Seite:Die Gartenlaube (1864) 224.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1864)

hätte ihn eine Todesahnung beschlichen. Es ist sicher, daß, wenn Bennen an dieser entscheidenden Stelle seine Autorität als Hauptführer geltend gemacht und nach eigenem Instinct befohlen hätte, das Wagniß nicht unternommen worden und das daraus entstandene Unglück nicht geschehen sein würde.

Die Männer aus Ardon waren es, welche auch jetzt noch an keine Gefahr glauben wollten und mit ihrer Sicherheit das Urtheil Bennen’s verwirrten. Zwei derselben wagen sich auch sogleich in die gefürchtete Stelle hinein und zielen in horizontaler Linie gerade nach dem etwa 20 Fuß entfernten Felsengrat. Der Erste sinkt über die Hüfte ein und schreitet nicht mehr, sondern drückt mit der ganzen Vorderfläche seines Körpers eine Bahn, gleich einem Pfadschlitten, so daß in dem Schnee eine tiefe Furche entsteht. Der Zweite folgt nach und sinkt noch tiefer ein. Da protestirt Bennen: „Es geht nicht! kehrt um!“ Mittlerweile aber hat der Vorderste schon den Grat erreicht, er glaubt damit sich und die ganze, an ein und dasselbe Seil gebundene Gesellschaft geborgen und erwidert dem Bennen: „Es geht; machet nur, daß Ihr schnell herüberkommt!“ Bennen sieht, daß in der That keine Zeit zu verlieren ist, wenn nicht die weiche Masse unter der andauernden Last der Männer in Bewegung gerathen soll, er giebt sich in Gottes Namen darein und klettert zur Vorsicht nun hurtig ein paar Schritte höher, als jene Schneefurche, setzt sich an einer weniger bedenklichen Stelle fest und ersucht G., zu folgen. G. schreitet vor, von Bennen oben am Seil gehalten, aber sinkt nach wenigen Schritten bis an die Schultern ein. Neues Stutzen, neue Neigung zur Umkehr. Aber schon ist’s zu spät! Eben folgt B. dem Freunde nach, und die schwerere Körperlast des neu Ankommenden giebt der letzten Tragkraft des Schnees den Stoß; B. sinkt stürzend in die Tiefe. Bennen, der ihn mit ganzer Kraft zurückhalten will, fühlt, daß er selbst hinuntergezogen wird, daß der Grund unter seinen eigenen Füßen rutscht. Mit stoischer Ruhe und Kaltblütigkeit spricht er nur noch das resignirte Wort: „Jetzt sind wir Alle verloren!“ – – im gleichen Augenblick reißt es ihn kopfüber, im Nu liegen fünf Mann wirr durcheinander im langsam gleitenden Schnee, und der Sechste, der bereits auf sicherem Felsen stand, wird mit herabgerissen. Da erfolgt auf den allgemeinen Prall krachend ein gewaltiger Schneeriß längs des Felsengrats, und – die Lawine ist fertig. Wenige Secunden reichen hin, das erst langsam schleichende Ungeheuer in rasche Bewegung zu bringen. Was nicht fest in der Erde wurzelt, bricht los. Die Wucht der sinkenden Masse, der vorauseilende Luftdruck, die überall sich öffnenden Klüfte bewirken, daß von allen Seiten immer neue Schneemassen, Eisschollen, Steinblöcke in den kalten Gischt stürzen und die Gewalt der Lawine immer furchtbarer anschwillt. Rascher, immer rascher-, zuletzt blitzschnell stürmt der entsetzliche Strom zu Thal, es kracht und dröhnt und wiederhallt an den Felsen wie ein wildes Wetter. Und mitten in diesem Strudel rollen sechs Menschen mit, in eine Tiefe von gut 2000 Fuß! – – G. ist es gelungen, sich aufzurichten und aufrecht zu erhalten, er arbeitet mit den Armen, wie wenn er in einem Wasserstrom schwämme, und in der That wälzt sich die Lawine über die abschüssig schiefe Ebene in Gestalt aufschäumender Wogen. Mehr als einmal taucht G. unter, wird gleich darauf von einer Welle hoch in die Luft gespieen und sinkt wieder unter, bis er sich zuletzt vollständig vergraben fühlt, als die Lawine stockt.

Das Unglück war geschehen, und es war das Werk kaum einer Minute. Doch, wie so manches Mal selbst beim gräßlichsten Unheil glückliche Zufälle mitspielen, die an das Wunderbare streifen, so auch hier. Einer der drei Führer aus Ardon war während des Lawinensturzes weit aus dem Strom hinausgeschleudert worden und blieb eine Zeitlang auf sicherem Port besinnungslos liegen.

Ohne diesen glücklichen Zufall wären Alle unrettbar verloren gewesen, denn Keiner hätte sich selbst, geschweige Andere aus den eisigen Banden der erstarrten Lawine zu befreien vermocht; wer nicht schon todt in die Tiefe gelangte, wäre erfroren. Daß Einer frei geblieben, verhalf drei Andern zur Rettung.

Als der bei Seite Geschleuderte wieder zur Besinnung gekommen, herrschte Todesstille ringsum, wo eben noch ein Aufruhr der Elemente getobt. Als ein ungeheures Leichentuch lag die Lawine über der Ausmündung des Tobels gebreitet. Keiner der Gefährten um den einsam Erwachten. Sie liegen Alle im Schnee, todt oder mit dem Tode ringend. Der Gedanke, daß Einer oder der Andere vielleicht noch zu retten wäre, giebt dem Manne plötzlich wieder neues Leben, und wie er sich aufrafft und die Glieder reckt – o Wunder, o Glück! – bemerkt er erst, daß er krampfhaft noch in der Faust das Gletscherbeil hält. Wie ist diese Waffe jetzt so nöthig!

Nachdem der Führer erst der gepreßten Brust durch laute Rufe nach seinen Gefährten Luft gemacht – keine Antwort! – schritt er eilends der Lawine zu. Noch einmal rief er nach allen Seiten. Keine Antwort. Er späht umher, wo das Auge Einen fände. Da auf einmal sieht er in einiger Entfernung etwas an der Oberfläche krabbeln – dort ist Einer, ein Lebender! Und in der That fand er einen Lebenden, einen Cameraden aus Ardon, und gleich darauf den Zweiten. Er befreite sie mittelst des Beiles, nicht ohne große Anstrengung; denn der mächtige Druck der stürzenden Massen hatte den ursprünglich lockeren Schnee fest zusammengepreßt, und die compacten Massen froren bereits ineinander.

Nun spähen die drei Geretteten nach den Uebrigen aus und gewahren an einer Stelle weiter oben zwei aus dem Schnee ragende Hände. Es sind die Hände G.’s. Er lebt noch. Er fühlte, nachdem die Lawine zur Ruhe gekommen, daß seine Hände über dem Kopfe im Freien schwebten, aber er kann sie weder zusammenbringen, noch zurückziehen. Die Arme wie der Leib sind wie eingemauert. Das Einzige, was ihm gelingt, ist, daß er von oben gegen das Gesicht herabkrabbelt, um sich einen Luftgang zum Munde zu graben, da die Lunge nach Atmosphäre seufzt. Aber es gelingt nur so weit, daß das Auge nach einiger Zeit den Tag matt durch die harte Schneedecke dämmern sieht; das Uebrige muß der Athem thun, den der Vergrabene heiß gegen das Licht ausstößt. In dieser Arbeit wird er endlich – endlich unterstützt von den geretteten Führern, die aber wieder mit dem Beil hantiren müssen, bis sie nur den Kopf G.’s freigemacht haben.

Das Erste, was dieser erblickt, ist, ganz in seiner Nähe, ein Fuß des Freundes, dessen Körper köpflings im festgepreßten Schnee steckt. „Rettet ihn! rettet ihn!“

Aber B. war todt.

Es kostete die selber hart mitgenommenen Führer eine schwere Arbeit, den Körper G.’s vollends aus der eisigen Kruste loszuschälen. Während sie eine grausam lange halbe Stunde hackten mit dem Beil, und mit den Händen scharrten, fühlte der Eingemauerte immer deutlicher von den Extremitäten herauf seine Glieder ersterben. Endlich ward er doch erlöst.

Nun aber reichten die Kräfte der Männer kaum mehr aus, den Leichnam B.’s auszugraben, der bis zu diesem letzten Augenblick durch das Seil an den Freund gefesselt geblieben. Nachdem dies vollbracht, waren sie erschöpft. Bennen mußte preisgegeben werden. Auch stand bei Allen die Ueberzeugung fest, daß er todt sei; er lag tief vergraben, und Einer hatte ihn während des Sturzes gesehen, wie er von einer Welle ausgestoßen worden, bleich und starr, die Arme leblos an den Hüften hängend. Außerdem war es zur vollständigen Rettung G.’s dringend nöthig, daß er die erfrorenen Füße durch Bewegung wieder belebe. Wenn er heute, gottlob, nach zweiwöchigem Krankenlager wieder ordentlich in seinem Zimmer herumhumpelt und binnen Kurzem ganz genesen sein wird, so hat dazu wesentlich beigetragen, daß er von der Unglücksstätte bis Ardon hinunter noch vier volle Stunden marschiren mußte.

Etwas nach 1 Uhr Nachmittags brach der traurige Rest der Karawane vom Morgen wieder auf und erreichte Ardon Abends 51/2 Uhr. Hier waren sie mit Angst und Bangen erwartet, denn die Lawine und ihr Wiederhall hatte weit über das Rhonethal hin gedröhnt.

Tags darauf brachen 25 Mann aus Ardon auf, um die Leichname der Verunglückten in das Dorf herabzuholen. Sie fanden jedoch nur B. und brachten ihn für die folgende Nacht in der Kirche unter. Seine bleibende Ruhe hat B. auf dem Friedhofe von Ouchy, an den Gestaden des Leman, gefunden. An seinem Grabe weint eine Wittwe um den einzigen Sohn und gäbe wohl alle ihre reichen Schätze hin, um dieses theuerste Kleinod wieder zu gewinnen. Seine Freunde betrauern in ihm einen jungen Mann von ganz vortrefflichen Geistes- und Charaktereigenschaften, der es verschmähte, nach Art so vieler seiner Standesgenossen auf faulem Erbe zu liegen, der mit ganzem Eifer sich einer Fachwissenschaft hingab und es nach menschlicher Berechnung zu sehr tüchtigen Leistungen gebracht haben würde, wäre sein Leben nicht so grausam in der Blüthe geknickt.

Bennen konnte erst nach dreitägiger Arbeit an’s Tageslicht gefördert werden und er ist seitdem auf dem Kirchhofe von Lax beerdigt. Dort finde der brave Mann den ewigen Frieden. Der alte Berggeist aber, wenn er noch umgeht auf Gletschern und Firnen, wird ihm auf der leuchtenden Zinne des Weißhorns ein Denkmal setzen.

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1864). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1864, Seite 224. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1864)_224.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)