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verschiedene: Die Gartenlaube (1864)

ein Paar dunkle, blitzende Augen auf mich gerichtet. Ich erschrak und schlug meinen Blick nieder; ich mußte ihn wieder erheben, und begegnete wieder den Blitzen der großen, dunklen Augen. Bald sah ich ein blasses Gesicht; aber es war schön geformt, es trug melancholische und doch so stolze, vornehme Züge. Mit meiner Andacht war es vorbei. Wer war der fremde Mann, der nur nach mir sah, der also nur um meinetwillen da oben war? Und er hatte nur mit Gefahr dahin gelangen können. Mit der Andacht war meine Ruhe dahin, und mit meiner Ruhe bald mein Glück. Er war noch da, als wir das Chor verließen; seine brennenden Blicke verfolgten mich bis zu dem letzten Schritt in der Kirche, und bei dem letzten Schritte hatte ich mich noch nach ihm umsehen müssen. Ich verschwieg, was ich gesehen hatte. Wie hätte ich es mittheilen können?

Am folgenden Morgen war er wieder da. In der Nacht darauf war er an dem Fenster meiner Zelle. Er hatte nur mit Gefahr seines Lebens die Höhe erklettern können. Ich sah im Mondenschein seine hohe, stolze, jugendliche Gestalt, die seinen edlen, stolzen Zügen entsprach. Lassen Sie mich kurz weiter erzählen. Er war auf einer Reise. Der Zufall hatte ihn am Tage meiner Einsegnung hierher geführt. Er hatte mich gesehen, und hatte mich wieder sehen müssen. Er liebte mich und schwor mir seine Liebe. Ich liebte ihn wieder. Ich konnte nicht anders, ich war glücklich und in meinem höchsten Glücke am tiefsten unglücklich. Ich konnte nicht mehr leben unter dem Eide, den ich am Altare geschworen; ich mußte verderben, wenn ich den Eid brach. Ich kämpfte lange, ich kämpfte furchtbar mit mir. Ich brach meinen Eid und entfloh mit dem Manne meines Herzens aus dem Kloster. Er gehörte einer edlen Familie des nördlichen Deutschlands an. Er war reich, unabhängig. Wir begaben uns nach Schottland. Dort ließen wir uns trauen. Ich hatte einen fremden Namen angenommen. Wir gingen auf seine Güter nach Deutschland und waren glücklich. Ich indessen nur wenige Monden. Da kam schon das Bewußtsein des Treubruchs, des Meineids über mich, der inneren, der äußeren Ehrlosigkeit. Ich war vor Gott eine Sünderin, vor den Menschen eine Verbrecherin. Noch kannte die Welt mein Verbrechen nicht. Ich war nicht verfolgt worden, nie hatte ich ein Wort über die Flucht einer Nonne aus einem französischen Kloster an der niederländischen Grenze vernommen. Aber war ich darum vergessen, todt? Wurde ich nicht im Geheimen verfolgt, und desto eifriger und wirksamer? Der Pater Canisius! Der Gedanke an ihn ergriff mich auf einmal, erfüllte mich mit Entsetzen. Ich hatte ihn nie gesehen; aber ich hatte in dem Kloster unter seinem besonderen Schutze gestanden; ich hatte aus Manchem geschlossen, daß ich durch ihn, auf seine Veranlassung, seinen Befehl, dem Kloster übergeben war, daß er überhaupt mein Schicksal bestimme; ich hatte dabei von ihm nur als von einem Manne gehört, der einen hohen geistlichen Rang einnehme, in der Kirche mit einer fast unumschränkten Macht bekleidet sei, vor der Alles sich beugen müsse, die Alles ergreife! Wenn diese Macht mich verfolgte, mich entdeckte! Wenn ich plötzlich in einer Nacht überfallen, aus den Armen meines Gatten, von der Wiege meines Kindes gerissen würde! – ich fühlte mich Mutter. Wenn man mich in das Kloster zurückschleppte, zur ewigen Einmauerung verdammte! In dem Kloster hatte man sich oft solche Geschichten von entflohenen und wiedereingefangenen Nonnen erzählt. Ich hatte keine ruhige Stunde mehr. Mein Leben war vergiftet, vernichtet. Ich warf mich in geräuschvolle Vergnügungen, um mich zu betäuben. Das Erwachen aus der Betäubung war um so fürchterlicher. Ich wollte mich an das unschuldige Kind anklammern, das ich gebären sollte, das ich gebar. Es war ein Kind der Sünde, des Verbrechens. Ich stieß es von mir. Mein Mann siechte; er war schon immer kränklich gewesen. Unter meinen Qualen, die ich ihm nicht verbergen konnte, litt er mit. Er starb. Einige Wochen nachher starb mein Kind. Durfte es am Leben bleiben? Und nun – hatte man absichtlich so lange gezögert? Aus Mitleiden? O, nein! Ich saß an dem Grabe meines Kindes. Da trat ein Unbekannter zu mir, ein Mann, den ich nie gesehen hatte.

,Gnädige Frau, der Pater Canisius in Antwerpen befiehlt Ihnen, binnen heute und vier Wochen vor ihm zu erscheinen.‘

Die Worte sprach er, wie ich ihn kaum hatte ansehen können. Als er sie gesprochen hatte, war er verschwunden. Ich war verfolgt, ich war entdeckt. Wie ich entdeckt war, war ich ergriffen. Wie konnte ich der allmächtigen Macht des Pater Canisius entgehen? Mein Loos? Sie hatten es im Kloster durch jene Erzählungen mir vorhergesagt. Die furchtbarste Angst ergriff mich, verwirrte mir den Geist, brachte mich dem Wahnsinne der Verzweiflung nahe. Ich wußte nicht mehr, was ich that. Ich machte in Eile das Vermögen zu Gelde, das ich von meinem Manne, von meinem Kinde geerbt hatte. Es war nicht unbedeutend. Dann wollte ich fliehen, mich in dem verborgensten Winkel der Erde verbergen. Aber wo fand ich diesen? Wie kam ich dahin? Die Verzweiflung gab mir den unglücklichsten Gedanken ein. Ein Freund meines Gatten hatte mir eine innige, aber ehrerbietige und, wie ich meinte, blos freundschaftliche Zuneigung gezeigt. Er war unvermählt. An ihn schrieb ich, daß ich unglücklich, verfolgt sei, daß ich eines Schutzes bedürfe, daß ich ihn um seinen Schutz bitte. Ich bat ihn, wenn ihm mein Leben lieb sei, an einem bestimmten Tage zu einer bestimmten Stunde in Antwerpen am Landungsplatze des Harlemer Schiffes zu sein. Er hielt sich in Brügge auf. Ich bestellte ihn nach Antwerpen aus einem doppelten Grunde. Kam er, so konnten wir von da mit einem der stündlich abgehenden Schiffe sofort nach irgend einem fernen Welttheile entkommen. Kam er nicht, so stand der Entschluß zu sterben in mir fest, und ich konnte in Antwerpen selbst am sichersten mein Vermögen in die Hände des Pater Canisius bringen, um es für das Heil meiner Seele, zum Besten der Kirche zu verwenden.

Ich kam an dem bestimmten Tage in Antwerpen an. Sie, mein Herr, waren mein Begleiter, hatten sich meiner angenommen. Ich war zu der bestimmten Stunde an dem Landungsplatze der Schiffe. Der Erwartete war nicht da. Mein Leben war mir nichts mehr. Ich ließ Ihnen die Cassette mit den Papieren, die mein Vermögen enthielten, übergeben, um sie dem Pater Canisius zu überbringen. Dann stürzte ich mich in das Wasser. Ich war gerettet. Ich fand mich wieder in einem Wagen, in den Armen des Mannes, den ich erwartet, der durch einen Zufall sich verspätet, der meine Spur, dann mich leblos im Grase am Ufer der Schelde gefunden, mich in seinen Wagen aufgenommen, mich in’s Leben zurückgebracht hatte. Wie, durch wen ich aus dem Wasser errettet war, wußte weder er noch ich. Er brachte mich zum Hafen zurück, zu einem Schiffe, das in der nämlichen Stunde abging. Wir fuhren nach England, wir wollten von da weiter. Aber ich war in die Hände eines Heuchlers, eines elenden Schurken gefallen, der früher seine bösen Absichten gegen mich, da er sich überzeugte, daß er sie nicht erreichen konnte, zu verbergen gewußt hatte. Unglücklicher, als ich war, konnte ich nicht werden. Die Verzweiflung konnte mich zum zweiten Male nicht fassen. So gelangte ich durch das tiefste Unglück zu der Höhe des Glücks, zu dem wahren Glücke. Ich hatte die volle, klare Einsicht meiner Schuld, ich hatte die volle, klare Einsicht in das, was mir Noth that, meine Sünden, mein Vergehen zu büßen; ich war bereit, ich hatte nur noch den einen Willen, mich jeder, auch der schwersten, Buße zu unterwerfen. Ich entfloh jenem Manne und kehrte nach Antwerpen zurück. Mein erster Gang war zum Pater Canisius.

‚Ich wußte, daß Du zurückkommen werdest, meine Tochter. Kein Mensch entgeht seiner Bestimmung. Du wirst fortan auf der Erde glücklich leben und Dir das ewige Heil erwerben.‘

Das waren die Worte, mit denen er mich empfing, ernst, aber mild. Er schrieb einen Zettel, nur wenige Worte. Er übergab ihn mir versiegelt. Ich las die Aufschrift. Er war an die Vorsteherin des Klosters gerichtet, dem ich entflohen war.

,Du wirst in Dein Kloster zurückkehren‘ sagte der Pater.

Ich kehrte am anderen Tage zu dem Kloster zurück. Allein, freiwillig. Ich war drei Jahre fortgewesen. ,Die reuige Schwester Salomea kehrt zurück,‘ warf ich mich vor der würdigen Mutter nieder.

,Die Schwester Salomea ist todt; sie starb schon vor drei Jahren‘, antwortete sie mir.

Ich übergab ihr den Zettel des Pater Canisius. Sie las ihn. Sie hob mich auf und drückte einen Kuß auf meine Stirn.

,Die fromme Schwester Victoria sei mir und ihren neuen Schwestern willkommen.‘

Seit beinahe einem Jahre lebe ich hier. Ich lebe glücklich. Vom Pater Canisius erfuhr ich, wer mich aus dem Wasser errettet hatte, wem ich den Grund zu meinem Glücke verdanke. Ich erfuhr mehr von ihm, daß Sie, mein Erretter, nicht in voller Zufriedenheit mit einem Stande leben, den Sie vielleicht nicht ganz freiwillig gewählt haben. Möge ich den Dank, den ich Ihnen verschulde, dadurch abtragen können, daß mein Beispiel Sie zufrieden

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verschiedene: Die Gartenlaube (1864). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1864, Seite 740. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1864)_740.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)