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verschiedene: Die Gartenlaube (1864)

Rendezvous für den späteren Abend von ihr erhalten, wohl wenn der Mann gefangen, die Frau todt ist, ah, zum Teufel, vielleicht während die arme Frau, nachdem die Gensdarmen den Mann ihr aus den Armen gerissen, im Todeskampfe liegt – Doctor, ich zittere vor Wuth bei dem Gedanken. Und – und – Doctor, wenn Weiber verblendet sind! – Aber wie könnte er bis zu ihr kommen? Alle Zugänge zu dem Schlosse sind besetzt, vielleicht in einem Umkreise von einer Meile; ich kenne diese französischen Gensdarmen und Spione. Man sieht keinen einzigen von ihnen. Auch Sie, Doctor, haben keinen gesehen, und sind in den fünf Minuten vom Schlosse bis hier vielleicht schon an fünfen vorbeigekommen. Die Burschen liegen im sichersten Versteck. So wie der Rechte kommt, dann sind sie da, wie der Dieb in der Nacht, wie der Blitz aus heiterem Himmel. Da sollte ich ihn hierher, den Menschen in die Hände, den Bluthunden in die Fänge führen? – Aber, Doctor, wenn es denn einmal so ist, wenn in diesem Schlosse denn einmal der Verrath, die Untreue, die Gemeinheit, der Wahnsinn herrschen sollen, dann mögen sie ganz darin herrschen, mit ihrer ganzen Gewalt, mit ihrer Gewalt der Vernichtung; dann mag auch Alles darin zu Grunde gehen. Aus den Ruinen wird dann kein neues Leben mehr erblühen. – Der Freiherr soll seine Frau wiedersehen, Doctor, damit sie in Ruhe sterben und damit er – sich, damit sie ihn todtschießen können. Um welche Zeit soll er da sein, Doctor?“

„Haben Sie ihn in der Nähe?“ fragte der Doctor.

„So ziemlich.“

„Kann er um neun Uhr heute Abend da sein?“

„Es ist jetzt halb acht. Ich denke.“

„Gut. Er muß kommen, Hauptmann. Es geht nicht anders. Und Sie werden ihn sicher hin- und zurückbringen. Ich werde um halb neun wieder im Schlosse sein. Ich bin auf dem Wege zu einer armen Wöchnerin, die meiner Hülfe bedarf. Auf Wiedersehen, Hauptmann.“

„Gott sei mit Ihnen bei der armen Frau, Doctor. Sie sind ein braver Mensch; Sie vergessen die Armuth nicht über den Reichthum.“

Der Mönch hörte den Doctor weiter sprengen. Den Lumpensammler hörte er in die Tiefe des Waldes zurückgehen, in einer anderen Richtung, als die der Doctor eingeschlagen hatte.

Der Mönch hatte sich erhoben. Er setzte seinen Weg nach dem Schlosse fort. Er ging langsam, in tiefen Betrachtungen. Die Augen wurden ihm nicht wieder feucht; aber wie schwer ihm das Herz war, sah man dem langsamen Gange, der gedrückten Haltung, dem tief, fast ängstlich bekümmerten blassen Gesichte des alten Mannes an.

Auch der letzte Schimmer der Abendröthe war im Verschwinden, als er das Ende der Pappelallee erreichte. Er stand vor einem hohen, breiten, offenen Thore von Stein; durch das Thor blickte er in einen weiten Hof, der rund umher von Gebäuden umgeben war. Er trat in den Hof. In dem ersten Zwiedunkel des beginnenden Abends konnte er seine Umgebung noch unterscheiden. Der Hof war ein längliches, unregelmäßiges Viereck. Er hatte seine Gestalt durch die Gebäude empfangen, die um ihn herum gebaut waren; die Gebäude waren hingebaut, ganz wie Zufall oder Laune der Besitzer des Schlosses seit manchem Jahrhundert es eingegeben hatten. Das älteste und zugleich größte von ihnen war das Schloß selbst. Es lag an der rechten Seite des Hofes und war ein weitläufiges, hohes, unregelmäßiges, graues Gebäude, mit einem hohen, spitzigen Dache, mit runden und viereckigen Thürmen. So ragte es über alle die anderen Gebäude ringsum hoch empor.

Der Mönch sah keinen Menschen in dem weiten Hofe; er vernahm kein Geräusch in den sämmtlichen Gebäuden umher. Es war eine eigenthümliche Stille, in der er sich befand. Dazu das Zwielicht des Abends. Der Mönch stand zweifelhaft, wohin er sich wenden solle, um seine Ankunft anzukündigen und um Anweisung seines Quartiers zu bitten.

Hinten in dem Hofe sah er einen Menschen sich bewegen. Es war an der rechten Seite, an der das Schloß lag. Zu Ende des Schlosses und des Platzes trat dort ein dicker, runder Thurm hervor. Man konnte in der Entfernung und in dem Halbdunkel nicht unterscheiden, ob er frei oder noch mit dem Schlosse in Verbindung stand. An dem Thurme war die menschliche Gestalt erschienen, die der Mönch sah und die er ebenfalls nicht näher unterscheiden konnte. Er ging auf den Menschen zu, um weitere Nachricht von ihm zu erhalten. Als er ihm näher kam, glaubte er einen alten, gebückten Mann zu erkennen, der aber, wie gekrümmt der Rücken sein mochte, noch immer eine hohe Gestalt war. Der Mönch wollte ihn näher betrachten.

„Fass’, Hannibal!“ rief plötzlich mit einer rauhen Stimme der gebückte alte Mann.

Ein großer Hund sprang an seiner Seite hervor auf den Mönch zu, der seinen Knotenstock faßte. Der Stock war wohl derb und der Mönch war noch kräftig; sein Kampf mit der großen wild anspringenden Bulldogge wäre dennoch ein ungleicher gewesen.

„Zurück, Hannibal!“ sagte ruhig befehlend eine Stimme hinter dem Mönche.

Der Hund kehrte still und gehorsam zu dem alten Manne zurück, welcher schweigend auf seinem Platze an dem runden Thurme geblieben war. Der Mönch aber, als er sich nach dem umsah, der ihn von dem Hunde befreit hatte, stand einem Herrn in den dreißiger Jahren gegenüber.

„Sie sind der Pater, der hier morgen die Messe lesen wird?“ fragte der Herr.

„Der bin ich,“ erwiderte der Mönch.

„Folgen Sie mir.“

Damit wandte sich der Herr. Der Mönch folgte ihm, und beide schritten quer über den Hof zu einem kleinen Gebäude, das dem Schlosse gerade gegenüberlag. Sie traten in das Gebäude, stiegen eine Treppe hinauf und schritten bis an das Ende eines Ganges. Dort öffnete der Herr, der auf dem ganzen Wege kein Wort gesprochen hatte, eine Thür.

„Das ist Ihr Zimmer,“ sagte er jetzt. „Ein Diener wird gleich kommen.“

Er kehrte zurück. Der Mönch sah ihm eine Weile sinnend nach. Er hatte nur einen Augenblick in das Gesicht des Herrn blicken können und hatte vornehme Züge gesehen, aber mit einem stillen, trüben, melancholischen Ausdruck. Der Blick des Auges war ihm besonders eigen vorgekommen. Dem stillen, melancholischen Wesen des Herrn hatte der Ton der Stimme entsprochen, mit der er jene wenigen Worte gesagt.

Der Mönch trat in sein Zimmer. Es war, soviel er in der schon mehr als halben Dunkelheit unterscheiden konnte, ein sehr einfach, aber bequem möblirtes kleines Stübchen. Ein Bett stand darin, dem Bett gegenüber ein kleiner Altar, auf dem Altar ein Crucifix, vor ihm ein Betpult. Das einzige Fenster ging auf den Schloßhof.

Der Mönch warf einen Blick durch das Fenster auf den Hof, auf das hohe alte Schloß, dessen Portal dem Fenster in der geradesten Richtung gegenüberlag. Der Hof war dunkel und leer, wie er gewesen war; kein Mensch war darauf zu sehen. Das Portal war nicht erleuchtet, kein Fenster hell. Der Mönch sah nur wenige Augenblicke hin. Ein Seufzer wollte sich aus seiner Brust hervorringen; er drängte ihn zurück, ging zu dem Altar und kniete auf beiden Knieen vor dem Bilde des Gekreuzigten.

Sein Gebet wurde unterbrochen. Ein Diener trat in das Stübchen mit Licht und mit dem Abendbrode für den Mönch. Es war ein alter Mann mit nur noch wenigen schneeweißen Haaren. Der Mönch schien zusammenzufahren, als er ihn sah. Der alte Diener hatte es nicht wahrgenommen. Als er aber Licht und Speisen auf den Tisch gestellt hatte und nun den Mönch näher ansah, stutzte auch er und zuckte leicht zusammen.

„Sie waren noch nicht hier, Herr Pater?“ fragte er.

Der Mönch war wieder vollkommen ruhig.

„Ich bin der Nachfolger des Pater Ambrosius im Kloster,“ sprach er.

„Ja, ja,“ erwiderte der alte Diener. „Der Pater Ambrosius sagte das letzte Mal, daß er wegkommen werde, und an ihm wäre heute hier die Reihe gewesen.“

Er warf dennoch sonderbar zweifelhafte Blicke auf den Mönch. Er schien ihn etwas fragen zu wollen; er gab es wieder auf. Aber ehe er ging, hatte er noch etwas zu sagen.

„Herr Pater, wenn Sie heute Abend oder morgen früh in’s Freie gehen wollen, der große Hund wird Ihnen nicht wieder im Wege sein.“

(Fortsetzung folgt.)
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verschiedene: Die Gartenlaube (1864). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1864, Seite 548. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1864)_548.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)