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verschiedene: Die Gartenlaube (1864)

Mit den Blicken des Triumphes schaute die Kaiserin auf die menschengefüllte Hofkirche nieder, als am 19. April die feierliche Einsegnung stattfand. Erzherzog Ferdinand vertrat die Stelle des Dauphins. Maria Antoinette trug ein Kleid von Silberstoff – sie sagte mit lauter Stimme „Ja“, die Orgel ertönte, die Weihrauchwolken stiegen empor, die Sänger setzten mit voller Stimme ein, und die Kaiserin lag andächtig betend für das Heil der geliebten Tochter auf den Knieen. Welch eine Reihe von Gedankenbildern zieht an dem innern Gesicht Maria Theresia’s vorüber? Eine Angst, ein Zittern ergreift sie. Woher kommen plötzlich diese schwarzen, unheimlichen Gesichte? Ein unentwirrbarer Knäuel von Geschicken und Gefahren aller Art rollt sich vor den Augen der Kaiserin zusammen. O, wer ihr einen Aufschluß gäbe! „Versuchen wir es,“ flüstert sie sich selber zu. Ein Körnlein Gewißheit, ein Tropfen lindernden Balsams für den Schmerz dieser Angst einer mütterlich liebenden Kaiserin! Maria Theresia zittert vor der Stunde der Trennung von ihrem Kinde.

Tiefe Nacht ruht über Wien. Nach dem anstrengenden Feste der kirchlichen Einsegnung ist eine Ruhe eingetreten. Nur die Kaiserin wacht noch. Sie erhebt sich von ihrem Lager, sie schreitet durch das Gemach und öffnet die Thür des Vorzimmers. Leise ruft sie der Kammerfrau, welche sogleich erscheint.

„Ist er da?“ fragt die Kaiserin.

„Schon seit einer Stunde, Majestät,“ lautet die Antwort.

„Laß ihn eintreten.“

Die Kammerfrau verläßt das Gemach und kehrt nach einigen Minuten in Begleitung eines ältlichen, schwarzgekleideten Mannes zurück. Die Kaiserin ist mit dem Fremden allein in dem stillen Gemache. Das Aeußere dieses Mannes war wenig empfehlend. Eine fast skeletartige Magerkeit, eine Hakennase, hoch hinaufgezogene Augenbrauen und große, stechende Augen machten die Erscheinung des Doctor Gaßner zu einer unheimlichen. Wer war der Doctor Gaßner? Einer jener Männer, wie sie um 1770 durch ganz Europa verstreut lebten, ein Cagliostro oder St. Germain en miniature. Gaßner heilte durch Handauflegen, hatte Visionen, Inspirationen und war nebenbei kein ungeschickter Arzt. Seine Beziehungen zur Geisterwelt hatten ihn in Conflicte mit verschiedenen geistlichen Kurfürsten gebracht, bis er am Hofe Maria Theresia’n Schutz fand, denn die Kaiserin liebte das Geheimnißvolle. Sie unterhielt sich oft mit dem wunderlichen Manne – heute wollte sie eine ernsthafte Probe seines höhern Wissens.

„Doctor,“ begann die Kaiserin, „wir haben heut die Einsegnung meiner geliebten Erzherzogin mit dem künftigen Gemahl vollzogen.“

„Ich weiß es, Majestät. Ich war in der Hofkirche.“

„Sie haben dem Gottesdienste beigewohnt?“

„Ja. Meine Augen hafteten an der glänzenden Erscheinung der Dauphine. Ich las und studirte in den Lineamenten ihres Gesichtes, das nie so reizend war, wie am heutigen Tage.“

„Das ist es gerade, Doctor, worauf ich kommen will!“ rief die Kaiserin lebhaft, „ich will von Ihnen Etwas über meine Tochter hören.“

„Sie wissen, Majestät, ich gebe meine Ansichten nicht gern von mir,“ sagte der Doctor mit leichtem Stirnrunzeln.

„Weiß es Gott, Doctor! Ihr seid karg genug mit Euren Schätzen. Aber jetzt – jetzt sagt Eure Ansicht. Was habt Ihr aus dem Gesichte Maria Antonia’s gelesen? Denkt, wie bald ich sie verliere, denkt, daß Ihr einer Mutter nichts vorenthalten dürft. Was haltet Ihr von meiner Tochter Zukunft?“

„Glauben Eure Majestät denn so fest an mein Wissen?“

„Ich glaube daran.“

„Hüten Sie sich dann nur vor Dero aufgeklärtem Sohne, dem gnädigsten Kaiser Joseph. Seine Majestät lieben die Schicksalspropheten nicht und lachen über die Geheimnisse der Geisterwelt.“

„Ja – er ist ein Freigeist,“ seufzte die Kaiserin, „aber eben deswegen, damit mein Sohn, Niemand meines Hofes Etwas erfahre, ließ ich Euch, Doctor, zu mir entbieten in der Stille der Nacht. Heut ergriff es mich in der Kirche wie mit Krallen; ich will von Euch erfahren – wissen, was die Aussichten meiner Tochter sind. O, seid nur ein klein wenig offenherzig, was Ihr sprecht – ich will es hinnehmen.“

Der Doctor versank in tiefes Sinnen. Er blickte auf die Erde, dann nach einer Pause hob er den Kopf und sagte zur Kaiserin: „Fragen Sie mich nicht weiter, gnädigste Frau.“

„Um aller Heiligen willen,“ rief Maria Theresia, „Doctor, so schlimm ist es? Ich bitte – ich befehle Euch, mir zu sagen, was Eures Geistes Augen in der Zukunft Buche lesen.“ Sie hatte den hagern Arm des Sehers ergriffen. Die stechenden Augen Gaßner’s umschleierten sich, seine Gestalt schien in dem Halbdunkel des Zimmers zu wachsen. Sanft machte er die Hand der Kaiserin von seinem Arme los, holte tief Athem und sagte dann langsam, mit dumpfer Stimme: „Majestät, die herrlichen Schultern Maria Antoinette’s sind bestimmt, ein schweres Kreuz zu tragen.“ –

In dem Taumel der Feste wird die Angst erstickt. Wer wird auch an Alles glauben, was die erhitzte Phantasie sich vorgaukelt? Großes Fest im Belvedere zu Wien. Hundert Arbeiter haben den vierhundert Schuh langen Saal hergestellt, den siebentausend Wachsfackeln erleuchten, dessen Façade zehntausend Lampions umsäumen, innerhalb dessen sich sechstausend Masken belustigen. Springbrunnen von Wein, Schüsseln voll Leckerbissen – Alles zu Ehren der französischen Heirath. Am folgenden Tage giebt der Marquis von Durfort ein Fest im Lichtensteinischen Garten, und so geht es weiter und weiter mit ängstlicher Hast, wie um nicht nachsinnen zu müssen über den Tag, der endlich doch herannaht, der schmerzlich erregende Tag, der 26. April, der Tag der Trennung.

Ein feuchter Morgen, eine matte Sonne. Wiederum ist die große Treppe besetzt mit Menschen, mit stillen, traurigen Zeugen eines Abschieds der Tochter von der Mutter, nicht der Kronprinzessin von der Kaiserin. Auf der letzten Windung der Treppe steht die Fürstin, ihre Arme halten das zitternde Kind umschlungen. „Leb wohl, Toni! leb wohl, tausend – tausend Mal leb wohl! führ’ Dich Gott! denk an uns!“ so flüstert die Kaiserin der Tochter in’s Ohr. Nicht lassen wollen die Beiden von einander, immer wieder schließen sich die Arme um den Hals der geliebten Tochter, immer wieder preßt Maria Antoinette ihr Haupt an die Brust der Mutter. „Schreib recht oft, Toni. Ich werd’ Deine Briefe mit Thränen lesen. Ich schreib’ nicht wie die Sevigné, aber ich lieb’ Dich so unendlich; ich weiß, meine Briefe freuen Dich.“

„Mutter! Mutter!“ schluchzte Maria Antoinette. Dann raffte das junge, schöne Mädchen sich empor, „es muß sein!“ rief sie. Noch einen Druck, noch eine Umarmung. Dann jedem der Geschwister, die dem erschütternden Schauspiele von Weitem zusahen, die Hand zum Abschiede reichend, sagte sie zu Kaiser Joseph: „Dich seh’ ich bald.“

„Gewiß,“ antwortete der junge Kaiser, „ich bin der Erste, der Dich heimsucht.“

Schnell stieg sie die Stufen hinab, unten angelangt wendete sie sich noch ein Mal um, zwei Stufen stieg sie wieder hinauf. „Mutter, wir sehen uns nicht wieder!“ schrie sie laut und wankte zurück. Die Pferde stampften, die Dauphine fühlte sich in den Wagen gehoben, Alles weht mit den Tüchern, zahllose Lebewohls hallen der Scheidenden nach, sie streckt die Arme nach ihrer Mutter aus, ein schneidender, furchtbarer Schmerz zieht durch die Seele – hinweg! hinweg! Der Wagen rollt davon. Maria Theresia blieb auf der Treppe lange in sich gekehrt stehen. Ihre Blicke konnten sich nicht von der Stelle trennen, an welcher sie die entschwundene Tochter zuletzt gesehen hatte. Ihre Kinder umringten sie. Wie aus tiefem Traume erwachend fuhr die Kaiserin auf. Sie stützte sich auf Joseph’s Arm. „Gehen wir,“ flüsterte sie leise. Die kaiserliche Familie ging langsam in das Schloß zurück. Unter dem Thorbogen wendete sich Maria Theresia noch ein Mal um, sie suchte die Stelle, wo ihr geliebtes Kind das letzte Lebewohl gerufen. „Auf ewig,“ murmelte sie. Ihre Lippen bewegten sich leise. Die Kaiserin sprach ein Gebet und trat, das heilige Kreuz schlagend, in die Vorhalle der Burg.

Die Menge verlief sich lautlos. Selbst die zurückmarschirenden Garden, welche beim Abschiede der Erzherzogin Spalier gebildet hatten, schulterten ihre Gewehre, ohne daß ein Commando ertönt war; kein Officier unterbrach die Stille durch lauten Zuruf eines militärischen Befehles. Der Wagen der Dauphine rollte mit seinem lieblichen Inhalte weiter. Ein großer Zug treuer, deutscher Landsleute begleitete die scheidende Prinzessin. Antoinette konnte ihren Schmerz nicht bemeistern. Die Oberhofmeisterin, Frau von Paar, suchte vergebens zu trösten.

Noch war Maria Antoinette in Wien! ist keine Umkehr möglich? Nein, das Band, die Kette der Politik hält sie stark und ewig gefesselt. Immer näher rückt die Grenze, das Weichbild der Stadt, schon eilt der Wagen durch die letzten Vorstädte. „Leb

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verschiedene: Die Gartenlaube (1864). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1864, Seite 774. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1864)_774.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)