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verschiedene: Die Gartenlaube (1864)

Leitung der Arbeitermassen, die bis zur Erschöpfung angespannt wurden, denn „der Kaiser“ hatte befohlen! Die Artillerieofficiere wurden zur Assistenz der Ingenieure commandirt, und hier in Torgau war es, wo Kunz zum ersten Male in die Sphäre trat, in der seine großen Fähigkeiten bei aller Leistung doch niemals vollkommen zur Ausnutzung gekommen sind.

Mit Anleitung der Arbeiten an der Elbe beauftragt, entwickelte er bald sein Dispositionstalent, seine Gabe, die Leute zu befeuern, Ideen zu benutzen und Individualitäten zu durchschauen. Der rapide Fortschritt seiner Ausführungen, seine Disciplin entgingen seinen Vorgesetzten nicht, und bald sah er sich als Rathgeber seiner ältern Collegen allenthalben in Anspruch genommen und weit über seine Stellung in der Meinung erhoben.

Am häufigsten aber trat, wenn der junge Officier Bettungen legte, Schießscharten einschnitt, Wallgeschütze aufbrachte, Grabenböschungen, Escarpen und Contrescarpen mit Faschinen revetirte und Alles den Leuten nach seinem Commandoworte von den Händen zu fliegen schien, nie eine Anordnung sich widerrief, keine die andere hinderte, ein großer, starker Mann im Civilrocke mit einem Orden darauf, aufmerksam an die wimmelnden und doch so wohlgeordneten Ameisenhaufen bei der Arbeit heran, oft lächelnd und billigend mit dem Kopfe nickend. Bald wurde er mit dem selbst Hand anlegenden kleinen Lieutenant, der im Regen und Schneegestöber der Erste und Letzte bei der Arbeit war, bekannt, und der Umgang des älteren Mannes, welches der sächs. Wasserbaudirector Wagner war, fesselte den Müden oft an einem Ecktischchen bei Petacca im lehrreichen Gespräch, während die Cameraden an der Tafel lustig die Würfel springen ließen. Kunz trat im Jahre 1811 zu Torgau zum ersten Male in’s Leben der Gesellschaft, das dem Unterofficiere verschlossen geblieben war. Der Krieg stand in Aussicht, die körperliche Zucht fiel an Werth! In hohem Maße charakteristisch für die fast schroffe Keuschheit von Kunz’s Individualität war, daß er zwar dem Spiel erlag und sein kleines Hab und Gut und viel darüber verlor, immer jedoch sich mit Ekel von Orgien wandte, bei denen das Weib, das er mit einer, seinem Wesen seltsam anstehenden Schwärmerei feierte, in den Schlamm der Gemeinheit sank. Später, mit einer religiös gepflegten Neigung im Herzen, reihte er all sein kräftiges Denken und Fühlen wie Edelsteine um das geliebte Bild, das ihn gleich einem Amulette auch später bei den Versuchungen in Frankreich vor jeder Wüstheit schützte. Torgau wurde in jeder Beziehung bedeutungsvoll für sein späteres Leben.

Als Trainführer bei der Batterie des Hauptmann Essenius finden wir ihn, immer noch jüngster Lieutenant, auf dem Marsche nach der pommerschen Ostseeküste, wo eine Abtheilung der sächs. Armee mit ein paar Tausend französischer Mariniers, Douaniers etc. die zweite Abtheilung des Armeecorps Augereau’s, Herzog von Castiglione, bilden sollte, an der Tafel dieses geistvollen Feldherrn in Berlin. Heiter, aber zum Entsetzen und schämigen Erröthen der adligen deutschen Officiere, erzählte dieser, wie er als armer Sohn eines Maurergesellen und einer Hökerin, vor der franz. Revolution im sächsischen Regimente Prinz Max, als gemeiner Grenadier mit dem nachmaligen Bischofe Mauermann als Nebenmann, gestanden habe. General Morand, ein roher aber kluger Haudegen, commandirte in Stralsund und Rügen. Ein gewaltiger Sturm wirft eine Flotille von vierzehn feindlichen Kauffahrern an den Strand bei Jasmund. Kunz zeichnet sich beim Bergen der reichen Beute und der Mannschaft aus, von Morand bemerkt, der ihm sein „tüchtig Theil“ an ersterer selbst verspricht. Der gewaltige Erlös der russischen Waaren ward vierzehn Tage später unter die Franzosen allein vertheilt, und Kunz’s Theil besteht in nichts, als – einem englischen Reitzeuge!

Das berühmte 29. Bulletin von der großen Armee ändert Scenerie und Gemüther. Die hochfahrenden, brüsken Franzosen werden geschmeidig, das unwiderstehliche „Vorwärts“ wandelt sich in eiliges „Zurück“. Cassen, Kostbarkeiten und Zugthiere werden zusammengerafft, und vier Wochen lang ununterbrochen wälzt sich das Armeecorps durch die grundlosen Moorwege des Thauwetters und die schneidenden Eiskrusten der Frühlingsfröste, seinen Weg mit Fieberkranken und Erfrierenden bezeichnend, rastlos der Elbe zu. Immer noch commandirt Kunz den Train der Brigade Essenius. Er findet unermüdet allenthalben Pferde für seine Geschütze, seine Karren. Gleichmüthig spannt er, trotz des Zeterschreis der Lakaien, die Paradepferde aus dem Marstalle des Mecklenburger Großherzogs im Gallageschirr neben den todtmüden Ackergaul der Bauern, ohne Unterschied bettet er seine triefenden Leute, die Pistole in der Faust, in die Salons der stolzen Krautjunker wie in den Stall des Leibeigenen. Bald belegen und behängen sich seine Wagen, ja die Geschütze selbst, mit todtmatten Kranken, die um Gotteswillen um ein Plätzchen auf einem Tritte, einer Deichsel bitten.

Kosakenangriffe, unaufhörlicher Regen und Kälte haben das Elend hoch gesteigert, als das Corps die Elbe bei Zollenspieker nahe Hamburg erreicht, sie überschreiten soll und die Fahrzeuge im eistreibenden Strome versenkt findet. Hier ist es Kunz, der die Fahrzeuge im Wasser entdeckt, Mittel zu ihrer Hebung angiebt, einen, die Batterie Essenius anprallenden Kosakenangriff durch einen eigenmächtig abgefeuerten, glücklichen Kanonenschuß und indem er seine Kranken unter Gewehr treten läßt, zurückschlägt. Er ist es, der beim endlichen, unsäglich mühsamen Ueberschiffen der Artillerie so hervorstehende Dienste thut, daß der General Morand, der, einer der Letzten an die letzten Pontons reit und dessen bäumendes Pferd Kunz bändigt, sein Kreuz von der Brust reißt und es ihm reichen will. Da trifft ein Karabinerschuß eines Kosaken das Pferd, das sich überschlägt. Der General ist betäubt, im Tumult geht das Kreuz verloren, das Kunz, zu stolz an Dienste zu erinnern, nie erhalten hat.

Am 1. April 1813 fiel Lüneburg, von Sachsen und Franzosen gehalten, von den Preußen und Russen gestürmt. Hier war es unser junger Lieutenant, der die letzten sächsischen Geschütze am Bremer Thore gegen die in den Straßen quellende Sturmcolonne, trotz des von allen Seiten von fliehenden Cohorten ausgestoßenen Geschreies „Ne tirez plus!“, mit blutendem Herzen, aber entschlossener Hand auf die Kinder seines Vaterlandes losbrannte. Im Augenblicke, wo er sie mit einem zerbrochenen Ladestocke vernagelt hatte, wurde er von Kosaken gefangen, mit den Pferdesträngen an sein Geschütz gebunden. Sie rissen ihm die Epaulettes vom Leibe, Geld und Uhr aus der Tasche. Zwischen Dragonern wurden die sächs. Gefangenen, oft hungernd und Alles entbehrend, durch die wild aufgeregten feindlichen Provinzen getrieben. Die Truppen, die sie auch „Verräther“ schimpften und mißhandelten, hatten oft Mühe, sie vor dem Fanatismus des Pöbels zu schützen, der in Berlin, durch das sie im traurigen Triumphzuge marschiren mußten, seinen Höhepunkt erreichte. Doch still und Schleier über diese Schrecken des Bruderkrieges! Kunz ruft aus: „Unsere Brüder unter den Waffen sind glücklich. Sie haben das schöne Loos, für den König zu bluten, wir können hier nichts thun, als für ihn beten, leiden und – hungern!“

Wahrlich, Kunzen’s Vaterlandsliebe zeigte sich auf dem Prüfstein dieser Leiden echt und fern von jenem „patriotisme d’antichambre“, der wie ein Hund zwischen Treppe und Boudoir im Fürstenpalaste oder im Vorzimmer der Minister liegt. Alle Aufforderungen, preußische Dienste zu nehmen, wies Carl Theodor entschieden zurück. Diese Gefangenen waren nach Rußland zu transportiren!

Zweitausend Werste Steppenreise, Elend, Sibirien – sie wußten es nicht, ob sie dem nicht entgegengingen, als sie jenseits Königsberg über die russische Grenze getrieben, auf livländischen Dörfern einquartiert wurden. Die Russen waren ohne Bitterkeit gegen den unbekannten kleinen Feind, und als die Stunde der Auswechselung im September 1814 schlug, da hatte der junge Officier eine große Rundreise auf heitern, prächtigen Landsitzen in Mitaus Umgegend zu machen, von denen er mit Schmerzen schied.

Die Heimath hatte deren kaum weniger für ihn, als die Gefangenschaft. Der Drang die Welt zu sehen ließ ihn die Theilnahme am Feldzuge in Frankreich suchen. Wer den ernsten, scharfkrystallisirten Erbauer der ersten großen deutschen Eisenbahn gekannt, liest nicht ohne tiefe Rührung die Niederschriften aus den Jahren 1816–1818, in denen eine treue, hohe Neigung zu einem edeln Mädchen die Schwärmereien in den alten Schlössern am Rhein, die Tugendkämpfe in dem lockern Frankreich, die Klagen um ein verfehltes Dasein, unbefriedigten Wissenstrieb und über das Sclavenjoch der Folgen des Leichtsinns verklärt, ja ihm sogar die hohe Kraft verleiht, der Gefahr des Erblindens, die ihm in Folge einer Pulververbrennung droht, ohne Verzweiflung in’s Auge zu sehen. Wer von uns sächsischen Eisenbahntechnikern vermag sich den strengen „Vater Kunz“, mit der Guitarre am blauen Bande, durch die Vogesenthäler streifend, hier Orgel spielend, dort Verse in ein Fenster ritzend, zu denken?! Citate aus allen guten Schriftstellern zeigen seine Belesenheit, die Wahl seiner Lieblinge seinen Geschmack!

(Schluß folgt.)
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verschiedene: Die Gartenlaube (1864). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1864, Seite 522. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1864)_522.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)