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verschiedene: Die Gartenlaube (1864)

In den ersten Tagen des Monat Mai 1816 wurde Ludwig der Siebenzehnte der Herzogin von Angoulême, seiner Schwester, im Beisein des Herzogs von Berry, des zukünftigen Thronfolgers, im Parke von Versailles vorgestellt.

Der Graf von Pons, damaliger Page des Grafen von Artois (des späteren Carl des Zehnten), befand sich mit drei anderen Pagen, den Herren von Curial, von Mentbrun und Baron d’Arjuson, in einer Seitenallee des Parkes, und einer von ihm unterzeichneten Declaration entnehmen wir, daß er folgende Worte deutlich gehört:

Die Herzogin: „Gehen Sie, gehen Sie, Sie sind schuld an allem Unglück unserer Familie.“

Der Unbekannte, die Hände ringend: „Ach, meine Schwester, meine Schwester!“

Eine andere von einem an demselben Tage in Trianon Wacht habenden Officiere abgegebene Erklärung berichtet, daß er die Herzogin und den Herzog von Angoulême im eifrigen Gespräche mit dem Herzoge von Berry begriffen gesehen und folgende Worte gehört hätte:

Der Herzog von Berry: „Aber ich bitte Sie, es ist Ihr Bruder.“

Die Herzogin: „Ich, ein Ungeheuer anerkennen, der das Todesurtheil meiner Mutter unterzeichnet hat?“

Wahrscheinlich dachte die Herzogin an jene himmelschreienden Angaben, die der Dauphin als achtjähriges Kind unter Drohungen und Mißhandlungen Simon’s unterschreiben mußte und die der Königin Marie Antoinette vor dem Gerichte in ungemein brutaler Weise vorgelesen wurden, worauf sie das bekannte „Ich appellire an alle Mütter!“ antwortete.

Jetzt begriff der Dauphin, daß Alles für ihn verloren war, daß er unmöglich gegen seine ganze Familie kämpfen konnte. Eine momentane Entmuthigung bemächtigte sich seiner; er, welcher so lange Jahre hindurch ein freies, unabhängiges Leben geführt hatte, fing an, sich zu fragen, ob ein königlicher Rang, ein Thron selbst das Opfer aller seiner Neigungen werth sei.

Von Neuem verließ er Frankreich, von seinem väterlichen Freunde, dem Prinzen von Condé, mit Allem reich ausgestattet, und nahm seine Residenz in Edinburg. Von hier aus sandte er am 1. Juni 1816 einen Protest an die europäischen Cabinete, in der er seine Rechte beanspruchte und feierlich gegen die Verträge von 1814 und 1815, die Frankreich zerstückelten und demüthigten, protestirte. Nachdem er darauf achtzehn Monate lang Asien und Afrika bereist hatte, wagte er sich wieder nach Europa, aber schon nach einigen Wochen ward er erkannt und auf Ansuchen des französischen Gesandten in Wien den 12. April 1818 in Mantua verhaftet und in das Gefängniß von Mailand abgeführt.

Sieben Jahre, sechs Monate und zwölf Tage verbrachte der unglückliche Prinz in den Kerkern der österreichischen Regierung. Unaufhörlich forderte er Richter, begehrte er wenigstens den Namen des ihm vorgeworfenen Verbrechens zu kennen, sieben Jahre Pein, Leiden, Verzweiflung waren die stumme Antwort auf sein unaufhörliches Fragen. Wer von unseren Lesern kennt nicht das Buch Silvio Pellico’s? Silvio Pellico bewohnte eine Zeit lang im Gefängnisse die Zelle neben der des Prinzen, und man kann nicht ohne inniges Interesse die Unterhaltungen der beiden Unglücklichen im Buche des italienischen Märtyrers lesen. Nach dem Tode Ludwig des Achtzehnten jedoch wurde der Prätendent mit vieler Aufmerksamkeit im Gefängnisse behandelt; mehrere Erzherzöge besuchten ihn daselbst, und am 25. Oetober 1825 im Augenblicke, wo er glaubte, daß er verurtheilt sei, sein Leben hier zu beschließen, öffneten sich die Thore des Gefängnisses und wurde ihm die Freiheit angekündigt. Seine Freilassung wie seine Verhaftung geschah, ohne daß ihm der Grund der einen oder der andern mitgetheilt wurde. Seine persönliche Meinung jedoch war, daß er seine Freilassung einem Briefe verdankte, der trotz der Aufsicht, die ihn umgab, bis zum Kaiser von Rußland gelangte.

Er lebte jetzt einige Jahre in der Schweiz, und am 12. August 1830 sandte er wiederum einen Protest an die europäischen Regierungen gegen die Erhebung Louis Philipp’s auf den Thron von Frankreich.

Der schreckliche Tod des Prinzen von Condé, den man am 27. August 1830 in seinem Schlafzimmer auf dem Schlosse St. Leu erhängt fand, ist bekannt, aber auch noch ein unaufgeklärtes Räthsel. Man kann begreifen, welch einen Verlust der Dauphin, der auf seinen Reisen den Namen Baron von Richemont angenommen hatte, hierdurch erlitt. Eine andere hohe Persönlichkeit suchte jedoch den Verlust zu ersetzen. Es war dies die verwittwete Herzogin von Orleans, die Mutter Louis Philipp’s, welche, wie wir aus den uns vorliegenden Schriftstücken ersehen, dem unglücklichen Prinzen vollständig huldigte, und es ist vielleicht ihrem moralischen Einflusse zuzuschreiben, daß die Polizei den Dauphin einige Jahre ruhig in Paris leben ließ. Kaum jedoch begriff die Juli-Regierung, daß er Beweise genug in Händen hatte, um den Legitimisten durch einen öffentlichen Eclat schädlich zu werden, als sie Alles anwandte, einen solchen Eclat herbeizuführen. Am 29. August 1833 wurde er arretirt und nach fünfzehn Monaten Voruntersuchung unter der Anklage der „Verschwörung gegen die Sicherheit des Staates“ vor das Geschwornengericht des Seinedepartements gestellt.

Dieser Proceß, welcher in den Annalen der französischen Jurisprudenz für immer einen außergewöhnlichen Platz behaupten wird, befindet sich in der Gazette des Tribunaux vom 3., 4. und 5. November 1834 mitgetheilt. Die Staatsanwaltschaft ward durch die große Masse von Zeugnissen fast gezwungen, die Identität des Baron von Richemont mit dem aus dem Temple geretteten Dauphin anzuerkennen, und mußte stumm bleiben, als der Angeklagte ihr die Frage vorwarf: „Wenn ich nicht Ludwig der Siebzehnte bin, wer bin ich dann?“ Der Proceß schlug der legitimistischen Partei in der That eine gefährliche Wunde, und einige Enthüllungen, die er mit sich brachte, ließen das Publicum klar und offen in die Intriguen der verjagten Dynastie schauen. Merkwürdig vor Allem sind die Worte, welche der Präsident des Gerichtshofes beim Schlusse des Processes an die Geschworenen richtete: „Meine Herren, wer ist der Angeklagte, der heute vor Ihnen steht? Was ist sein wahrer Name, seine Herkunft, seine Familie, was sind seine Antecedentien, was sein ganzes Leben? Ist er ein Werkzeug der Feinde Frankreichs, die in unser Land überallhin den Bürgerkrieg zu tragen streben? oder ist er vielmehr nur ein Unglücklicher, der, wie durch ein Wunder, den Schrecken einer blutigen Revolution entronnen ist, der, geächtet und durch seine Geburt selbst mit dem Bann belegt, keinen Namen und keine Zuflucht findet, wo er sein Haupt niederlegen kann?“

Wir überlassen dem Leser den Commentar über solche Worte im Munde des Präsidenten eines Gerichtshofes. Die Geschworenen konnten auf die Frage der Identität des Dauphin nicht eingehen und fanden ihn schuldig der „Verschwörung gegen die Sicherheit des Staates“, in Folge dessen er vom Gerichtshofe zu zwölf Jahren Gefängniß verurtheilt wurde.

Ein in den Annalen der Justiz vielleicht noch nie dagewesener Fall trat jetzt ein. Unter welchem Namen den Angeklagten verurteilen? Ihn unter dem von ihm geforderten zu verurtheilen, hieß ihm diesen Namen und Alles, was damit verbunden war, zuerkennen, und soweit wollte die Juli-Regierung sich doch nicht compromittiren. Die Staatsanwaltschaft fand einen Ausweg, indem das Urtheil alle die Pseudonymen anführte, die der Dauphin auf seinen vielen Reisen geführt.

Der Prinz wurde in das Gefängniß von St. Pelagie geführt, wo er die Chefs der republikanischen Partei, Armand Marrast, G. Cavaignac, Bache etc. als Gefangene fand, die seinem Charakter und seinem Unglücke die nothwendige Achtung nicht versagen konnten und mit denen er Beziehungen anknüpfte, die sich nach langen Jahren noch als freundschaftliche bewiesen. Im Jahre 1835 fand man eines Tages den politischen Theil des Gefängnisses leer – die Gefangenen waren während der Nacht entsprungen.

Der Baron von Richemont zog sich nach der Schweiz zurück. Hier lebte er bis zum Jahre 1840, wo ihm die allgemeine Amnestie erlaubte, wieder nach Frankreich zurückzukehren. Im Jahre 1842 wurde er von Neuem verhaftet, aber nach einigen Tagen wieder freigelassen.

Die Revolution im Jahre 1848 gab seiner Existenz eine neue Wendung. Seine Anhänger zeigten sich jetzt frei und ohne Scheu, sie gründeten ein Journal, dessen Name L’Inflexible war, welches die Aufgabe hatte, die Frage von der Existenz Ludwig des Siebzehnten in der Person des Baron von Richemont der Oeffentlichkeit zu übergeben und das Publicum, dessen unumstößlicher Richterspruch die öffentliche Meinung bildet, als Jury anzuerkennen.

In der kurzen Zeit des Erscheinens dieses Blattes gewann der Baron von Richemont Tausende von Anhängern; verborgene, längst vergessene Thatsachen kamen an’s Licht; Zeugen, an die Niemand mehr dachte (unter Andern der frühere Gesandte eines deutschen

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verschiedene: Die Gartenlaube (1864). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1864, Seite 682. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1864)_682.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)