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verschiedene: Die Gartenlaube (1864)

Gerüst, das der korpulente Paukenschläger schon allein in’s Krachen bringen kann, ist gewöhnlich der Magnet für eine Knabenschaar, die an dem häufigen Zuspruch ihres Cantors bei seiner Schnupftabaksdose den Barometer seiner guten Laune hat und somit keinen Verweis fürchtet.

Gegen Abend hat die vielfach mißhandelte Geige meistens nur noch eine Saite, das Waldhorn und die Trompete keinen einzigen reinen Ton mehr, und die Clarinette piept wie eine müde Grille in öder Haide. Die Alles überbietende Pauke dauert aber aus, und je schwächer das Reich der übrigen Töne, desto kräftiger die jenes Instruments, bei dessen Bearbeitung der ausübende Künstler, gewöhnlich der Böttiger des Dorfs, mehr und mehr in eine Art von Berserkerwuth verfällt.

Die Tanzenden stört Nichts, sie hopsen und springen weiter, auch wenn das Orchester schweigt und an den gebratnen Hühnern der Hofmutter sich erquickt und den Bierfässern mehr zuspricht, als Kunst und Natur vertragen können. Es ist ja aber auch nur einmal Erntefest im Jahr! Das denkt auch zuletzt der junge Bursch, den Eifersucht aus dem Kreise der Tanzenden vertrieben und der sich in seiner bösen Laune zu den Alten gewendet, welche in friedlicher Ruhe vor der Tenne sitzen. Er stürzt sich dann wieder in den Reigen, nachdem der erste Zorn verraucht, und seine Zipfelmütze fliegt bald ebenso lustig, wie sie wenige Secunden zuvor verdrossen über ein Ohr gezogen worden, als seine Lise zum dritten Mal mit dem Großknecht des Hofes tanzte. – So lang der Hofbesitzer und sein junges Weib noch mit zu den Fröhlichsten im Erntereigen gehören, so lang ist’s noch gute Zeit für sie. Sind sie aber erst in die Jahre gekommen, wo das „Ehrentänzchen“ kaum mehr Freude macht, dann wird’s schlimm und schlimmer und es rückt allgemach die „böse Zeit“ näher, wo nicht allein sie daran denken, ihren Hof zu „bestatten“ d. h. an den Sohn abzutreten, sondern wo auch der Sohn öfter in sie dringt, die schöne Leibzucht zu beziehen und sich zu pflegen. Die Leibzucht ist ein mit auf dem Hofe stehendes kleineres Wohnhaus, in das sich die alten Bauern bei zunehmendem Alter zurückziehen. Endlich thut man aber den schweren Schritt, theils weil die Kräfte nicht mehr ausreichen, theils um auch den Sohn selbstständig zu machen, der jetzt als „junger Hofbesitzer“ bei der reichsten Bauerntochter anfragen kann, ohne einen Korb zu riskiren.

Ist nun die Einrichtung auf der Leibzucht getroffen, so findet sich das alte Bauernpaar christlich in den Wechsel und freut sich des Glücks ihres Sohnes. Dann aber leben Beide noch einmal auf, wenn der Ehe ihres Kindes ein neu Geschlecht erblüht. Entgegengesetzt wie einst, giebt nun der Alte auf der Leibzucht der Enkeltochter den Vorzug vor dem Sohne, denn das kleine Mädchen leistet ihm Gesellschaft, während der wilde Knabe sich in Feld und Wald tummelt. Der Großmutter Liebling ist aber der Enkel. Um des Mädchens willen bleibt sie ruhig bei ihrer Arbeit des Kartoffel- oder Rübenschälens für den Hof. Die Kleine weiß das auch schon, und ihr Weg ist stets zum Großvater; wie gern dieser auch seinen Kaffee allein trinkt, für die kleine Anne-Marie ist immer eine Tasse da. Die Rüstigkeit der Jugendjahre entfaltet die Alte auf der Leibzucht dann noch einmal, wenn der treue Gefährte ihres Lebens erkrankt, „benaut is“, wie das heißt. Den Doctor holt sie zwar nicht, denn an des Arztes Wissenschaft ist der Glaube auf rother Erde nicht groß; aber alle Theesorten, die sie Zeit ihres Lebens für den bösen Fall gesammelt, kocht sie auf, und geduldiger denn ein Hiob schluckt der Patient all das schlecht schmeckende Gebräu. „Bekrigt“ (erholt) er sich darnach nicht, so eilt sie in die Haide, wo allemal ein altes Zigeunerweib wohnt, die „Wunder“ verrichten kann. Jenes Weib hat ihr in der Jugend einmal die Karten gelegt und ihr Schicksal prophezeit, sie hat ihre Hühner besprochen, daß sie fleißig Eier legten, hat ihre Katze gesund gemacht, als der Hund sie gebissen – wie sollte solche Zauberin also nicht Krankheit und Tod bannen können! Die Zigeunerin kommt zu den Kranken auch stets mit einer Miene, als sei sie der liebe Gott selbst; tritt aber trotz ihrer Heil- und Wundertränke, trotz ihrer Zauberformeln der Tod an’s Lager, so reiten Sohn und Knechte spornstreichs nach der Stadt zum Arzte. Lebt der Patient bis zu dessen Ankunft oder stirbt er, wenn ihn der Jünger Aesculap’s kaum angesehen und den Puls befühlt hat, so wäscht die Zigeunerin bei dem Tode ihre Hände in Unschuld und deutet seufzend an, wie schädlich das Einschreiten solches Mannes! Nicht allein sie ruft: „Gott, Gott! warum holtet ihr den Doctor!“ nein, das ganze Dorf sagt: „Wär’ dä Doctor nich kümmen, so left he nach hunnert Jahr.“

Die alten Doctoren der rothen Erde kennen dies ihr Loos, als der leibhaftige Todbringer betrachtet zu werden, und finden sich darein; die jungen machen ab und zu Versuche die Leute in solchen Fällen zu bestimmen, sie künftig früher holen zu lassen. Vergeblich! die Bauern denken: „läen künnen vär vun sülmenst un for’s Stäern hatt är nie no was habt.“[1]

Auf dem Hofe, wo ein Todter liegt, ist’s oft lebendiger, als bei einer Hochzeit. Alt und Jung, Groß und Klein, kommt von Nah und Fern und drängt sich zur Leiche. So lange wie der Sarg offen, umsteht den Todten eine Menschenmenge, in der bald das Urtheil laut wird: „wech schöner Dode! oder: „wech leiger Dode!“[2] Das Erscheinen des Pastors, dem in gebeugter Haltung der Küster mit Sterbemiene folgt, beendet die Leichenbelagerung. Er segnet den Todten, und der Sarg wird geschlossen. Es naht der schrecklichste Augenblick im Leben der alten Hofmutter, wenn nun Der, der sie einst auf diesen Hof geführt, über die Schwelle des Hauses getragen wird nach dem kleinen Friedhofe, über dessen eingesunkene Hügel er sie zum Altare geleitet. Hunderte von Bauern und Bäuerinnen folgen dem Sarge. Am Grabe hält der Pastor eine Rede, in der er die Verdienste und Tugenden des Verstorbenen so ausführlich erwähnt, daß der Tiefbetrübteste im Gefolge beim Schluß seiner Worte sagt: „Nä, nu wär es än Schanne, nach to flennen, nachdem dä Häer Passter ihn so niederträchtig beprediget.“ [3]

So traurig wie der Zug gekommen, so fröhlich tritt er oft den Rückweg zum Trauerhause an, wo es Kaffee und Kuchen giebt. Der Küster legt sein Antlitz in die Falten frommer Gottergebenheit und sagt mit solcher Sicherheit zur tiefbetrübten Wittwe: „Ihr Seliger ist nun im Himmel!“ als wenn er selbst dem Verstorbenen die Pforten des Paradieses erschlossen hätte. Trocknen sich nach dem Zuspruch noch nicht die Thränen, so ruft er im Hinblick auf das bereits Kaffee trinkende Gefolge, ein wenig ungeduldig: „Na gute Frau, wie lange wird’s dauern, daß wir Euch auch hinaustragen! tröstet Euch daher.“

Damit hat er sich erschöpft; nun wendet er sich zur jungen Hoffrau, die den Kaffee in Tassen füllt. Hat er ein Dutzend Tassen getrunken, so schließt er sich dem Gespräch von Neuem an, dessen einziges Thema der Todte ist. Bei einbrechender Nacht verlassen die Gäste das Haus, und still wird’s, immer stiller auf dem friedlichen Hofe, wo vordem ein so reges Leben geherrscht. Nur in den Kronen der Linden endet nicht Flüstern noch Rauschen, und fast ist’s, als theilte Blatt um Blatt sich die Kunde mit, daß abermals Einer von Denen, der unter ihrem Schatten gespielt, fort und abberufen sei und nimmer wiederkehre. Still, ganz still ist’s nun im Herzen der einsamen Frau. Ruhig und ergeben legt sie sich auch nieder, und wenn der neue Morgen ihr neues Leid bringen will, findet er sie gefaßt und die Worte des Küsters werden ihr immer größerer Trost, jene Worte: „Wie lang’ wird’s dauern, daß wir auch Euch hinaustragen!“

Wie lang es auch dauert – ewig nicht! Geschlechter kamen, Geschlechter gingen durch das blühende Land Westphalens. Geschlechter werden kommen und gehen über den Boden der rothen Erde, so lange die Welt steht. Wie Viele aber auch kamen, wie viel Tausende schon dahinzogen über jene lichten Fluren Germaniens hin zur dunkeln Pforte des Todes – die Menschen wechselten, doch ihre Gesinnung nicht.

Die Gesinnung des Volkes der rothen Erde erhob sich von jeher auf der festesten Basis des Bestehenden, der Ehre, und die mächtigen Pfeiler, die sie fort und fort schützten vor dem Wogenandrang der Geschicke, waren Treue, Glauben, Recht und Wahrheit. Diese Gesinnung wurzelt fest in ihnen, wie die alten Eichen im Boden ihrer Wälder, und so wird man immer von Westphalens Volke sagen können:

Wo sich der Thorweg hebt, von Rauch gebräunt,
Von grünem Eichkamp sassisch noch umzäunt,
Wo des Gehöftes Halmendächer ragen,
Da fest und stark ein altes Volk noch steht,
Das ewig neu der alte Geist umweht,
Der Geist der Treu’ aus alten Heldensagen.


  1. Leben können wir allein, und für’s Sterben hat er noch nie Etwas gehabt.
  2. Leidend, häßlich aussehender Todter.
  3. Nein, nun wär’s eine Schande, noch zu weinen, nachdem der Herr Pastor ihn so freundlich besprochen.
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1864). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1864, Seite 807. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1864)_807.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)