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verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

„Ich wollte Dich nicht beunruhigen. Und jetzt ist unser Kind fort, und wir haben die Todesangst.“

Sie erzählte, wie sie es vergeblich gesucht habe. Er warf sich in die Kleider.

„Ich werde sie selbst suchen, mit dem Knecht.“

Er ging mit dem Knecht, sein Kind zu suchen. Sie erstiegen den Ahornberg und fanden sie nicht; sie fanden keine Spur, daß sie dagewesen sei.

„Johanna! Johanna, mein Kind!“ rief er in den Berg, in die Schlucht, in die Berge umher hinein.

„Fräulein Johanna!“ rief der Knecht.

Sie erhielten keine Antwort. Sie durchirrten den Berg auf allen seinen Seiten. Sie erstiegen die benachbarten Berge und riefen: „Johanna, Johanna, mein Kind!“ „Fräulein Johanna!“ Sie erhielten keine Antwort; sie fanden keine Spur der Verschwundenen und kehrten endlich zum Dorfe zurück.

„Biete das ganze Dorf auf, sie zu suchen,“ sagte der Pfarrer zu dem Knechte. Ihn selbst hatten Angst und Anstrengung erschöpft. Der alte Mann sah aus wie eine Leiche. Seine Füße trugen ihn nicht mehr.

Der Knecht geleitete ihn nach Hause, bot dann das Dorf auf, das Kind des Pfarrers zu suchen. Die Leute liebten den Pfarrer und sein Kind. Das ganze Dorf machte sich mit dem Knecht auf, in die Nacht, in die Berge, die Verlorene zu suchen. Die Pfarrerin saß in ihrem Stübchen vor einem Gebetbuche. Der leichenblasse Greis trat zu ihr ein.

„Unser Kind ist fort, Mutter.“

Er fiel in seiner Erschöpfung nieder. Die schwache Frau tröstete den Mann.

„Vater, es lebt ein Gott im Himmel. Er wird uns unser Kind wiedergeben.“

Die beiden alten Leute saßen die ganze Nacht, verzagend und hoffend, hoffend und verzagend. Kein Schlaf kam in ihre Augen. Als der Morgen anbrach, erhielten sie Nachricht. Ein Mann vom See kam in die Pfarrei.

„Sie suchen Ihre Tochter, Herr Pfarrer. Vielleicht kann Folgendes Sie auf die Spur führen. Ich bin Nachbar des Heusser’schen Landhauses, in dem der fremde, reiche, junge Herr wohnt, Bormann soll er heißen, und aus Hamburg soll er sein. Gestern Abend, als es schon dunkel war, sah ich, wie der Bediente des Herrn dessen kleine Segelgondel, die er unterm Hause in der Bucht liegen hat, fertig machte. Ich fragte ihn, wohin er noch im Dunkeln fahren wolle. Er sagte, sein Herr wolle noch eine Spazierfahrt auf dem See machen. Er legte Kissen zum Sitzen hinein, machte die Segel zurecht, legte ein paar Ruder hinzu, für den Fall, daß kein Wind sei. Als er fertig war, ging er in’s Haus. Ich blieb, weil ich nichts zu thun hatte, in der Nähe stehen. Es dauerte lange, bis Jemand wiederkam; und da kam der junge Herr nicht allein, es war ein Frauenzimmer bei ihm. Erkennen konnte ich sie nicht; es war dunkel und ich mochte nicht nahe herangehen; ich glaubte nur zu sehen, daß sie eine große Gestalt war. Sie gingen zu dem Schiff; er sprang zuerst hinein; dann reichte er ihr die Hand und sie folgte ihm. Sie sprachen, soviel ich hören konnte, nichts mit einander. Die Beiden waren ganz allein. Er nahm die Ruder, stieß vom Lande ab und ruderte mitten in den See hinein. In der Finsterniß und in dem Nebel, der schon auf dem Wasser lag, kamen sie mir bald aus den Augen. Ich dachte noch darüber nach, wer das Frauenzimmer gewesen, und wohin er am späten, dunklen Abende mit ihr gefahren sein könne, als der Diener wiederkam, der den Nachen zurecht gemacht hatte. Er schien aus Neugierde hergekommen zu sein. Ich trat an ihn heran. ‚Wer war das Frauenzimmer, mit dem der Herr abfuhr?‘ Auch er wußte es nicht.

„Der Herr, erzählte er mir, war nach Dunkelwerden nach Hause gekommen. Niemand hatte ihn ankommen sehen. Er hatte dem Diener befohlen, das Segelschiff zu einer Spazierfahrt zurecht zu machen. Als der Diener zurückkam, fand er die sämmtlichen Leute des Hauses um den Herrn versammelt. Er theilte ihnen mit, daß er nach einer am Abend erhaltenen Botschaft auf der Stelle abreisen müsse und nicht wiederkehren werde. Er bezahlte ihnen Allen ihren Lohn aus und empfahl ihnen die Sorge für das Haus, dessen Eigenthümer morgen kommen und es wieder in Besitz nehmen werde. Die Miethe für Haus und Mobiliar war schon für den Monat vorausbezahlt. Dann nahm er Abschied von den Leuten. Er werde in dem Segelschiff abfahren; er werde selbst fahren; Niemand solle ihn zu dem Schiff begleiten. Damit war der Herr gegangen. Niemand war ihm gefolgt. Nur ein Stubenmädchen hatte ihm nachgesehen. Er war zuerst wieder in sein Zimmer gegangen. Aus diesem war er fast unmittelbar darauf zurückgekehrt; aber nicht allein; es war eine Dame in Hut und Shawl mit ihm gewesen. In der Dunkelheit hatte das Mädchen sie nicht näher erkennen können. Mit der Dame hatte er das Haus verlassen.“

Das hatte der Diener dem Manne vom See erzählt; das erzählte dieser dem Pfarrer und der Pfarrerin wieder.

„Der fremde Herr,“ setzte der Mann noch hinzu, „muß unermeßlich reich gewesen sein; er war auch nichts weniger als geizig. Aber dennoch war er bei Keinem von seinen Leuten beliebt. Er war hochmüthig, herrisch, er war hart gegen sie; sie sagen, er habe kein Herz. Ich mußte Ihnen das Alles mittheilen, Herr Pfarrer,“ schloß der Mann. „Was Sie sich daraus entnehmen wollen, müssen Sie wissen.“

Die unglücklichen Eltern wußten es. Sie hatten den Fremden in der Nähe des Pfsarrhauses, sie hatten ihn dann wartend oben an der Kirche gesehen, sie hatten jenes auffallende Eulengeschrei gehört, jetzt ahnten sie, daß es das Signal gewesen war, welches ihrem Kinde galt. Ihr unschuldiges, reines Kind freilich, seine Unbefangenbeit –! Aber wer mag unthätig zurückschauen, wo das schleunigste Handeln zur Rettung Noth thut? War ihr Kind zu retten?

Sie verfolgten die Spur, die sie gefunden hatten. Sie war freilich in demselben Augenblicke wieder verloren. Aber sie fanden sie bald wieder, in Schaffhausen. Am frühen Morgen war das kleine Segelschiff dort angekommen, mit einem Herrn und einer Dame. Der Herr hatte das Schiffchen dem ersten besten Schifferburschen geschenkt, war dann mit der Dame zum Eisenbahnhof gegangen und hatte hier mit ihr gefrühstückt. Mit dem ersten Zuge der Eisenbahn waren sie weiter gefahren. Damit war ihre Spur völlig verloren.

Der Pfarrer schrieb nach Hamburg. Man wußte dort nichts von einem Herrn Bormann, welcher der junge, reiche Fremde gewesen sein konnte. Auch keine andere Kunde kam von den Entflohenen, keine einzige; kein Brief, keine Zeile, kein anderes Lebenszeichen der Tochter an ihre verzweifelnden Eltern.


2. Die Nacht in der Buchhauser Linde.

Fünf Monate später, an einem kalten, dunklen Octoberabend, hielt im mittleren Deutschland vor einem einsam an der Chaussee gelegenen Wirthshause eine mit vier Pferden bespannte Extrapost. Es war ein eleganter, fest verschlossener Reisewagen. Der Postillon stieg vom Pferde, ging an den Wagen und rief zu dem Fenster desselben, das nicht geöffnet wurde, hinauf:

„Wir sind an der Buchhauser Linde!“

„Gut!“ wurde aus dem Innern des Wagens von einer männlichen Stimme geantwortet.

Der Postillon ging in das Wirthshaus, das man die Buchhauser Linde nannte. Er war bekannt in dem Hause; er fuhr den Weg oft. In der Wirthsstube unten traf er den Wirth.

„Kann heute Nacht eine Herrschaft bei Euch logiren, Lindenwirth?“

„Warum nicht? Dafür ist die Buchhauser Linde da.“

„Aber es ist etwas Vornehmes!“

„Desto besser. Wie viele sind ihrer?“

„Ein Herr und eine Dame. Es sind junge Leute; sie scheinen mir auf der Hochzeitsreise zu sein; und vornehm sind sie auch, denn sie befehlen und bezahlen gehörig. Der Herr wenigstens. Donner, was kann der commandiren, und immer oben vom höchsten Stock herab. Dann wirft er aber auch mit den Thalern nur wieder so um sich. Die arme Frau freilich –“

„Was ist es mit der Frau?“ fragte der Wirth.

„Die saß immer still vor sich hin. Sie hat eigentlich kein Wort gesprochen. Nun, sie ist auch krank, oder unwohl, wie der Herr sagt. Sie hatte den ganzen Weg über Kopfweh; sie war damit schon auf der Station angekommen. Darum mußte ich langsam fahren, und darum halten wir auch hier an und machen hier Nachtquartier. Vor einer halben Stunde schon fragte mich der Herr, ob wir nicht bald an ein ordentliches Wirthshaus kämen,

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verschiedene: Die Gartenlaube (1865). Ernst Keil, Leipzig 1865, Seite 3. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1865)_003.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)