Es wird mit allen Waffen gekämpft und zu jedem Mittel gegriffen, um sich des besten Bissens zu bemächtigen; nicht blos durch die rohe Gewalt, sondern auch durch abgefeimte List sucht der Einzelne seinen Zweck zu erreichen, doch geht es auch hier wie überall: der Mächtigste und Gewandteste hat das größte Recht. Man würde irren, wenn man glauben wollte, daß der Stärkste derjenige wäre, welcher die Andern beherrscht und übervortheilt. In unserm Raubvogelgebauer kommt regelmäßig der Sperbergeier am besten weg, Dank seinem Muthe oder richtiger seiner listigen Bosheit. Wenn Alles von oben sich herabstürzt, ist er bereits unten angelangt und erwartet die Kommenden. Das Gefieder gesträubt, den langen Hals eingezogen, sitzt er mit funkelndem Auge vor dem Fleische, ohne es anzurühren, aber augenscheinlich bedacht, es gegen jeden Andern zu vertheidigen. Der zusammengekröpfte Hals schnellt wie ein Blitz vor, nach allen Seiten hin, und jeder seiner Genossen fürchtet sich, einen der Bisse zu erhalten. In solchen Augenblicken hat das Verfahren des Sperbergeiers täuschende Ähnlichkeit mit der Art und Weise, wie eine Giftschlange sich zum Bisse anschickt, und diese Aehnlichkeit wird um so größer, weil der Vogel dabei fortwährend ein heiseres, ich möchte sagen, giftiges Zischen vernehmen läßt. Es ist eine alte Erfahrung von mir, daß die langhälsigen Geier viel boshafter sind, als die kurzhälsigen, welche durch eine gewisse Gutmüthigkeit sich auszeichnen; erst hier aber habe ich erfahren, daß von allen Langhälsen der Sperbergeier der kühnste, rauflustigste und deshalb der gefährlichste ist. Der unsrige hält nicht blos die Ohren- oder Mönchsgeier und die Seeadler im Zaum, sondern auch die ihm so nahe verwandten Gänsegeier, welche oft gemeinsam sich anschicken, ihm eine gefaßte Beute zu entreißen.

Die Unverschämtheit dieses Vogels, welcher es regelmäßig dahin bringt, seine Genossen so lange vom Fressen abzuhalten, bis er sich selbst gesättigt hat, entrüstet die Andern in hohem Grade; weil aber Keiner wagt, sich an ihm zu vergreifen, macht sich diese Entrüstung immer in einem Kampf zwischen den Uebrigen Luft. Der Seeadler, welcher eben einen wohlgezielten Biß von dem Sperbergeier empfangen hatte, wendet sich zornig gegen den vollkommen unschuldigen Ohrengeier, welcher seinerseits natürlich sofort den Kampf aufnimmt und sich nun mit Jenem herumzaust. Der Anstifter nimmt eine solche Gelegenheit schleunigst wahr und würgt die besten Bissen hinab, ohne jedoch seine drohende Miene auch nur einen Augenblick aufzugeben. Erst wenn er sich gesättigt hat, erlaubt er auch Andern, diesen oder jenen Brocken wegzunehmen, und außerdem gelingt es namentlich den Adlern oft durch kunstgerechtes Niederstoßen ein Stück Fleisch zu erbeuten und auf die Seite zu schaffen. Dann fallen freilich regelmäßig die Gänsegeier über den Glücklichen her und nehmen ihm das sauer Erworbene wieder ab.

Es ist überaus anziehend, das Gesammtspiel dieser Vögel zu beobachten. Jeder Einzelne bekundet die größte Aufmerksamkeit, Jeder ist eifrig bedacht, den günstigen Augenblick zu benutzen, und jeder Einzelne kämpft nur mit sichtlichem Widerstreben gegen den, welcher ihn durch rohe Gewalt in seinem Vorhaben zu stören sucht; aber jeder Einzelne muß kämpfen, denn so lange noch ein Bissen erobert werden kann, ist die ganze Gesellschaft fortwährend in Bewegung. Die Hauptmenge ist unten auf dem Boden im Kampfgewühl, die Listigsten aber stoßen nur bei gelegener Zeit von der Höhe zur Tiefe hernieder und steigen so schnell als möglich wieder nach oben empor. Dazwischen hört man lebhaftes Zischen, kicherndes und gackerndes Schreien, das Fuchteln der Flügel und das Schnappen der Schnäbel. Manchmal wird Einer ohne seinen Willen mitten in das Kampfgewühl gezogen, die ganze Rotte fliegt, flattert und wälzt sich über ihn her, und er hat große Noth, wieder davon zu kommen, falls ihn der Vorfall nicht so entrüstet, daß er ebenfalls zum thätigen Streiter wird. Allein eine gewisse Ruhe tritt schließlich dennoch ein. Gerade durch den heftigen Streit ist die Nahrung auseinander gezerrt und auf verschiedene Stellen des Käfigs vertheilt worden; der eine und der andere Adler hat sich ein schönes Stückchen erobert und verzehrt es oben auf dem Felsen oder sichern Baum; ein Geier hat einen hübschen Knochen erwischt, an dem noch etwas abzunagen, und schleppt diesen vergnügt einem Winkel zu, weil er dort meint, ihn am besten decken zu können; Einer und der Andre ist auch satt geworden und dann gewissermaßen froh, dem Gewühl zu entgehen; kurz, schließlich sieht man nur noch Diejenigen, welche in der Hitze des Gefechts am wenigsten glücklich waren, einzelne Knochen benagen. In einer guten halben Stunde ist das Mahl gewöhnlich beendet und außer einigen abgebissenen Federn und den sorgfältig entfleischten Knochen keine Spur des Streites mehr zu entdecken.

Bald nach dem Fraße gruppirt sich die edle Gesellschaft in den prächtigsten Stellungen auf den Felsen und Bäumen. Jeder Einzelne hat das Gefieder wieder in Ordnung zu bringen, zu putzen und zu glätten. Ein freundlicher Sonnenblick wird von Allen gewissermaßen mit Jubel begrüßt und sofort möglichst benutzt; zumal die Geier erfreuen sich der Wärme, breiten so recht behaglich ihre Flügel aus, um sie ganz zu genießen, und verweilen halbe Stunden in dieser Lage. Einige Zeit später geht es zum Baden. Das große, aber seichte Wasserbecken, welches tagtäglich mehrmals mit reinem Wasser gefüllt wird, ist jetzt der gesuchteste Ort im ganzen Gehege. Alle Raubvögel ohne Ausnahme sind sehr reinliche Thiere und dulden keinen Schmutz an ihrem Gefieder, so lange es in ihrer Macht steht, diesen zu beseitigen. Sie legen sich so tief in das Becken, daß das Wasser ihren ganzen Körper umspült, und wälzen und bewegen sich lebhaft umher, bis sie von Nässe triefen. Dann beginnt eine neue Ordnung des Gefieders und hierauf bei Sonnenschein ein Mittagsschläfchen, wobei sie sich sehr oft wie unsere Hühner platt auf den Bauch legen und die Beschauer verleiten, sie als todt oder wenigstens sehr krank und sterbend zu bedauern. Gegen Abend sucht sich dann Jeder seine gewohnte Schlafstelle in der Höhe auf.

So kluge Thiere, wie die Raubvögel es sind, lernen ihren Wärter und Pfleger sehr bald kennen. Alle Geier achten den Menschen, welcher sie füttert, und wagen es nicht, ihn anzugreifen, so muthig sie sonst den sich ihnen Nähernden auch entgegentreten; doch geben sie kein Zeichen von Vergnügen kund, wenn ihr Wärter sich naht. Dies thun nur die Adler und unter ihnen wieder vorzugsweise die Seeadler. Ihr prächtiges Auge unterscheidet den Wärter auf große Entfernungen, und sie verfehlen niemals, ihn mit lautem hellem Schreien zu begrüßen, wenn er von fern sich zeigt. Die gleiche Ehre wird mir zu Theil, sobald ich mich dem Gebauer nähere, und wenn erst Einer begonnen hat, fällt dann regelmäßig die ganze Gesellschaft jubelnd ein. Nach und nach hat sich zwischen den Wärtern und ihren Gefangenen ein wahres Freundschaftsverhältniß ausgebildet.

Aber noch mehr. Ich habe nicht ohne Grund gesagt, daß unsere Gefangene ihren Käfig wirklich liebgewonnen haben, sondern kann dies auch beweisen. Eines Morgens flog einer der Seeadler so heftig gegen die biegsamen Eisenstangen des Gebauers, daß diese aus den Nuten sprangen und dem Vogel Durchlaß gewährten. Er schien sehr beglückt zu sein über die erlangte Freiheit und machte denn auch von ihr sofort in wirksamster Weise Gebrauch. Mit fröhlichem Geschrei erhob er sich hoch in die Lust und strich nun über den Garten dahin, zu großer Freude der gerade dort sich befindenden Besucher. Am obern Teich ließ er sich auf Augenblicke nieder, und wir schmeichelten uns schon mit der Hoffnung, daß er vergessen haben könnte, wie leicht es ihm sei, uns zu entrinnen. Er ließ sich jedoch nicht fangen, sondern erhob sich von Neuem und entschwebte bald unsern Blicken. Wir gaben ihn natürlich verloren. Aber siehe da – nach Verlauf weniger Tage war er plötzlich zurückgekehrt, wurde jubelnd begrüßt von den aufmerksamen Cameraden unten im Käfig, antwortete nicht minder erfreut und ließ sich oben auf der Decke des Gebauers nieder. Selbstverständlich wurde sofort berathschlagt, in welcher Weise der Flüchtling wieder erlangt werden könne, und der Beschluß gefaßt, ihm oben auf dem Gebauer ein Tellereisen zu stellen. Am ersten Tage war dies vergeblich; denn der Vogel entfloh bei Annäherung des mit dem Fallenstellen beauftragten Mannes, ließ sich aber auf einem der nächsten Bäume nieder und blieb hier sitzen, bis er von Vorübergehenden entdeckt und durch Steinwürfe zum Auffliegen genöthigt wurde. Nunmehr wandte er sich einer der nächsten Straßen zu und ließ sich hier auf der First eines Daches nieder, bis er, auch von dort vertrieben, wiederum die Weite suchen mußte. Am

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verschiedene: Die Gartenlaube (1864). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1864, Seite 167. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1864)_167.jpg&oldid=- (Version vom 21.8.2021)