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verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

An der Thür des Hauses sieht er einen jungen Mann, bei dessen Anblick er stutzt, der bei seinem Anblick verlegen wird.

Das veranlasst ihn, einen Arbeiter in der Nähe nach dem jungen Manne zu fragen, auf den er sich im Augenblick nicht besinnen kann.

,Herr Bormann aus Hamburg,’ sagt ihm der Arbeiter.

Nun besinnt er sich auf den jungen Mann. Er hat ihn im verflossenen Winter in Genf gesehen, als einen der ersten Roués, der leichtsinnigsten Spieler im Cercle des Etrangers. Aber der junge Mann hat dort einen andern Namen geführt. Er besinnt sich auch auf diesen Namen: Freiherr von Bergen. Es hatte geheißen, er sei ein sehr reicher Edelmann aus Westphalen oder vom Niederrhein. Der Reisende achtet nicht weiter darauf, denn ein junger Roué nimmt wohl oft einen fremden Namen an. Vierzehn Tage später kommt er nach Schaffhausen. Das Tagesgespräch ist dort die Entführung einer jungen Dame aus der Nähe von Friedrichshafen; man habe Entführer und Entführte bis Schaffhausen verfolgt, hier aber ihre Spur verloren. Er erkundigt sich näher. Die Entführte war die Tochter des Predigers in einem Dörfchen bei Friedrichshafen, der Entführer ein junger Fremder, der sich nahebei aufgehalten hatte. Man nennt ihm auch die Namen; das Dörfchen heißt Schönthal, der Pfarrer heißt Gerlach, der Fremde hat sich Bormann genannt. Er kümmert sich auch jetzt nicht weiter um die Sache. Sie ist einmal geschehen; die Entführte wird schon nächstens zum elterlichen Hause zurückkehren, in guter, in schlimmer Weise, je nachdem es fällt. Da hört er vorgestern den Mord, und er hält es nun für seine Pflicht, sofort an dem geeignetsten Orte Anzeige zu machen, damit die schleunigsten und energischsten Maßregeln zur Ermittelung und Verfolgung des Mörders getroffen werden können. So kam er gestern zur Residenz, zum Minister. „Der Minister traf sofort seine Anordnungen,“ fuhr der Polizeirath weiter fort. „Freiherr von Bergen! Der genealogische Kalender mußte Auskunft geben. Er gab sie. Er wies nur eine Familie dieses Namens nach. Sie wohnt auf dem Gute Freienstein; das Gut liegt im hiesigen Amtsbezirke. Von der Familie des alten Freiherrn lebt nur noch ein Sohn und eine Enkelin. Mit dieser Auskunft und den Mittheilungen des curländischen Edelmanns war weiter zu operiren.

„Der Minister ertheilte mir das offene Schreiben, das ich die Ehre hatte, Ihnen zu überreichen. Ich setzte mich dann sofort am gestrigen Vormittage auf die Eisenbahn. Ich fuhr zunächst zu der Buchhauser Linde und fand dort Alles, wie es erzählt war. Ich fuhr zu dem benachbarten Städtchen, dessen Gericht den Thatbestand des in der Linde verübten Mordes festgestellt hatte. Auch die Gerichtsacten bestätigten; ich nahm sie zu mir und fuhr dann zu der Linde zurück, nahm den Wirth und den Knecht mit mir, fuhr mit ihnen auf der Eisenbahn die Nacht durch und bin mit Beiden hier. Schon in der Residenz war nach Friedrichshafen telegraphirt, daß man von dort aus den Pfarrer Gerlach in Schönthal veranlassen solle, sofort mit dem nächsten von Friedrichshafen abgehenden Zuge hierher zu kommen. Er ist noch nicht eingetroffen. Ich habe mich erkundigt: der Zug, mit dem er kommen muß, langt erst gegen Abend hier an. Der curländische Edelmann konnte sich nicht länger aufhalten; eine unmittelbar auf das Verbrechen sich beziehende Auskunft war auch von ihm nicht zu geben. Der Lindenwirth und der Postillon werden den Verbrecher schon wiedererkennen. Der Pfarrer Gerlach wird ihn bestimmt recognosciren. Er wird auch die Todtenmaske seines Kindes kennen. Ich habe sie mir gleichfalls nebst den Acten von dem Gerichte mitgeben lassen.

„Und jetzt, Herr Justizamtmann,“ schloß der Polizeirath, „lege ich das Weitere lediglich in Ihre Hände. Sie allein sind hier die competente Behörde. Meine Mission ist erfüllt. Ich überliefere Ihnen die Acten, die Todtenmaske der Ermordeten und überweise Ihnen die beiden Zeugen, die ich mitgebracht habe. Ich werde Herrn Gerlach, sowie er eintrifft, an Sie verweisen. Aber eine große Bitte möchte ich doch noch aussprechen. Wollten Sie mir gestatten, Ihren Verhandlungen beiwohnen zu dürfen? Wenigstens der nächsten zur Feststellung der Identität des Mörders, Ihren ersten Angriffen. Es würde für meinen Minister eine Genugthuung, für mich von hohem Interesse sein.“

Der Polizeirath war ein gewandter Mann; er zeigte Entschlossenheit und Energie.

Der Justizamtmann fand kein Bedenken, seinen Wunsch zu erfüllen.

„Ich bitte Sie sogar,“ sagte er, „mich zu begleiten, um die nächsten Schritte, die zu thun sind, gemeinsam mit mir zu überlegen.“

Sie überlegten dann sofort und zogen einen Secretair des Gerichts hinzu, einen alten Beamten, der in dem Gerichtsbezirke näher bekannt war. Von dem Freienstein wußte er freilich nicht viel mehr, als auch schon dem Justizamtmann bekannt war. Er bestätigte den strengen, aristokratischen Stolz des alten Freiherrn, der namentlich seit dem Jahre 1848, seitdem die neueren Verfassungen in Deutschland die Gleichheit der Rechte aller Unterthanen, die nicht einmal mehr Unterthanen, sondern Staatsbürger heißen, proclamirt und der Adel seine Vorrechte verloren habe, von der Welt sich zurückziehe und völlig vereinsamt mit seiner Enkelin auf dem Freienstein lebe. Von dem Sohne des Freiherrn sodann hatte er noch gehört, daß derselbe seit seiner Rückkehr in das väterliche Schloß ein wildes, rohes Leben führe und deshalb sehr bald mit seinem Vater sich überworfen habe, einen besonderen Flügel des Schlosses bewohne und seinen Vater wenig oder gar nicht sehe. Beide kümmern sich nicht um einander; jeder lebe für sich.

Es war schon ziemlich später Nachmittag, als der Polizeirath seine Mittheilungen beendet hatte. Gleichwohl schien es geboten, noch an demselben Tage zum Freienstein hinauszufahren. Bei einem so schweren Verbrechen war die höchste Eile nöthig. Zudem konnte in dem kleinen Städtchen die Ankunft des Fremden, der die beiden fremden Landleute mitgebracht, der sich sofort zu dem Justizamtmann begeben, mit diesem länger als eine Stunde geheim conferirt hatte, auffällig werden und die Nachricht davon leicht noch am selben Abend nach Schloß Freienstein gelangen. Kam sie dann dort dem jungen Freiherrn zu Ohren und war er der Mörder, so vereitelte seine Flucht auf einmal Alles. War er fort, so konnte nicht einmal die Identität seiner Person festgestellt werden; und bei dem Reichthum seines Vaters konnte er sich im Auslande aufhalten, wo er wollte, sodaß Untersuchung und Strafe ihn nicht mehr erreichen konnten. So wurde beschlossen, auf der Stelle, ohne die Ankunft weiterer Zeugen abzuwarten, nach Freienstein hinauszufahren, und zwar in zwei Wagen; in dem einen der Justizamtmann, der Gerichtssecretair und der Polizeirath; in dem zweiten zwei Gerichtsdiener und der Lindenwirth und dessen Knecht. Den Pfarrer Gerlach aus Schönthal sollte ein Gerichtsbeamter an der Eisenbahn in Empfang nehmen, um dann mit ihm sofort nach Freienstein zu folgen.

Ueber das Verfahren auf dem Freienstein konnte erst an Ort und Stelle Beschluß gefaßt werden. Der Castellan des Schlosses war ein alter Bekannter des Secretairs, ein tüchtiger, zuverlässiger Mann. Zu ihm wollte man sich zuerst begeben; nach geeigneter Rücksprache mit ihm sollte das Weitere beschlossen werden, worüber vor der Hand noch nichts zu bestimmen war.


4. Die Verfolgung.

Es war eine weite Ebene, in der das Schloß Freienstein lag. Nur nach einer Seite wurde sie von einer Bergkette begrenzt; die Kuppen dieser Kette aber, hinter denen der Rhein sich hinzieht, waren nur in bläulicher Ferne sichtbar. Auf den drei anderen Seiten war die Ebene für den Blick unbegrenzt. Das Schloß lag in der Mitte des großen und weitläufigen Gutsareals, das dazu gehörte. Eine der vielen Chausseen, die sich durch die fruchtbare, reiche und belebte Gegend zogen, führte in einer Entfernung von etwa zehn Minuten an den Mauern des Schlosses vorbei.

Das Schloß schaute mit seiner Hauptfaçade nach der sich vorüberziehenden Chaussee, von welcher es die Vorbeifahrenden sammt allen seinen Nebengebäuden erblicken konnten. Es war ein neuer Bau, der schon von Weitem sich als ein eben so geschmackvoller, wie großartiger zeigte. Die Wirkung steigerte sich noch, wenn man näher kam und deutlicher das Einzelne unterschied. Der Blick heftete sich zuerst auf das Schloß selbst. Es war ein hohes und breites Gebäude, das allerdings in keinem reinen, ausschließlichen Style ausgebaut war. Halb in den edlen deutschen, halb in den hochstrebenden normannischen Formen und Verhältnissen errichtet, machte es mit seinen Säulen und Balconen, Erkern, Thürmen und Balustraden im ersten Augenblick einen wunderlichen, alsdann aber einen mehr und mehr befriedigenden und wohlthuenden Eindruck, den einer großartigen, fast

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verschiedene: Die Gartenlaube (1865). Ernst Keil, Leipzig 1865, Seite 34. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1865)_034.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)