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verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

No. 3.   1865.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt.Herausgeber Ernst Keil.


Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. 0Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.




Der Richter.
Nach brieflichen Mittheilungen. 0Von J. D. H. Temme.
(Fortsetzung.)


3.0 Auf der Spur.

Gegen Ende des Monats December in demselben Jahre erschien bei dem Dirigenten eines Justizamtes im nordwestlichen Deutschland ein Fremder, der sich als Polizeibeamter eines mitteldeutschen Staates auswies. Er überreichte dem Justizamtmann ein offenes Schreiben seines Ministeriums, worin sämmtliche Gerichts- und Polizeibehörden des In- und Auslandes ersucht werden, ihm in Ermittelung und Verfolgung eines schweren Verbrechers jede dienstsame rechtliche Hülfe zu leisten.

„Nicht wahr, in Ihrem Gerichtsbezirke liegt das dem Freiherrn von Bergen gehörende Gut Freienstein?“ begann der fremde Polizeirath.

„Eine Meile von hier.“

„In welchem Rufe steht die Familie des Besitzers?“

Der Justizamtmann hörte verwundert auf bei der Frage.

„Die freiherrliche Familie von Bergen zählt zu den ältesten und angesehensten Adelsgeschlechtern des Landes.“

„Sie ist auch reich?“

„Der Freiherr besitzt außer Freienstein, das eigentlich eine Herrschaft ist, noch mindestens ein halbes Dutzend der größten Güter in der Provinz.“

„Er hat einen Sohn?“

„Ja.“

„In welchem Alter?“

„Er wird zwei- oder dreiundzwanzig Jahre alt sein.“

„Hat er noch mehrere Kinder?“

„Nur eine Enkelin, das einzige Kind seiner früh verstorbenen Tochter. Auch der Vater starb früh. Die Waise lebt bei ihrem Großvater.“

„In welchem Alter steht der Freiherr, und was spricht man von ihm?“

„Er ist sehr alt; er muß im Anfange der achtziger Jahre sein; übrigens ist er als der stolzeste und strengste Aristokrat bekannt.“

„Sie kennen den Vornamen des Sohnes?“

„Nein.“

„Was spricht man von dessen Charakter?“

„Ich habe nichts darüber gehört. Ich entsinne mich blos, einmal vernommen zu haben, der junge Freiherr sei erst seit kurzer Zeit nach Hause zurückgekehrt, nachdem er mehrere Jahre auf Reisen zugebracht habe.“

„Der Sohn ist also gegenwärtig auf dem Gute?“

„Ich vermuthe; gewiß weiß ich es nicht.“

Der Polizeirath war mit seinen Fragen zu Ende. Er erzählte nun dem Gerichtsbeamten die vor etwa zwei Monaten stattgehabten Vorgänge in der Buchhauser Linde, die Resultatlosigkeit der angestellten Untersuchungen und Nachforschungen. Dann fuhr er fort: „So war der Stand der Sache bis vorgestern. Da ereignete sich Folgendes. In demselben vorstädischen Gasthofe jener Provinzstadt, in welchem die erste Spur des Verbrechers und seines Opfers aufgefunden war, in welchem Beide die Nacht vor dem Morde zugebracht hatten, kehrte am vorgestrigen Abend ein Fremder ein. An der Wirthstafel brachten andere Fremde das Gespräch auf den geheimnißvollen Mord. Der fremde Reisende, der noch nicht von ihm wußte, hörte mit Interesse zu.

‚Der Mörder hatte mit der Ermordeten in der Nacht vorher bei Ihnen logirt?‘ fragte einer der Gäste den Wirth.

Der Wirth bejahete.

‚Wie hatte er sich doch genannt?‘

‚Bormann aus Hamburg.‘

Der fremde Reisende stutzte. Aber er sagte nichts, er hörte weiter zu.

‚Der Mensch hatte viel Geld bei sich?‘ fragten die Gäste den Wirth.

Der Wirth bestätigte.

‚Und die Dame soll sehr schön gewesen sein?‘

‚Bildschön und blutjung.‘

Als das Gespräch zu Ende war, nahm der Reisende den Wirth auf die Seite. Er ließ sich noch einmal Alles erzählen, die Gestalt des Mörders und der Ermordeten beschreiben, den Namen Bormann wiederholen. Dann fuhr er noch in derselben Nacht mit dem Schnellzuge der Eisenbahn zur Residenz, kam dort gestern Morgen an, begab sich sofort zu dem Polizeiminister und theilte diesem Folgendes mit:

Er war ein Edelmann aus Curland, gegenwärtig auf der Rückkehr in die Heimath begriffen und war seit mehreren Jahren abwesend gewesen, theils in Italien, theils in der Schweiz und im südlichen Deutschland. Ende April und Anfang Mai dieses Jahres hatte er sich einige Wochen in Friedrichshafen am Bodensee aufgehalten, wo er, ein Freund von Naturschönheiten, oft kleine Ausflüge in die Nachbarschaft gemacht hatte. So war er auch in ein Dorf, Namens Schönthal, gekommen, in einer reizenden Schlucht unweit vom See gelegen. Der Weg von der Schlucht nach dem See hatte ihn an einem ebenso reizenden Landhause vorüber geführt.

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1865). Ernst Keil, Leipzig 1865, Seite 33. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1865)_033.jpg&oldid=- (Version vom 10.4.2019)