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verschiedene: Die Gartenlaube (1864)

vorführen will, nachdem er selbst vor wenigen Wochen zu den Todten gegangen ist.

Ja, vor wenigen Wochen habe ich meinen geliebten Vater zu Grabe geleitet. Und nicht blos den Vater habe ich hinabsenken sehen in die Gruft: auch den Erzieher, den Lehrer und Rathgeber, den Freund, den Mann, welcher das Samenkorn mir in das Herz gelegt hat, das später aufgegangen, welcher vor und mit mir nach demselben Ziele gestrebt, den Priester, dessen Worten ich in der Jugendzeit ehrfurchtsvoll nachgelebt, mit dem ich als Mann so oft verschiedene Meinungen und Ansichten ausgetauscht und mit dem ich mich immer verständigt!

Sein Lebensbild habe ich mir gerade rücksichtlich des Leserkreises der Gartenlaube nicht nehmen lassen wollen. Von den vielen Freunden des Heimgegangenen an dieser Stelle haben sich mehrere erboten, anstatt meiner von dem Altmeister der deutschen Vogelkundigen zu reden; ich aber habe meinen Freund Keil gebeten, mir die wehmüthige Freude zu gönnen, von ihm Denen zu erzählen, welche mit ihm und mit mir bekannt geworden sind, so wenig ich auch verkenne, daß die Liebe des Sohnes zum Vater wohl befangen machen kann. Ich fürchte jedoch nicht, befangen zu werden; denn ich will weniger von dem Vater, als von dem Priester reden, welcher der Vater war, von dem Priester in doppelter Hinsicht: innerhalb seiner Gemeinde und draußen in der Natur, die er verehrte und liebte, in der er lebte und von der er lehrte, wie Keiner besser.

Ueber das, was man „den Lebenslauf“ eines Menschen nennt, habe ich, wenn ich nicht in die Einzelnheiten des Entwickelungsganges meines Vaters eingehen will, wenig zu sagen. Er, Christian Ludwig Brehm, war am 21. Januar 1784 zu Schönau vor dem Walde, einem thüringischen Dorfe unweit Gotha, geboren. Seine erste geistige Regung verrieth die ihm angeborene Liebe zu den Vögeln, zum Walde, zur Natur. Man möchte sagen, daß der ornithologische Sammeleifer bei ihm von Kindesbeinen an begonnen, denn als vierjähriger Knabe schon trug er alle Vogelfedern zusammen, die er finden konnte, im elften Jahre lernte er das Ausstopfen der Vögel, und von da begründete er eine Sammlung, die auch während seines Aufenthaltes auf der Gelehrtenschule in Gotha wuchs und, als der Jüngling die Universität Jena beziehen sollte, auf 230 Stück angewachsen war, aus deren Verkauf ein Sümmchen gelöst wurde, das die Sorgen des nur an Kindern reichen Großvaters für meinen Vater wenn auch nicht aufhob, so doch milderte. Im Jahre 1810 wurde der Vater Candidat des Predigtamtes, 1812 Pfarrer in Drakendorf bei Jena und am 1. Juni 1813 zog er als Pfarrer nach Renthendorf im Neustädter Kreise des Großherzogthums Sachsen-Weimar, wo er bis an sein Lebensende blieb; also über fünfzig Jahre wirkte und im Sommer 1864 starb.

Es ließe sich Vieles sagen über meines Vaters Wirksamkeit gerade als Geistlicher, wenn wir hier nicht vorzugsweise den Naturforscher hervorzuheben hätten. Das Eine darf hier jedoch nicht unerwähnt bleiben, daß „der alte Pastor Brehm“ weit über sein Kirchspiel hinaus ein geliebter und verehrter Mann war sowohl als Prediger, wie als stets bereiter Helfer in allen Verlegenheiten und Nöthen. „Geh’ zum Renthendorfer, – der hilft, wenn es möglich ist“ – war fast sprüchwörtlich in der ganzen Umgegend. Man wußte: der Mann scheute keine Mühe und keinen Schritt bis zu den Stufen der Gekrönten, wenn ein Bedrängter dessen würdig war. Und wie treu sein Herz im Volke lebt, so stand doch sein Geist über dessen Schwächen, wie er auch tapfer den Schwächen gewisser Glaubensrichtungen der Zeit widerstand. „Ich warte, bis die Modekrankheit vorüber sein wird“ – tröstete er einen vor der Kopfhängerei besorgten Amtsbruder. Und wer das gerechteste Urtheil über des Vaters Predigergabe hören will, dem giebt es ein Bauer aus einem Nachbardorf seines Kirchspiels, welcher äußerte: „der Renthendörf’sche saet in finf Minuten märre, as en Annerer in ehner Stunne.“ Wenn ich dazu bemerke, daß der Vater fast zwei Generationen seiner Beichtkinder getauft, copulirt und zum Theil wieder zu Grabe geleitet hatte, so wird man ein Bild von der Patriarchenwürde haben, mit welcher er in seinen Gemeinden waltete, wie er Jedermann Du nannte, weil er Alle als Kinder gekannt, wie selbst die ältesten Männer es als eine Ehre sich erbaten, von ihm Du genannt zu werden, und welche Liebe und aufrichtige Thränen den Sarg begleiteten, der „den alten Pastor Brehm“ barg.

Gewiß, er war ein treuer Priester der Kirche, aber mehr noch ehren wir in ihm einen hohen Priester der Natur. Den „alten Pastor Brehm“ hat nur die Umgegend seines Wohnortes kennen gelernt, den „alten Brehm“ die Welt. In Spanien, wie in Norwegen sprangen uns, meinem Bruder und mir, die Pforten der Tempel einer herrlichen Wissenschaft auf, wenn wir den Namen nannten, welchen der Vater sich erwarb. Der einfache thüringische Landgeistliche war nicht blos einer der Altmeister deutscher Wissenschaft, sondern auch Einer von Denen, welche das Feld urbar machen halfen, auf welchem jetzt Andere Früchte ernten. Naumann, Thienemann, Gloger[WS 1] und Brehm, diese Vier sind es, welche nach Bechstein als die eigentlichen Begründer der Kunde unserer Vogelwelt angesehen werden müssen. Der Vater war einer der Ersten, welche das Feld bebaueten, und hat seinen Platz am längsten behauptet. Es ist ein kleiner Zweig des Baumes, Naturwissenschaft genannt, welchen die Vier gepflegt haben; aber auch dieser Zweig hat dazu beigetragen, die Blüthe des ganzen Baumes zu zeigen. Dem Vater gebührt wenigstens ein Theil des Verdienstes, die Wissenschaft, welcher er sein Leben widmete, zu der ihr gebührenden Geltung gebracht zu haben. In Hinsicht auf die Mittel, welche ihm zu Gebote standen, hat er Großes geleistet: er hat eben schaffen helfen. Es fehlte ihm die Gelegenheit, sich mit dem einschläglichen Schriftthum so vertraut zu machen, wie er oft, sehr oft gewünscht hat; deshalb wandte er sich unmittelbar an die Natur selber, – und sie hat ihn denn auch nie verlassen. Er hat sich deshalb seinen Meisterruhm bewahrt bis zu seinem Tode.

Als der Vater nach Renthendorf kam, waren die Wälder der Umgegend Urwaldungen zu vergleichen. Das Schrotgewehr, welches er meisterhaft zu handhaben verstand, reichte oft nicht bis zu den Wipfeln der Bäume hinauf. In diesen Wäldern hat er Jahre seines Lebens verlebt. Der „Herr Pastor aus Renthendorf“ war allen Grünröcken der Umgegend eine befreundete Persönlichkeit. Man hegte damals andere Ansichten von der geistlichen Würde, als jetzt: kein Mensch nahm es dem Pfarrer übel, daß er mit dem Gewehr über der Schulter durch die Wälder zog, zumal da man wußte, daß solche Waldgänge weniger der Jagd, als der Wissenschaft galten. Im Kreise der Geistlichen wußte er sich seine Würde zu wahren – im Walde war er ein Waidmann, welchen die Grünröcke als einen der Ihrigen anerkannten, obgleich er an den eigentlichen Jagden nicht theil nahm. Auch die forstamtlichen Behörden kamen ihm freundlich entgegen: in den Thüringer Landen hat kein Privatmann je ein größeres Revier beschossen, als der Vater. Er jagte, wo er wollte, und war in jedem Forsthause der Umgegend eines freundlichen Willkommens im Voraus gewiß. Mit dem Morgengrauen zog der jagende Naturforscher aus, und gar nicht selten kehrte er erst Abends wieder. Aber die Jagd war immer nur eine nebensächliche Beschäftigung meines Vaters: Beobachtung, Belauschung, Erforschung des Lebens seiner Jagdthiere blieb unter allen Umständen die Hauptsache. Er verfolgte den Vogel im Walde durch alle Abschnitte seines Lebens, wie er ihn später, mit Hülfe der Freunde, durch alle Strecken seines Verbreitungskreises verfolgte. Als er die genügende Kunde der deutschen Landvögel erlangt zu haben vermeinte, sandte er seinen Schüler Schilling nach den Gestaden der Ostsee, um dort an seiner Statt das Leben der Meeresvögel zu erforschen, und später ließ er mich hinausziehen nach Süden und Norden hin, ein volles Sechstheil der Erde durchstreifen, damit ihm auch aus ferneren Landen Kunde werde über das Treiben seiner Lieblinge. Man verstehe mich recht, wenn ich sage: „Er ließ mich ziehen“ – denn er hat mich nicht aufgefordert zum Reisen, sondern mir nur seine Genehmigung dazu ertheilt und seine väterlich warmen, frommen Wünsche auf die Reise mitgegeben.

In den Jahren 1820 bis 1822 erschien sein erstes Werk, „Beiträge zur Vögelkunde“. Ich habe es gerade vor mir liegen, nachdem es mir gelungen, dasselbe auf antiquarischem Wege zu erlangen; denn vergriffen ist es schon seit Jahren. Das Buch, welches auch Schilling’s Beobachtungen enthält, beweist, daß der Vater nicht umsonst die Wälder durchstreift. Es ist heute noch als mustergültig anzusehen. Naumann, der berühmteste deutsche Vogelkundige (Ornithologe), der 1857 in Köthen gestorben ist, hat in seiner zwölfbändigen „Naturgeschichte der Vögel Deutschlands“ viele, viele Seiten aus ihm fast wörtlich wiedergegeben, und viele Forscher unserer Tage nehmen, wenn sie es lesen, zu ihrem Erstaunen wahr, daß dieses Buch zum

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Glocher
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1864). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1864, Seite 662. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1864)_662.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)