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verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

Zünfte und Zopf nicht zu erschrecken brauchen. Diese Umstände, dieses Verhältniß zur Schweiz vom Moment des Eintrittes in den Bund an sind nicht zu vergessen; sie haben nie aufgehört, eine Rolle zu spielen, sie sind noch heute von Wichtigkeit.

Die Verfassung, mit der man in den Bund trat, war allerdings der Art, daß sie die Machthaber in den alten Cantonen, die Geschlechter, Zünfte etc. nicht beunruhigen mochte: man griff auch in Genf hinter die Revolution zurück und die Geschlechter regierten unter etwas anderer Form und unter verschiedenen Vorwänden nach wie vor. Die Genfer ließen sich das gefallen, froh genug, die Fremdherrschaft los und mit der Schweiz verbunden zu sein. War es nicht überall so?

Aber so konnte es nicht bleiben. Die Bewegung von 1830 erschütterte die ganze Schweiz und überall die Herrschaft der Patrizier, sie konnte unmöglich spurlos an Genf vorübergehen, das mehr als hundert Jahre früher viel weiter gehende demokratische Ideen predigte, als selbst jene waren, die man in den dreißiger Jahren in den radicalsten Cantonen verwirklichen wollte. Eine tiefgehende Gährung ergriff die von aller Regierung ausgeschlossenen Volksclassen – sie bedurften nur eines Mundes, eines Hauptes, um gegen das verrottete, alle Aemter wie allen Besitz einnehmende Regiment der oberen Classen aufzutreten. Der Mann trat auf.

James Fazy, geboren im Jahre 1794, stammt aus einer altadeligen französischen Familie, welche durch die Zurücknahme des Edictes von Nantes unter Ludwig dem Vierzehnten der Religion wegen zur Auswanderung gezwungen wurde, also merkwürdigerweise aus einer jener Familien, welche die Nutznießung der aristokratischen Verfassung zu Genf hatten, die er abzuschaffen bestimmt war, um die alte Volkssouveränetät an ihre Stelle zu setzen. Die cofsiscirten Güter dieser Familie machten zum Theil den Reichthum des Hauses Polignac aus. Doch war noch Fazy’s Vater ein reicher Mann und hinsichtlich des Unternehmungsgeistes seinem Zeilalter weit voraus. Er scheint den ganzen spätern Aufschwung der Industrie geahnt und auf dem Standpunkt der modernen Nationalökonomie gestanden zu haben. Seine Söhne ließ er in Deutschland, in dem Herrnhuter Stifte zu Neuwied, erziehen. Unter der Restauration kam James Fazy als sehr unterrichteter junger Mann nach Paris und sofort in Verbindung mit Armand Carrel, mit Cavaignac, Lafayette, überhaupt mit den Führern der Opposition, welche die Julirevolution vorbereiteten. General Lafayette schenkte ihm sein besonderes Vertrauen, beauftragte ihn mit mehreren wichtigen Sendungen und zog ihn in die Geheimnisse des französischen Carbonarismus.

Fazy trat damals in persönliche Verbindung mit allen Agitatoren, die zu jener Zeit in Frankreich, Italien, Spanien, Portugal und Polen Bewegungen leiteten oder vorbereiteten. Man kann behaupten, daß von den Männern, welche in den nächsten drei Decennien wo immer in Europa für die liberalen Ideen eintraten, ihm beinahe keiner persönlich unbekannt war. Seine Wirksamkeit vor der Julirevolution war eine doppelte: eine öffentliche als Journalist, eine geheime als Verschwörer. Auch stand er in den Julitagen mit in den vordersten Reihen der Männer, welche in der Bewegungspartei bekannt waren, hatte es da unmittelbar mit Lafayette zu thun und saß nach Einnahme des Hotel de Ville mit an dem Tische, um welchen sich die erste provisorische Regierung gruppirte. Als Lafayette selbst Louis Philipp als die „beste der Republiken“ proclamirte, wandte sich Fazy sofort von ihm ab und der Partei zu, welche die Arbeit nicht für vollbracht hielt, so lange nicht die wirkliche Republik proclamirt war. Mit der Action hatte es bald ein Ende, da Frankreich sich mit dem Bürgerkönigthum begnügte, und Fazy wirkte weiter, wie vor der Julirevolution, freilich jetzt an der Seite einer geschwächten Partei. Er gründete und leitete mehrere Zeitungen nacheinander, welche sich dadurch vor den anderen auszeichneten, daß sie den Nachdruck auf die nationalökonomischen Fragen legten.

Um diese Zeit kam er mit dem Prinzen Louis Napoleon in Berührung, welcher Prinz damals Republikaner, ja Socialist war. Mit dem Gelde dieses Prinzen gab er eine revolutionäre Zeitung heraus. Seine eigenen Hülfsmitlel waren beinabe erschöpft, die Agitation, die Gründung von Zeitungen, die nicht auf eine große Partei rechnen konnten, die Geldstrafen und dabei das Pariser Leben hatten den größten Theil seines Vermögens verschlungen. Als auch die letzte Zeitung unterdrückt wurde und in Genf die Unzufriedenheit mit dem alten Zopfregiment laut zu werden anfing, eilte er mit dem Rest seines Vermögens, mit seiner Thatenlust, mit seinen revolutionären Erfahrungen in seine Heimath zurück, entschlossen, Alles daran zu setzen, um Genf die volle Freiheit zu erringen. Ohne Zeit zu verlieren, trat er als Agitator auf und erwarb sich von Seiten der Aristokraten um so größeren Haß, als man ihn als einen Apostaten der Kaste betrachtete. Man hielt ihn, wie das immer der Fall ist, nur für einen Ehrgeizigen und kam ihm mit allen möglichen Anerbietungen entgegen; er wies Alles von sich, kehrte der obern Stadt, dem Viertel der Patrizier, den Rücken, miethete sich im Arbeiterviertel Faubourg St. Gervais eine kleine Stube, lebte wie ein Spartaner und machte sich in den untern Volksclassen bekannt und beliebt. Als Abkömmling einer Patrizierfamilie, als Mann von Pariser Manieren, hatte er Anfangs viel mit dem Mißtrauen des Volkes zu kämpfen, bis die Verfolgungen, die ihm von Seiten der Regierung zu Theil wurden, die gehörigen Bürgschaften boten.

Zur Zeit des berühmten Zuges Mazzini’s und Romacino’s gegen Savoyen hatte er schon so viel Einfluß, daß er, mit dem Volke hinter sich, die Genfer Regierung zwang, durch die Finger zu sehen, die Vorbereitungen zu dem Zuge geschehen und die von der mißglückten Unternehmung Zurückgekehrten entschlüpfen, sogar unbehelligt in Genf leben zu lassen. Fazy selbst war mit bei dem Zuge. Er entwickelte eine außerordentliche, eine wahrhaft erstaunliche Thätigkeit: Brochüre auf Brochüre folgte, Zeitung auf Zeitung, Flugblatt auf Flugblatt. Druckereien wurden geschlossen, Zeitungen unterdrückt, Processe eingeleitet, Geldstrafen verhängt – kurz all die Mittelchen reactionärer Regierungen erschöpft – es nützte nichts: Fazy arbeitete weiter, schrieb, sprach, stiftete Gesellschaften und Verbindungen, sammelte Gelder, klärte auf. Bei all dem schrieb er Romane, eine Geschichte Genfs, um die Genfer mit dem Beispiel ihrer Vorfahren zu entzünden und um ihnen zu zeigen, wie sie sich schon einmal mit dem Conseil général, d. i. demokratisch, regiert haben, und Biographien bedeutender Genfer, die für ihr Vaterland geblutet haben, wie z. B. das Leben Pierre Fatio’s, und endlich Abhandlungen über gerechte und ungerechte Besteuerungen, über Stimmrecht etc. etc.

In Folge dieser Agitation sah sich die Regierung schon zu Anfang der vierziger Jahre gezwungen, gewisse Zugeständnisse zu machen und kleine Veränderungen in der Verfassung anzubringen. Aber diese Zugeständnisse und Veränderungen modificirten im Grunde nichts am alten Princip, hielten die alten Privilegien aufrecht und genügten nur einer kleinen Anzahl bevorzugter Bürger. Die Gährung ging sogar tiefer, als das calvinistische und conservative Genf im Geheimen und endlich öffentlich mit den Jesuiten gemeinschaftliche Sache machte und auf die Seite jener Cantone trat, die das Unwesen unterstützten, dem später der Sonderbundskrieg ein Ende machte. Die Calvinisten und Conservativen hatten sich selbst entlarvt und gerichtet; die Zeit war reif. Fazy proclamirte die Revolution; das gründlich entrüstete und vorbereitete Volk stand in ungeheuerer Majorität auf seiner Seite – und die altväterliche Regierung fiel nach geringem Schütteln wie eine faule Frucht vom Baume. Diese Revolution war darum von so ungeheuerer Tragweite, weil nun Genf im Bundesrathe den Ausschlag gab und der Sonderbundskrieg beschlossen werden konnte. Die Revolution kam der Schweiz, kam Europa eben so zu Statten, wie dem Canton Genf selbst. Dieser berief eine constituirende Versammlung, welche, von Fazy geleitet, jene Verfassung decretirte, die, was die Verwirklichung des Freiheitsprincips betrifft, sämmtliche Verfassungen Europas weit hinter sich läßt und welche aus Genf das gemacht hat, was es heute ist: eine Stadt, in welcher die vorhandenen geistigen und materiellen Mittel bis zu einem Grade ausgenutzt und befruchtet werden, wie das vielleicht an keinem andern Punkte der Welt der Fall ist: – welche Verfassung aber auch, als ein verführerisches Beispiel, den Neid oder den Haß jener Cantone erregte, in denen noch von Vielen oder Einzelnen nutzbringende Ueberreste der guten allen Zeit ausgebeutet werden. Alle diese Cantone meinen, wie der Oberst Ziegler, daß, obwohl die Genfer Verfassung nur consequent und bewunderungswürdig in ihren Wirkungen, es doch nicht genug sei, daß Genf stehen bleibe und die anderen Cantone erwarte, sondern daß es zu ihnen, wenigstnus den halben Weg, zurückkehren müsse.

Was die allgemeine Theilnahme sämmtlicher Bürger am Staatswesen, die unumschränkte und unbewachte Wahl der executiven

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