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verschiedene: Die Gartenlaube (1864)

seine ganze Geistesthätigkeit auf die Ausarbeitung eines nun im Erscheinen begriffenen großen Werkes – „Die Bibel für denkende Leser betrachtet“ – worin sein Ideal von religiöser Freiheit sich abspiegelt, die rationellen Erklärungen der Urkunden der Religion sich gipfeln, und dieses Werk verspricht ein Volksbuch für die religiöse Freiheit zu werden. Hat ihm die orthodoxe Kirche den Priestertalar entzogen und die Kanzel versperrt, so ist er ein Priester der Jugend und des Volks geworden, und ist sein Haar im Kampfe mit dem starren Dogmenglauben gebleicht, so bezeugt sein Bibelwerk, das hier in Hauptpunkten beleuchtet werden soll, die Jugendfrische seines Ideals, sein Ringen nach religiöser Freiheit.

Das gläubige Volk sucht und findet in der Bibel die Quelle der überlieferten Religionslehren, das Buch der Erkenntniß für die edelsten Sittengesetze, das Trostbuch für das leidende und verzweifelte Gemüth, den Pharus für die Schiffbrüchigen auf dem stürmischen Ocean des Lebens. In den biblischen Erzählungen über die Urgeschichte der Menschheit, über die Erscheinungen der Natur und über die Begebnisse eines alten Urvolkes sieht der religiöse Sinn nur offenbarte, unbedingte Wahrheit, nicht aber eine zu prüfende Erscheinung der Geschichte. Die Kirche verlangt Glauben, die Geschichte fordert Wissen, und Wissen ist das Urtheilen des denkenden Menschen. Die Kirche wie die Synagoge haben das biblische Schriftthmn heilig gesprochen und es als Band – religio – betrachtet, welches den materiellen und ungezügelten Menschen mit Gott verbindet. Aber auch die Bücher der Geschichte führen den denkenden Menschen dem Geistigen zu, ohne die Vernunft gefangen zu nehmen.

Fromm und frei unternahm es der muthige und wahrheitsliebende Wislicenus, die Bibel als Erscheinung der Geschichte darzustellen. Die großartigen Ergebnisse der freien Wissenschaft, die seit Jahrhunderten, oft mit Verlust der persönlichen Freiheit, erzielt wurden, verdienen in unserer Zeit, daß sie in eine verständliche, volksthümliche Sprache umgegossen und Gemeingut der denkenden Leser werden. Das gereifte und selbständig denkende Volk will auch seine Religion und seinen Glauben nicht auf blinde Autorität hinnehmen; es will wissen und selbst erkennen. Wie unser Volk nach Einsicht und Verständniß über seinen gesunden und kranken Leib strebt und ringt und die Männer als seine Apostel hochschätzt, welche ihm diese Erkenntniß in volksmäßiger Sprache zuführen, ebenso dürstet und lechzt es nach Verständniß der Religionsquellen für seinen gesunden und kranken Geist und würde die Dolmetscher preisen, die ihm klare Einsicht in die biblischen Schriften verschaffen. Die fortgeschrittene Naturwissenschaft hat durch faßliche und populäre Darstellung im denkenden Volke einen großen Leserkreis gefunden; die wissenschaftlichen Forschungen über die Bibel harren noch der Popularisirung. Die biblischen Urkunden beider Testamente, auf deren Grund die Kirche ihren glänzenden Riesendom aufgebaut hat, um die Völker in Beziehung alles Menschlichen auf eine göttliche Weltordnung zu leiten, sind wie die Verfassungen im Staatsleben. Jedes Staatsmitglied sucht in der Verfassung seine Beziehung zur Staatsordnung; und wie die genauste Kenntniß der Verfassung heilige Pflicht der Bürger ist, um nicht unversehens von solchen, die sie bewußt oder unbewußt falsch auslegen, zur Verantwortung gezogen zu werden, ebenso will das gereifte Volk in seinen religiösen Interessen sich durch Prüfung überzeugen, will die Verfassungsurkunde der Kirche, die Bibel, selbst verstehen.

Das Bibelwerk von Wislicenus popularisirt die biblische Wissenschaft für denkende Leser. Was die erleuchteten und scharfsinnigen Gelehrten seit Jahrhunderten in allen wesentlichen Theilen der Bibel ermittelt, die Gesichtspunkte und Ergebnisse, die sie durch Kritik und Gelehrsamkeit zu Tage gefördert haben, das wird in diesem Bibelwerk in eine dem Volke genießbare Sprache umgesetzt und gedolmetscht. Die freie Forschung hat den Kerker der Kritik verlassen und ist auf den weiten Markt des Volkes getreten; sie hat die ungelenke und schwer verständliche Sprache der Gelehrten aufgegeben und die volksthümliche Redeweise angenommen. Bei dieser Wandlung hat die Bibel nunmehr keine Ausnahmestellung, ist kein Buch, das sich der wissenschaftlichen Beurtheilung, der menschlichen Prüfung entzieht, kein exclusiv theologisches Werk, sondern eine Erscheinung der Geschichte. Wislicenus tritt mit seiner Bibel nicht als Anwalt einer herrschenden Kirche, sondern als Priester von Volksgnaden auf; seine erworbenen fremden und eigenen Ergebnisse in der Erklärung dieses uralten schönsten Buches der Bücher theilt er dem denkenden Volke in der Ueberzeugung mit, daß nur die unbestechliche Wahrheit geistig frei macht und daß nur Wissen und Verständniß die Religion der Zukunft sein kann. Die Betrachtung der Bibel im Geiste eines hochpoetischen, großartigen geschichtlichen Schriftthums, als durchwoben von Mythe und Sage, von Dichtung und Wahrheit, führt zur Emancipation von Irrglauben, zur Befreiung von den Fesseln einer autokratischen Kirche, zu einer idealen Religion des Geistes.

Als Nationalliteratur eines naturwüchsigen, nach sittlicher Vollendung und geistiger Erhebung ringenden Urvolks birgt die Bibel in ihren Geschichten und Lehren, auch wenn sie als menschliches Werk behandelt und vom Standpunkt der Wissenschaft beurlheilt wird, alle Elemente der Religion. Denn auch die Geschichte ist, von höherem Ziele aus gefaßt, eine fortgesetzte Offenbarung. Wie jedes andere Buch des fernen Alterthums verfällt die Bibel der Kritik, der wissenschaftlichen Prüfung und dem Urtheile denkender Menschen, und nur der Absolutismus der Strenggläubigen konnte für sie eine mystische Ausnahmestellung beanspruchen. Aber die Lösung der wichtigen Ausgabe ist bei dem hohen Alter der biblischen Schriften, bei der Fremdartigkeit in Sprache und Anschauung nicht leicht, sie verlangt die Aufbietung des kritischen Scharfsinns, gepaart mit dichterischem Sinne, um die kindliche Weltanschauung eines Naturvolkes zu begreifen. Denn bald sind die nebelhafte Mythe und die dichterische Sage von der hellen und klaren Thatsache zu unterscheiden, bald ist die naive Anschauung von dem unmittelbaren Eingreifen der Gottheit in die menschlichen Begebnisse auf unsere reflectirende Betrachtungsweise zu übertragen. Die Satzungen und Sittenlehren beider Testamente, welche für ihre Zeiten ein Zeugniß von idealer Geistesentwickelung ablegen, muß die Wissenschaft nach ihren Motiven und Zwecken prüfen, um ihren Werth für die Zukunft danach zu messen. Solche freie und vorurtheilslose Geistesarbeit ging seit Jahrhunderten neben der starren, orthodoxen Anschauung von der Bibel einher. Die erste Prüfung galt der wissenschaftlichen Fassung des sogenannten mosaischen Fünfbuches nach Zeit und Verfasser, die auch Wislicenus an die Spitze seines Bibelwerkes gesetzt hat.

Schon der jüdische Gelehrte Ibn Esra aus Toledo im zwölften Jahrhunderte bewies, daß die fünf Bücher Mose’s vielfache fremde Einschiebsel enthalten, wie andere Bücher des Alterthums. Spinoza im siebzehnten Jahrhundert folgte ihm darin und stellte überzeugend dar, daß das Fünfbuch erst mindestens ein halbes Jahrtausend später entstanden sein könnte. Englische, französische, holländische und deutsche Gelehrte förderten mit Scharfsinn und unbestechlicher Kritik die rationellen Forschungen über die Bibel weiter und brachten dieselben endlich so weit, daß Wislicenus sie nur aus dem Banne der Gelehrsamkeit zu befreien brauchte.

Aber wäre es nicht zu vermessen, fragen religiös gestimmte Leser, einem Buche seine Echtheit abzusprechen, das bereits in den goldnen Träumen unsrer Kindheit als Buch der Bücher, als Religionsquelle angepriesen worden ist? Ist es nicht Leichtsinn, die uns überlieferte Verfasserschaft Mose’s bei einem Buche wegzuleugnen, das sich als Werk Mose’s ankündigt? Darauf müssen wir entgegnen, daß die ungeschminkte Erkenntniß, die uns Gewißheit und Ueberzeugung bietet, die freie wissenschaftliche Forschung, welche uns Wahrheit verschafft, nicht vermessen und leichtfertig genannt werden kann. Die Wahrheit hat das Recht, das Dämmerlicht kindlicher Träume durch Sonnenhelle zu verscheuchen. Es ist ein längst anerkanntes Ergebniß der Wissenschaft, daß gerade die alte Schriftstellerei auf religiösem Gebiete der Pseudonymität am meisten gehuldigt hat, daß, um den Büchern höheres Ansehen zu verschaffen, hochtönende angesehene Namen zu Verfassern von Büchern gestempelt und die wirklichen Autoren verschwiegen worden sind. Die Pseudonymität ist der Grundzug religiöser Schriftstellerei, und in der theologischen Welt ist diese Erkenntniß eine fertige und unbestrittene. Ein Gleiches ist mit den fünf Büchern Mose’s der Fall. Aus dem Inhalte und aus der ganzen Natur dieser Schriften, aus den Angaben von spätern Zeilen und Begebenheiten, aus dem örtlichen Standpunkte des Verfassers, der überzeugend auf Palästina hinweist, wohin Mose nie gekommen, aus den Rückweisungen auf Quellen, die zu Mose’s Zeiten noch gar nicht vorhanden gewesen, haben in unserem Jahrhundert sogar orthodoxe Theologen den Beweis geführt, daß der Verfasser ein halbes Jahrtausend nach Mose in Palästina gelebt haben muß, daß er den Stoff zur Urgeschichte der Menschheit und zur Vorgeschichte Israels aus verschiedenartigen

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