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verschiedene: Die Gartenlaube (1864)

waren ja wohl Staatsverbrecher, die aus der Festung da hinten entsprungen sind?“

„Um Gottes willen, Fräulein!“ bat der Student leise und wie in Todesangst. „Man weiß ja gar noch nicht,“ setzte er laut hinzu, „was für Menschen entkommen sein mögen.“

„Doch, doch! Und da oben, auf dem Berge da drüben, an den alten Steinen oder Felsen –“ Sie hielt inne.

Der Staatsanwalt zuckte noch einmal heftig zusammen; er wandte sich ab, daß man sein Gesicht nicht sehen solle.

„Richtig!“ sagte das Mädchen für sich. „Indeß hat er die Flüchtlinge, so haben diese ihn erkannt, und da oben treffen sie seine Schergen nicht mehr.“

„Herr Eisen,“ sagte sie dann wieder laut, „wissen Sie, woran ich dachte, als ich in den gräulichen Abgrund hier zu unseren Füßen blickte?“

„Ich weiß es nicht, mein Fräulein.“

„An die Ruhe des Herzens.“

„Sie an Ruhe?“

„Ja, und gar an die Ruhe des Grabes.“

„Ah, ein Grab da unten! In der unergründlichen Tiefe! Der Gedanke ist wenigstens romantisch.“

„Meinen Sie?“

Sie mußte sich wieder schütteln, denn sie hatte abermals den Staatsanwalt angesehen, der plötzlich sich nach ihr umgewandt und einen Blick, wie des tätlichsten Hasses, auf sie gezuckt hatte.

„Ah, mich friert!“ rief sie dann. „Es ist hier zu grausig. Laß uns gehen, Gustav. Mir schwindelt.“

Sie verließen Alle die Steile Wand, das Mädchen am Arm ihres Onkels.

„Onkel, Onkel,“ sagte das Mädchen zu ihrem Führer, „in der Seele des Menschen gehen entsetzliche Dinge vor.“

„Du meinst den Staatsanwalt, Kind?“

„Beobachten wir ihn, wenn er zu seiner Frau zurückkommt. Aber er darf nichts merken.“

Sie kamen aus dem Einschnitt des Felsen heraus. Sie hatten dort vorhin die beiden Frauen zurückgelassen, an dem Stamm einer mächtigen Buche. Es war leer unter der Buche. Auch rund umher war Niemand zu sehen.

„Was ist denn das?“ rief Herr Milden, „wo mögen sie geblieben sein?“

„Emilie!“ rief er laut in das Gehölz hinein. Es kam keine Antwort. „Sie können doch nicht fortgegangen sein. Sie wollten hier auf uns warten.“

„Emilie! Emilie!“ Es kam keine Antwort. „Das ist doch sonderbar.“

Der Staatsanwalt war glühend roth geworden. Seine Augen durchflogen alle Richtungen des kleinen Waldes.

„Sie werden zu dem Gasthofe auf der Höhe zurückgekehrt sein,“ sagte der Domherr.

„Nein!“ rief auf einmal heftig der Staatsanwalt.

Sein Gesicht hatte wieder die gewöhnliche tiefe, finstere Blässe angenommen. Er hatte, als seine Augen das Gehölz durchflogen, sich schnell orientirt; seine furchtbare Leidenschaft hatte ihn geleitet.

Sie waren oben auf dem Kamme des Gebirges. Auf dem Kamme erhoben sich einzelne höhere Felsen und Kuppen. Einer der Felsen war der, welcher die Steile Wand bildete, eine der höchsten Kuppen jener schroff und spitz zulaufende Berg, auf dessen oberstem Gipfel man das graue Gestein sah, nach welchem der Staatsanwalt so starr und scharf geblickt und wo das junge Mädchen menschliche Gestalten gesehen zu haben geglaubt hatte. Der Berg lief nur nach den anderen Seiten steil zu-, nach dem Wäldchen hin, das sich auch an seinem Fuße entlang zog, dachte er sich sanft ab. Nach dem Fuße der Bergkuppe hin wandte der Staatsanwalt seine Schritte. Er eilte; wilde Leidenschaft trieb ihn.

„Alle Tausend!“ rief Herr Milden beinahe ängstlich, und er war fast geschwinder, als sein finsterer Reisegefährte.

Mit ihm war der Domherr. Sie brauchten nicht weit zu gehen, kaum fünfzig Schritte. Da saß, an einen Baum gelehnt, Frau Milden. Sie hielt in ihren Armen die ohnmächtige Frau des Staatsanwalts. Sie war selbst blaß, als sei sie einer Ohnmacht nahe.

„Was ist hier geschehen?“ rief der Staatsanwalt.

Er rief es laut, befehlend, drohend; er rief es in der höchsten Aufregung jener wilden Leidenschaft, die ihn hierher gejagt, die ihn nicht irre geführt, und die nun in seinem Innern ganz und gar Recht hatte.

„Ruhig, mein Herr!“ erwiderte ihm Frau Milden, befahl sie ihm mit der vollen klaren, einfachen und so mächtigen Ruhe ihres edlen Herzens.

Der Staatsanwalt war der Mann der unbändigen Leidenschaft und der Mann, der an Befehlen und an den Gehorsam gegen seine Befehle gewöhnt war. Vor der hohen Ruhe der edlen Frau beugte er sich aber unwillkürlich; er unterwarf sich ihrem Befehle. Er unterwarf sich ihr, wie einem höheren Wesen.

„Verzeihen Sie, gnädige Frau. Der Zustand der Armen –“

„Bedarf der vollsten Ruhe. Darum durfte ich auf jenes Rufen nicht antworten.“

Der Staatsanwalt schwieg. Herr Milden wollte wieder nach frischem Wasser für die Ohnmächtige laufen.

„Es bedarf dessen nicht,“ sagte seine Frau. „Sie liegt mehr in einem Schlafe, als in der Erschöpfung der Ohnmacht. Sie wird bald erwachen. Sie muß aber auch dann durch nichts beunruhigt werden. Wenn ich daher bitten dürfte, mich mit ihr ganz allein zu lassen – An dem Felsen, an dem wir uns trennten, würden wir uns wieder zusammenfinden.“

Sie wollten sich Alle entfernen. Nur der Staatsanwalt zögerte.

„Auch Sie, mein Herr,“ sagte Frau Milden zu ihm.

Er konnte sich dennoch nicht entschließen. Wie hätte er es gekonnt?

Während die beiden Frauen allein gewesen, war ihnen etwas begegnet. Es hatte seine Frau betroffen, es war etwas tief Ergreifendes für sie gewesen. Ueber das Alles war kein Zweifel. Aus anderen Thatsachen, die feststanden, combinirte nun seine Eifersucht weiter. Aus der Festung waren Gefangene entsprungen. Natürlich hatten sie die bequemere allmähliche Abdachung des Berges nach dem Gehölze hin gewählt. Sie waren in diesem plötzlich auf die beiden Frauen gestoßen. Unter den Gefangenen war Herr von Wartenburg, er stand plötzlich vor der Geliebten. In ihrem Herzen erwachte die alte Liebe wieder, die niemals daraus entwichen war, die wohl niemals auch nur darin geschlummert hatte. Sie ergriff das Herz der Frau mit erneuter Gewalt, sie warf sie in Ohnmacht. Der Geliebte hatte weiter flüchten müssen, als Menschen herbeikamen; aber was war bis dahin noch geschehen? Was hatten die Herzen einander zu sagen gehabt? Was hatten sie einander gesagt?

Der Staatsanwalt knirschte mit den Zähnen, indem er daran dachte. Seine Augen sprühten tödtliche, vernichtende Blitze auf die ohnmächtige Frau.

„Wer war hier?“ fragte er Frau Milden. „Wer hat mit meiner Frau gesprochen?“

Frau Milden erhob ihr Haupt mit edlem, zürnendem Stolze.

„Mein Herr, muß ich Sie zum zweiten Male daran erinnern, was Ehre und Anstand von Ihnen fordern?“

Er biß die Zähne zusammen. – Der Galopp von Pferden wurde gehört, kam näher, hatte das Gehölz erreicht. Der Staatsanwalt sah sich wie mechanisch danach um; er erkannte, was sich nahte. Sein Gesicht durchzog eine wilde Freude. Drei Gensdarmen mit einem Officier an der Spitze kamen in das Gehölz gesprengt.

Sie erblickten die Gruppe unter dem Baume und sprengten auf sie zu. Der Officier erkannte den Staatsanwalt.

„Ah, Herr Oberstaatsanwalt, Sie hier?“

Der Staatsanwalt war auf einmal der gemessene, strenge Beamte, der öffentliche Verfolger der Verbrechen, der Ankläger auf Leben und Tod, der in allen seinen Amtshandlungen, mochte es in seinem Innern kochen und stürmen, und wüthen und loben, äußerlich die Kälte des Eises, die Ruhe des Grabes bewahren konnte und bewahren mußte.

„Herr Lieutenant von Frankenstein,“ fragte er mit dieser Ruhe und Kälte, „Sie verfolgen Entsprungene aus der Festung?“

„Zu Befehl, Herr Oberstaatsanwalt!“

„Wie viele sind entkommen?“

„Zwei.“

„Ihre Namen?“

„Der Graf Golzenbach und –“

„Ha!“ mußte der Staatsanwalt unwillkürlich rufen. Aber der Ruf war der Ruf des Erschreckens, und sein Gesicht war bleich geworden.

„Und der Herr von Wartenburg,“ fuhr der Officier fort.

Das blasse Gesicht des Staatsanwalts war wieder kalt und ruhig.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1864). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1864, Seite 387. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1864)_387.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)