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verschiedene: Die Gartenlaube (1864)

Kriegers anlangen würde. Endlich nach länger als zwei Monaten findet er einen Brief unter seiner Adresse vor, aber von fremder Hand) er öffnet ihn und bleibt starr stehen. Der Brief ist nicht von, nicht über Eduard; er ist von einem Professor in Jena, der dem Vater anzeigt, daß sein Sohn Gustav durch das Examen gefallen sei; der Sohn habe nicht den Muth, den Vater selbst zu benachrichtigen, der Professor bitte aber noch um ein Jahr Unterstützung, zur Fortsetzung der Studien und um die gewöhnliche Prüfung eines Candidaten bestehen zu können. Der Professor deutete zugleich an, daß es dem Sohne zwar nicht an Fleiß und guter Führung gefehlt habe, wohl aber an Fähigkeiten, und an eine Universitätsprofessur sei bei so mittelmäßigen Anlagen nicht zu denken.

Der Alte war nahe daran, seinen Verstand zu verlieren; ein solcher Irrthum, ein solches Verkennen seiner beiden Söhne wäre dem Vater noch zu verzeihen gewesen, aber dem Conrector! Das schien ihm zu toll. Er konnte seinen gerechten Kummer Niemandem anvertrauen, als dem vortrefflichen Landsmann, der achselzuckend den Brief durchlas und dem Vater zum Troste sagte: „Ein wahres Glück, daß Sie den dummen Jungen nicht mit nach Rußland gebracht haben. Lassen Sie ihn so lange studiren, bis er sein Examen gemacht, und dann Gott befohlen; eine Dorfpfarrerstelle wird er doch gelegentlich bekleiden, und dahin mag er passen, aber nicht hierher. Todte Kenntnisse haben hier besonders keinen Werth, aber lebendiger, schnell fassender, durchdringender Verstand, Geistesgegenwart und vor Allem Menschenkenntniß. Ich habe selbst in Jena studirt, allein meine Hefte von dort nie wieder geöffnet und zu Rathe gezogen. Alles todter Kram! lebende Sprachen, lebende Menschen kennen lernen, Länder bereisen, Staatsverfassungen studiren, Natur und Kunst, und vor Allein Mathematik."

Sehr niedergeschlagen ging der Forstmeister nach Hause, schickte das nöthige Geld an Gustav und fing an zu fürchten, daß Eduard gar nicht zurückkomme und Jener zur Betrübniß und Schande des Vaters fortleben werde. Es vergingen sechs Monate, der Krieg hatte ernstlich begonnen und manche Schlacht war geliefert worden; von Eduard war nichts zu hören. Da kam eines Tages der Landsmann zum Forstmeister mit einer Zeitung in der Hand und sagte: „Lesen Sie!“ Zitternd nahm Jener das Blatt in die Hand; aber wie verklärte sich sein Gesicht, als er Eduard’s Namen unter 17 Officieren genannt sah, die sich beim Sturme von Brailow ausgezeichnet hatten und vom Kaiser belohnt wurden. „Sehen Sie," sprach der Landsmann, „die Vorzüge eines großen Weltstaates, wo jedes Talent seinen Platz findet, während in dem kleinen Fürstenthum so manches verkümmert! Setzen wir den Fall, einer Ihrer Söhne sei selbst Minister des Fürsten geworden, so käme sein Wirkungskreis noch nicht einem Sectionschef in hiesiger Bedeutung gleich, ja das ganze Fürstenthum würde hier nur der fünfzehnte oder sechszehnte Kreis eines Gouvernements sein." Der Forstmeister stand sprachlos vor dem Zeitungsblatte und hatte kaum gehört, was der Landsmann sagte; aber sein thränendes Auge verrieth Alles, was in ihm vorging. Er kaufte zwei dieser Zeitungsblätter und schickte eins nach Jena an Gustav; das andere schloß er sorgfältig bei sich ein als das kostbarste Papier in seiner ganzen Habe.

Wieder schwanden mehrere Monate ohne Nachricht; unterdessen floß Blut in Strömen, und viele Familien in Petersburg hatten Väter und Söhne zu beweinen. Endlich kam ein Brief von Eduard’s Hand, der nur folgende Zeilen enthielt: „Lieber Vater, ich schreibe Dir am Abend nach einer blutigen Schlacht in einer Scheuer, wo über zwanzig Verwundete um mich winseln; statt eines Tisches auf einem Fasse, statt eines Lichtes hält mein Diener einen brennenden Holzspahn. Mein Arm ist vollständig geheilt. Eduard." Er war also verwundet gewesen, aber ob schwer, ob leicht, vor kurzem oder schon seit lange, ob die Wunde der Grund seines langen Schweigens, das waren alles Fragen und Zweifel, die den Alten in einer fieberhaften Unruhe erhielten. Das Frühjahr 1829 kam heran, Schumla war gefallen, die Russen gingen über den Balkan, da zeigte Gustav dem Vater an, sein Examen sei glücklich überstanden und er würde nach vier Wochen als Hauslehrer zweier Knaben eines Justizrathes in der Vaterstadt auftreten, mit 150 Thaler Gehalt und der Aussicht durch den hohen Gönner später zu einer Pfarrerstelle empfohlen zu werden. Diese Mittheilung machte den Vater weder warm noch kalt, während er von Eduard Tag und Nacht träumte; ja als schon die Rede vom Frieden, der zu Adrianopel geschlossen werden sollte, durch die Hauptstadt lief, da zweifelte er an Eduard’s Rückkunft. Der treue Landsmann versicherte, daß er jede Woche die Liste der Getödteten zu lesen bekomme und daß Eduard dort nicht genannt sei. „Keine Nachrichten sind immer die besten," fügte er hinzu. „Ich erfuhr es nach vierzehn Tagen, als mein Schwager bei Brailow geblieben, aber es vergingen sechs Wochen, ehe von Eduard’s Belohnung die Rede war. Es kann indeß ein halbes Jahr verstreichen, ehe die Garden nach Petersburg zurückkommen, denn der Weg zählt über 2000 Werst."

Den 17. Januar 1830 feierte der Forstmeister in Gesellschaft des Landsmanns seinen fünfundfünfzigsten Geburtstag still in Nachdenken und traulichen Gesprächen verloren; ein Brief von Gustav war schon Tags zuvor angelangt. Plötzlich hält in der öden Straße, wo der Forstmeister in einer entlegenen Vorstadt wohnte, ein Schlitten von zwei in Mäntel gehüllten Officieren besetzt. Es klopft an die Thür, mehr aber an das Herz des Alten; ein General tritt herein und mit ihm ein junger Officier, dessen Brust mit zwei Orden geschmückt ist. Dieser wirft sich sprachlos an des Vaters Brust: es ist der langersehnte Eduard, der als Stabscapitain zurückkehrt. „Ich muß den Vater eines so braven Officiers kennen lernen," spricht der General, „daher führe ich Ihren Sohn selbst zu Ihnen." Beide erzählen nun um die Wette, und der Alte kann nur zuhören. Beide sind seit vorgestern gegen dreihundert Werst gereist, um den Vater an diesem Tage zu begrüßen. Für den Alten ging am Abende seines Lebens noch eine neue Welt auf; Eduard hatte in nicht ganz zwei Jahren mehr erlebt, als das ganze Fürstenthum seit fünfzig Jahren. Und doch war es eben nur der Anfang einer Laufbahn, deren Ende in einem Weltstaate nicht vorauszusehen ist.

Im nächsten Sommer wollte Eduard seine Reise antreten, aber die Zustände in Frankreich ließen eine Revolution voraussehen, die im Juli ausbrach, im November die polnische nach sich zog und die russischen Truppen von Neuem in’s Feld rief. Anfangs Januar des Jahres 1831 verließ Eduard von Neuem seine stille Wohnung und den alten Vater, ohne zu ahnen, daß er demselben das letzte Lebewohl sage. Der Feldzug in Polen beförderte den jungen deutschen Officier zum Range eines Hauptmanns, zum Adjutanten des geschickten Geniegenerals Sch…, aber hielt ihn auch nach dem Ende des Krieges in Polen zurück, wo eine Menge Festungsarbeiten begannen und die Thätigkeit Eduard’s in vollen Anspruch nahmen.

Im Jahre 1834 starb der alte Forstmeister in Petersburg, und sein Sohn erhielt die Nachricht davon nur durch den gefälligen Landsmann. Sein Aufenthalt dauerte in Polen bis zum Jahre 1837. Dann schickte ihn die Regierung auf jene Reise durch ganz Europa, welche ihm schon früher mit der goldenen Medaille zugesagt war; aber er kam nicht als Hauptmann, sondern als Oberstlieutenant nach Deutschland. Natürlich besuchte er die Heimath, die Residenz seines Fürsten, dessen Minister nicht glauben wollten, daß er Oberstlieutenant sei, und deshalb seinen durch die russische Gesandtschaft in Paris mit dem neuen Range ausgestellten Paß auf eine lächerliche Weise zu Rathe zogen. Es wurde ihm die außerordentliche Ehre zu Theil, an der fürstlichen Tafel zu speisen mit den sechs Ministern des Landes; auch besuchte er seinen Bruder, der schon seit zehn Jahren als Candidat der Theologie sein Leben fristete, theils von väterlichen und brüderlichen Unterstützungen lebte und selbst allmählich die Aussicht auf eine gute Dorfpfarrerstelle verlor, weil ihm, dem ehemaligen Cicero, die Kanzelberedsamkeit in der deutschen Sprache vollständig abging. Auch den Conrector, jetzt Rector des Gymnasiums, der trotz der Beförderung ihm nicht mehr so weltgebieterisch vorkam wie vor achtzehn Jahren, besuchte Eduard; allein auch dieser machte auf den beschränkten Philister einen andern Eindruck als damals.

So schied Eduard in einem gewissen Mißmuthe, von der lieben Heimath und wurde, kaum an der Newa angelangt, zum Grafen Woronzow verlangt. Dieser war eben vom Kaiser Nikolaus zum Oberbefehlshaber der kaukasischen Armee und Generalstatthalter in Tiflis ernannt worden und suchte mehrere geschickte Ingenieure mit sich dahin zu nehmen. Woronzow setzte dem jungen Oberstlieutenant aus einander, daß am Kaukasus eine einseitige Fachkenntniß nicht hinreichend sei, ein guter Stabsofficier müsse vielmehr eben so gut Artillerist als Cavallerist sein und das Militärhandwerk im vollsten Umfange praktisch kennen. Er rieth Eduard an, ein Jahr lang nach Pawlowsk (bei Petersburg) zu gehen, in die sogenannten Musterregimenter zu treten und sich mit dem Militärdienst nach allen

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verschiedene: Die Gartenlaube (1864). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1864, Seite 271. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1864)_271.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)