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Beamten aber, der es lebhaft bedauerte, durch Amtsgeschäfte am Mitgehen behindert zu sein, wurde für seine Zuvorkommenheit ein warmer Dank ausgesprochen. –

Es lag im Plane, zu Gewinnung eines Vorsprunges von anderthalb Stunden heute noch bis nach dem Schwarenbach, jener einsamen Herberge am Gemmiwege, vorzurücken. Als der Abend und mit ihm eine erfrischende Kühle angebrochen war, setzte man sich fröhlich in Marsch. Gilgian war ein Mann zwischen vierzig und fünfzig Jahren, groß gewachsen, von kräftigem Körperbau und ruhigem Temperament. Er hatte sich zu seinem Begleiter einen jungen Burschen, Namens Jakob – seines Gewerbes ein Zimmermann – auserkoren, der als unerschrockener Berggänger galt.

Die drei Männer schritten bis an das Ende der kleinen Thalebene. Da wo diese durch die steilen Waldhänge abgeschlossen wird, die den Fuß des Gellihorns bilden, öffnet sich zur Rechten in enger Mündung das Alpenthal von Ueschinen; zur Linken aber läßt man die im Felsen- und Tannen-Dickicht versteckte Kluft, aus welcher der junge Gletscherstrom der Kander hervordonnert. Hier beginnt für den Gemmi-Wanderer eine anhaltende Steigung von etwa anderthalb Stunden. In mancherlei Zickzack zieht sich der Weg zuerst durch mächtigen Hochwald, dann über Weidboden und wieder durch Gehölze empor. Tritt man aus dem oberen Gehölze heraus, so geht es durch ein kleines Thälchen fast eben fort. Felsblöcke und Steingerölle verleihen der Gegend einen wilderen Charakter. Aber bald gelangt man auf die Triften der Alp Winteregg, die sich gegen die begraste, zum Theil auch moorige Ebene eines kleinen Thalbeckens niedersenken, in dessen Schooß die Hütten der Walliser Alp Spitalmatte liegen. Dieses Becken wird westwärts durch eine in scharfen Zinnen aufstrebende Mauer von kahlen Felsen begrenzt; ostwärts aber bildet ein steiles, mit dichtem Tannenwald gekröntes Gehänge dessen nächste Einwandung, und über diesem Waldgehänge steigt in seiner ganzen Pracht, die Kanten bis hoch hinauf mit nacktem Felsen bekleidet, das Firndach des Altels empor, während am südlichen Ende ein wildes, nacktes Felshorn das Becken abzuschließen scheint, welches jedoch nur die vorspringende Stufe eines hinter ihm liegenden Schneegipfels ist, der das Große Rinderhorn genannt wird.

Schweigsam stieg die kleine Gesellschaft durch die Hochwälder und Weiden empor, über welche sich allmählich nächtliches Dunkel lagerte. Als sie die Triften der Winteregg betrat und sich ihr plötzlich die nahe Riesengestalt des Altels vor Augen stellte, die wie eine Geistererscheinung aus dem im Schatten der Nacht ruhenden Alpenthälchen hervortauchte und deren herrliches Firngewand vom Schimmer des Mondlichts beleuchtet war, – da durchströmten Gefühle eigener Art – bange Erwartung und freudige Hoffnung – die Brust unseres Reisenden.

Und als die Gesellschaft Angesichts dieses wunderschönen Nachtgemäldes durch das ebene Thälchen der Spitalmatte wanderte, da schien es auch dem sonst zungenfertigen Jakob wieder behaglich zu werden. Er räusperte sich und fing an, seine Reisegefährten mit der Erzählung von Gebirgsagen und Geschichten, wie die Tradition sie in seiner Gegend von Vater auf Sohn fortgepflanzt haben mochte, zu unterhalten.

„Ihr wißt,“ so begann er, „wie viele Unglücksfälle sich schon drüben im Westen auf dem Rawyl, jenem berüchtigten Passe, der von der Lenk im Berner Simmenthale nach Sitten im Wallis hinab führt, zugetragen haben. Dort, in jenen hohen und rauhen Bergen hat sich auch begeben, was ich jetzt erzählen will. Zwei Männer, alle beide ‚grausame‘ Jäger, der eine ein Walliser, Namens Berno, der andere aus dem bernischen Dorfe Lenk, nährten einen tiefgewurzelten Haß gegen einander. Dieser Haß entsprang aus Eifersucht, weil jeder von ihnen der bessere Schütze zu sein sich rühmte. Jeder wollte die größere Zahl von Gemsen erlegt haben. Die Eifersucht und der Hochmuth des Wallisers hatten einen solchen Grad erreicht, daß er die Drohung verlauten ließ, wenn er dem Lenker einmal auf Walliser Boden begegne, so solle es dem Burschen an sein Leben gehen. Einst war der Lenker auf die Gemsjagd gegangen. Die unwirthbaren Höhen des Rawyl waren sein Jagdrevier. Die Fährte eines Gemsthiers lockte ihn in die Gegend, welche man ,beim Gletscherli’ nennt, und in seinem Eifer kam er auf Wallisgebiet, das dort an das Bernische grenzt. Indem er scharf nach der Gemse umherspähte, gewahrte er plötzlich in der Ferne einen ebenfalls auf Gewild lauernden Jäger, der im nämlichen Augenblicke auch seiner ansichtig ward. Rasch langte jeder nach seinem Fernrohr, und es bedurfte eines flüchtigen Blickes, so erkannten sie sich. Es war Berno – außer dem Lenker das einzige menschliche Wesen in der schauerlichen Einöde! Eingedenk seiner Worte, schlug Berno kaltblütig seine Büchse gegen seinen Gegner an und schrit in dieser Stellung näher. Ungewiss, ob Berno wirklich die Absicht habe, einen Mord zu vollführen, machte sich der Lenker gleichfalls schußfertig, aber bedenkend, daß er sich durch eine voreilige Thal zum Verbrecher stempeln könnte oder bei einem Fehlschuß der sicheren Rache seines Gegners verfallen wäre, sann er auf eine List und führte sie glücklich aus. Er barg sich hinter einem Stein, und als Berno sich näherte, so richtete er vermittelst seines Stockes langsam seinen Hut in die Höhe. Und so wie der Hut über den Rand des Steines hervorragt, paff! da fällt ein Schuß, und von Berno’s Kugel mitten durchbohrt ist der Hut des Lenkers! Dieser aber springt hervor und steht drohend mit angeschlagenem Gewehr vor seinem Gegner, bevor derselbe Zeit hat, seine Waffe auf’s Neue zu laden. Berno ist vernichtet; er bekennt reuevoll seine Schuld und bittet kniefällig um Gnade und Freundschaft. Beides wird ihm von dem wackeren Lenker gewährt, und von dieser Zeit an waren sie unzertrennliche Freunde und Jagdgenossen.“

So gelangten die drei Wanderer fast unvermerkt an das Ende der kleinen Thalebene. Dicht vor ihnen waren hier die schwarzen Wände des Kleinen Rinderhorns himmelhoch emporgerichtet. Der Weg zog sich zur Seite desselben aufwärts und durchschnitt ein Meer von wild durcheinandergehäuften Trümmern einstiger Bergstürze, die diese Gegend verwüstet haben und ihr noch jetzt das Bild der schauerlichsten Zerstörung aufprägen. Eine Todtenstille lagerte über diesen unheimlichen Gefilden, und die Gesellschaft schätzte sich glücklich, als sie endlich in der dunkeln Masse, die etwas vereinzelt vor ihr auftauchte, die willkommene Herberge im Schwarenbach erkannte und daselbst zuvorkommende Aufnahme fand – dasselbe friedliche Haus, das einst Zacharias Werner, tollen Andenkens, zum Schauplatze seines wilden Schauerspiels „der 24. Februar“ gewählt hat.

Nachdem die unerwarteten Gäste von dem sorglichen Wirth auf’s Beste bedient und eingehaus’t waren, wurde es in der einsamen Herberge wiederum still. Jeder hatte sein Schlafgemach bezogen, und so wie der Schlummer seine besänftigende Ruhe über die etwas aufgeregten Gemüther ergoß, so hatte sich draußen die Natur in das Schweigen einer wunderschönen Nacht versenkt, die mit ihrem Dunkel auch ihre Schrecken bedeckte, da wo nicht das Mondlicht seine silbernen Strahlen zwischen den schwarzen Berggestalten hindurchschimmern ließ. Ueber den Gefilden der Zerstörung wandelten die Sterne ihre ewig gleiche Bahn, und einen magischen Effect bewirkten die taghell beleuchteten schneeweißen Felsenzinnen und die flimmernden Firne, die aus dem Chaos der Tiefe in erhabenem Ernst hervortauchten und das Sternengewölbe zu tragen schienen. Jene wandelnden, hellfunkelnden Gestirne aber erschienen gleichsam wie die Augen Gottes, der über seine schlafenden Erdenkinder und über seine ruhende Schöpfung wacht. –




Noch war die Nacht nicht vorbei. Noch funkelten die Sterne am Himmel, nur der Mond war hinter den Bergen herabgeflogen, und ein frischer Morgenhauch machte sich fühlbar, als unsere drei Männer geräuschlos aus dem Berghause im Schwarenbach traten und ihre Schritte gegen den nahen Eiscoloß des Altels hin richteten. Ihre äußere Ausrüstung, die eisenbeschlagenen, oben mit eiserner Hacke versehenen Bergstöcke, der Sack mit Lebensmitteln, die kleine Axt, das aufgewundene Seil auf dem Rücken des einen, das volle Weinfäßchen und die Zeichnungsmappe, womit der andere der beiden Vorauswandernden beladen war, das Alles verrieth hinlänglich, daß es auf einen außergewöhnlichen Gang in’s Gebirge abgesehen war. Innerlich jubelnd, äußerlich das ernste Schweigen theilend, das seine Vorgänger beobachteten, schritt der städtisch gekleidete der Reisenden denselben so rasch, wie es die Dunkelheit des Weges erlaubte, nach.

Eine halbe Stunde lang mußten die Wanderer auf dem schon gemachten Wege zurückgehen und nach der Thalebene der Spitalmatten hinuntersteigen, um sich dem Fuß des in Angriff zu nehmenden Berges zu nähern. Mittlerweile waren die Sterne erbleicht und das Grauen des Tages umschwebte die fahlen, farblosen Gestalten des Gebirges.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1864). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1864, Seite 583. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1864)_583.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)