Seite:Die Gartenlaube (1864) 802.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1864)

hielt ihn von der Züchtigung zurück. Er begnügte sich, das Kerlchen tüchtig zu schütteln, und entließ es dann unsanft zur Erde. „Danke dem Himmel,“ sagte Gustav, „daß Du mir nicht gewachsen bist!“

Der Andere – Nöldeken, der Weber, war es – raffte sich mit wuthverzerrtem Gesicht empor. Er warf einen giftigen Blick auf den schlanken, feingekleideten Jüngling und schüttelte drohend seine Faust. Dann wandte er Flemming den ungestalten Rücken, den Kopf zurückgeworfen und sich in den Hüften wiegend, als schritte er als großmüthiger Sieger davon. Gustav aber ging über den Platz zum rothen Roß zurück. Unabweisbare Sorge um das Schicksal der Geächteten beflügelte seinen Schritt.

Dicht vor dem Gasthof kam ihm der Leichenzug entgegen, der offene Sarg, der leidtragende Gatte in Begleitung des Pastors, die Bürger, die Schüler, das Volk. „Sie sind gerettet!“ sagte sich Gustav und ließ den Zug an sich vorübergehen.

Er konnte seinen Rivalen nicht ohne Stirnrunzeln betrachten. Oldenburg aber blickte weder rechts noch links, sondern hielt die Augen starr auf den Sarg und auf das rosenbekränzte, von der Bewegung zitternde Todtenhaupt gerichtet. „Er ist schön,“ sagte sich Gustav, „aber auch unglücklich!“ setzte er unwillkürlich hinzu.

Bis in die späte Nacht saß er dann in Marowsky’s Weinstube. Schweigsam, in eine Ecke gedrückt, hörte er nur mit halbem Ohr auf die Unterhaltung der übrigen Gäste. Denn sie drehte sich bald nicht mehr um Oldenburg und Elise, sondern um die Arbeitseinstellung der Weber. Als die Leute vom Begräbniß zurückkamen, war an den Tischen kein Platz mehr. In der Stube, wie im Laden, standen dann, dicht gedrängt, Waldkirchner Bürger, Gerichtsbeamte und Pachter aus der Nachbarschaft. Da Alle rauchten, hüllte ein entsetzlicher Qualm die verschiedenen Gruppen ein. Weil Alle redeten, herrschte ein ununterbrochenes Stimmengewirr. Seit den Tagen der Revolution hatte es nicht eine ähnliche Aufregung und soviel Stoff zur Aufregung in Waldkirchen gegeben: … Ein untersetzter, rothbäckiger Mann, Inhaber einer Zuckersiederei, stellte die störrischen Arbeiter als die schlimmsten Verbrecher hin; einige Grauköpfe wollten zwar keineswegs die Letzteren vertheidigen – keineswegs und durchaus nicht! – hatten aber auch gegen den Fabrikanten ihre Bedenken, der im Handumdrehen all’ seine Mitbürger überflügeln und Millionär werden wolle. „Fragen wir die Statistik! die Statistik, meine Herren!“ rief ein Referendar mit schadhaftem Scheitel und spitzer Nase und zog einen Vergleich zwischen den Lohnsätzen in Waldkirchen und Neustadt. Man behauptete, verwarf, erhitzte sich und war schließlich nur darin einstimmig, daß das Beispiel der Weber ein böses Beispiel, Hab und Gut in Gefahr und exemplarische Bestrafung die einzige Rettung wäre. Einer wagte zwar den schüchternen Zweifel, ob nicht doch zwischen dem Arbeitgeber und den Arbeitern ein Vergleich zu Stande kommen möchte, dem aber widersprach ein hastig eintretender Magistratsschreiber mit der Neuigkeit, daß zwischen dem Fabrikanten und seinen Arbeitern stürmische Auftritte stattgefunden hätten und ganz und gar nicht an Aussöhnung zu denken wäre. Diese Nachricht bestätigte ein Dritter, der Jenem auf dem Fuße folgte, und fügte hinzu, die aufständischen Weber durchzögen in hellen Haufen und mit wildem Geschrei die Straßen und Mord und Todtschlag seien zu fürchten, wenn die Fünfunddreißiger aus Neustadt nicht bald kämen.

Diese Kunde trieb die Mehrzahl der Gäste nach Hause. Der Laden wurde geschlosen und in der Weinstube Licht angezündet. Die wenigen Junggesellen, welche noch bei der Flasche saßen, begannen ein politisches Gespräch, das Flemming’s Aufmerksamkeit insofern wieder fesselte, als die Waldkirchner Morgenzeitung und ihr Redacteur mehrmals erwähnt wurden. Die Auslassungen über Oldenburg waren wunderlich, ein Gemisch von Widerwillen und Anerkennung. Neid und Stolz auf ihn. Soviel errieth Gustav zu seinem Aerger, daß Oldenburg zwar nicht beliebt, aber „eine Autorität“ in seiner Vaterstadt sei.

Als eine Pause in der Unterhaltung eintrat, hörte man plötzlich einen Trommelwirbel. Er klang zwar durch den eisernen Fensterladen nur schwach und wie aus großer Entfernung, aber Jeder hatte ihn vernommen, und die Anwesenden sahen sich mit ängstlicher Spannung in’s Gesicht. Wenige Augenblicke später lief draußen Jemand am Laden vorüber – dem Schall der Tritte nach sehr, sehr eilig – und schrie: „Feurio! Feurio!“

„Feuer?!“ Alle sprangen entsetzt empor. Und nun rief langgezogenen Tones auch das Horn vom Thurm, und die eiligen Tritte auf dem Pflaster mehrten sich …

Als Marowsky’s Gäste in’s Freie traten, war der Nachthimmel geröthet; über den Platz durch die Marktstraße liefen mit verworrenem Geschrei die Leute; an den Häusern wurden die erleuchteten Fenster aufgerissen; vom Rathhaus her rasselte die Feuerspritze.

Ein Junge rannte im Vorüberlaufen gegen den Kaufmann an. Dieser hielt ihn am Aermel fest und fragte, wo es brenne. „Um Himmelswillen, lassen Sie mich los,“ bat der Knabe. „Die Fabrik brennt, und der Principal und der Doctor sind dort beim Löschen, und gerade jetzt kommt ein Telegraph!“

„Welcher Doctor? Ein Telegramm?“

„Na, unser Doctor natürlich, und ein Telegraph für unsere Zeitung. Bitte, lassen Sie mich los!“ - - Ein Mann, der von dorther kam, wohin die Leute rannten, blieb bei der Gruppe am Laden stehen und sagte, daß der Brand bald vorüber sein werde. Eine Compagnie der wackern Fünfunddreißiger wäre just beim Ausbruch des Feuers in Waldkirchen eingetroffen und sofort zum Löschen commandirt worden. Uebrigens hätten sie die Straße gesperrt und ließen Niemanden mehr zur Brandstätte.

Trotz dieser Nachricht beschlossen die Gäste aus der Weinstube mit Ausnahme Flemming’s, sich an Ort und Stelle zu begeben. Gustav aber kehrte mit dem Kaufmann, welcher seinen Laden nicht verlassen wollte, in das Stübchen zurück. Selbst dieses Ereigniß gab seinen Gedanken, die sich immer und immer um die Scenen des Nachmittags drehten, keine andere Richtung. Er antwortete dem aufgeregten Marowsky kaum und kauerte, von unsäglicher Traurigkeit abgespannt, vor dem unberührten Glase. Das Feuerhorn war längst verstummt, auch die Unruhe auf der Straße legte sich allmählich; die Stimmen und Tritte auf der Straße kamen zurück und schallten zuletzt nur noch vereinzelt.

Endlich gedachte Gustav der Angst seiner Mutter und raffte sich gewaltsam auf. Als er langsam durch die Reihen der Jahrmarktbuden über den Platz ging, stieß er auf mehrere Gruppen von Männern, die geheimnißvoll unter sich flüsterten. Ihrer Kleidung nach schienen es Arbeiter zu sein. Das Tagesereigniß und der nächtliche Brand erklärten diese Erscheinung. Am Ausgang der Buden, dicht vor einem alten, einstöckigen Hause, der Adler’schen Druckerei, blieb Gustav stehen und schaute zum gestirnten Himmel empor. Da klangen zahlreiche Schritte hinter ihm, und sich umdrehend, sah er eine ansehnliche Truppe jener Männer sich nähern. Ehe er an einen möglichen Angriff und an Flucht dachte, war er von ihnen umzingelt, und plötzlich stand der zwerghafte Mensch vom Nachmittag ihm gegenüber. Der Vollmond beschien das häßliche Gesicht, das Hohn, Grimm und Rachelust noch mehr entstellten.

„Willst Du mich wieder schlagen, Du Hund?“ lallte der Bursche und streckte die geballte Knochenhand drohend unter Gustav’s Kinn. Diesem schoß das Blut in die Wangen; er gab dem Knirps einen leichten Stoß und that einen Schritt vorwärts. Aber Nöldeken kreischte: „Nieder mit dem Zierbengel! Er ist Einer von denen, die ernten, was wir säen; die schlemmen, während wir hungern, die uns bestehlen und doch mit Füßen treten!“ Damit klammerte er sich an Flemming’s Brust und Kehle wie ein wildes Thier fest. Zwar gelang es Gustav, ihn abzuschütteln, aber nun stürzten sich Nöldeken’s Begleiter, trunken von Branntwein, vom Feuer und ihrem Unglück, auf den Jüngling. Nach ebenso ungestümer, wie kurzer Gegenwehr, schon von Blut überronnen, ward er zu Boden gerissen, wie unter eine losgelassene Meute von Mordhunden. Nöldeken preßte ihm beide Hände auf den Mund, daß er nicht Hülfe rufen konnte. Er gab sich verloren und das Bewußtsein schwand ihm.

Dann wieder fühlte er sich emporgerichtet und sah durch Blut, Schweiß und Thränen eine reckenhafte Gestalt in lautlosem, erbittertem Kampfe mit seinen Angreifern. Und so wuchtig fiel der Arm des Fremden auf die Köpfe und Schultern der Ueberraschten, daß sie eine Secunde lang zurückwichen. Diesen Augenblick benutzte Jener, indem er den taumelnden Flemming mit sich in den offenen Flur der Druckerei riß und die Thür rasch hinter sich in’s Schloß warf. Kaum war dies geschehen, so stürzte sich die Bande mit erneuter Wuth gegen die Thür. Ein schriller Pfiff ertönte und Nöldeken’s Stimme rief: „Nieder mit dem Volksfeind, dem Ehebrecher! Nieder mit der Morgenzeitung! Reißt das Haus in den Grund!“

Obwohl sie noch im dunkeln Hausflur standen, wußte Gustav jetzt, daß der Mann an seiner Seite, sein Retter – Oldenburg war. –




Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1864). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1864, Seite 802. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1864)_802.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)