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verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

In der Höhle des Löwen.
Aus den Erinnerungen eines alten Franzosen.
Mitgetheilt von Georg Hiltl.

Herr Anatole Mesnard hatte sein fünfundsiebenzigstes Lebensjahr zurückgelegt, als man 1840 schrieb. Alte Leute mit regem Geiste, vollgepfropft mit Erinnerungen, mittheilsam und liebenswürdig, sind überhaupt sehr willkommene Erscheinungen. Besonders interessant sind aber alte Franzosen, wenn sie die genannten Eigenschaften besitzen. Sie behalten einen so frischen, jugendlichen Zug und erzählen bei der ihnen angebornen Lebendigkeit das Erlebte so fesselnd und so dramatisch, daß der Hörer unwillkürlich sich in die Zeit zurückversetzt glaubt, die sie darstellen. Ein solcher alter Franzose war Herr Mesnard, und ich hatte das Glück, aus seinem Munde die seltensten Anekdoten aus der Vergangenheit, insbesondere aus den Tagen der ersten französischen Revolution zu hören, von denen mich vor Allem die nachstehenden Mittheilungen interessirten, die ich gebe, wie sie der alte Herr erzählte.

Von all den denkwürdigen Erinnerungen – begann derselbe – welche ich mir aus den Zeiten der ungeheuren Revolution bewahrt habe, ist doch wohl die wichtigste für mich: der Besuch bei dem Haupte der Schreckensmänner, bei dem Manne, der das Leben von Tausenden in Händen hatte; der durch Blut ging und darin erstickte; dessen Leben, Wirken und Pläne bis heute noch ein ungelöstes Räthsel genannt werden müssen – mein Besuch bei Maximilian Robespierre. An sich vergißt sich ein Besuch bei Robespierre schon nicht, wie viel weniger, wenn es sich dabei um ein Unternehmen handelt, das den allergefährlichsten Abenteuern an die Seite gestellt werden darf. Ich habe mir von Robespierre ein Menschenleben erbeten, das schon der Guillotine verfallen war.

Die Familie Robespierre’s war mir nicht fremd, denn ich bin zu Frévent bei Arras geboren. Ihn selbst lernte ich bei seinen Besuchen in Arras kennen; wir waren fast von gleichem Alter. Robespierre zählte etwa zwei Jahre mehr, als ich. Viel genauer bekannt, als mit ihm, ward ich aber mit seinem Freunde und Schulgenossen Lebas, der, ebenfalls zu Frévent bei Arras geboren, zu meinen Spielcameraden gehörte. Später kamen wir auseinander; Lebas schlug die Laufbahn eines Rechtsgelehrten ein, ich widmete mich dem Kaufmannsstande.

Die Ereignisse trieben Maximilian Robespierre bald auf die Oberfläche des stürmischen Meeres der Revolution, und fast unzertrennlich von ihm blieb sein Freund Lebas, dem ich verschiedene Male wieder begegnete. Lebas war eine durchaus ehrenhafte und liebenswürdige, höchst poetische Natur, und wir konnten nicht begreifen, wie ein so lieber Mensch, als es Lebas war, in der Nähe des furchtbaren Mannes aushalten konnte. Zuletzt erfuhren wir, daß Lebas die jüngste Tochter des Tischlers Duplay, in dessen Hause Robespierre wohnte, geheirathet habe. Wie wichtig mir Lebas wurde, werden Sie bald sehen.

Am 6. April 1794 verkündeten die Ausrufer, Anschläge und Zeitungen in Arras, daß zu Paris Tages vorher Danton, Herault de Léchelles, Hebert und Camille Desmoulins ihre Häupter auf das Bret der Guillotine gelegt hatten. Danton’s Popularität war sehr groß gewesen, man kann sich daher die allgemeine Bestürzung denken; dennoch wagte noch Niemand, sich gegen das System des Schreckens zu erheben. In sehr gedrückter Stimmung saßen wir, meine Eltern, zwei Schwestern und ich, in Gesellschaft unserer beiden Comptoirgehülfen, beim Abendessen, als der alte Diener des Hauses bleich und zitternd eintrat, Madame Lepelletier anmeldend, die meinen Vater dringend zu sprechen wünsche. Madame Lepelletier war eine nahe Bekannte unsers Hauses und eine sehr achtungswerthe Dame. Ihr ältester Sohn stand bei der Nordarmee, Marion aber, seine schöne Frau, dem altadeligen Geschlechte der de Bonnaire entsprossen, lebte in Paris; ebenso der jüngste Sohn, François, welcher dort das Collège Louis le Grand besuchte. Die alte Dame trat ein, ihre Kniee schwankten und kaum konnte sie bis zu einem Sessel gelangen. Endlich, nachdem sie sich ängstlich umgeblickt hatte, ob sie auch keinen Verdächtigen gewahrte, brachte sie mühsam die Worte heraus: „Gott! Marion und François sind verhaftet! Sie wurden in das Gefängniß des Luxembourg geworfen.“

„Weshalb aber? Reden Sie doch?“ frug mein Vater in höchster Bestürzung.

„Einen Grund giebt man nicht an. Die Verhafteten erfahren meist ihr Vergehen erst in der Stunde des Todes.“

„Vielleicht ist es nur ein Gerücht,“ tröstete meine Mutter, „denn was kann François verbrochen haben?“

„Nein, ein Gerücht ist es nicht. Mein Advocat schreibt mir mit der Abendpost von Paris. Meine Angst ist unbeschreiblich. Herr Mesnard! Sie haben schon oft geholfen; können Sie keine Hülfe ausfindig machen? Kann Niemand meinen lieben, schönen, schuldlosen Jungen retten?“

Die Unruhe der Madame Lepelletier steigerte sich bis zu Krämpfen. Während die Frauen der Bejammernswerthen Beistand leisteten, ging ich mit meinem Vater im Zimmer auf und nieder. Das Geschick der Armen ging uns schwer zu Herzen. Ihr mußte Hülfe werden in ihrer furchtbaren Lage, das stand bei mir fest. Die offenbare Gefahr, die damit verknüpft war; der Gedanke, einer schönen Frau, wie Madame Lepelletier in Paris, einen solchen Ritterdienst zu leisten – das hatte einen mächtigen Reiz für einen jungen Mann, wie ich’s dazumal war. Zudem lag die Hochherzigkeit gewissermaßen in der Luft jener Zeit, und Beispiele großartigster Aufopferung erlebte man fast täglich.

„Ich werde die Verurtheilten retten!“ rief ich plötzlich aus, meinen Schritt anhaltend.

„Anatole!“ rief mein Vater. „Du bist unsinnig.“

„Um Gotteswillen, lieber Sohn!“ rief meine Mutter. „Denk’ Du nicht daran.“

Madame Lepelletier war durch meinen exaltirten Ausruf zu sich gekommen. Sie sprang auf mich zu, faßte meine Hand und drückte sie heftig. „O edler, braver junger Mann,“ rief die Aermste, „Sie wollten es versuchen? Ja, Sie sind gut, muthig, klug. Gewiß es wird Ihnen gelingen.“

„Anatole, Du mußt doch bedenken – –“ warf mein Vater zitternd ein.

„Du wagst Dein Leben!“ jammerte meine Mutter, sich an meinen Hals werfend.

Ich sah das kummervolle Gesicht der armen Mutter, aber ich gedachte auch der Angst der Gefangenen und dazu kam das Ehrgefühl. „Nein!“ rief ich. „Keine Abmahnungen, weg mit der Furcht! Ich reise morgen mit dem Frühesten nach Paris; ich spreche Robespierre, zuerst aber eile ich zu Freund Lebas. Er, Robespierre’s Pylades, er sollte nicht meinen Plan fördern können? Haben Sie also keine Furcht, meine Lieben!“

Der Name Lebas hatte meinem Vater wenigstens die Ueberzeugung beigebracht, daß ich nicht hirn- und planlos handeln wollte. So gaben mir denn nach einigem Widerstande meine guten Eltern ihren Segen, Madame Lepelletier drückte mir stumm die Hand. Ich hatte, so viel es ging, die oberflächlichste Darstellung der ganzen Sachlage aufgenommen. Besonders wichtig war es für mich, die Gefangenen sprechen zu können, was mit Hülfe des Schließers der Luxembourg-Gefängnisse möglich war; selbstverständlich gegen eine bedeutende Belohnung. Madame Lepelletier theilte mir mit, daß der Mann Lambert heiße und daß ich mich dreist an ihn wenden könne, wenn ich ihm einen Gruß und das Bild der Madame Lepelletier brächte. Ich notirte mir ferner die Wohnung des Notars der Dame, ebenso Straße und Hausnummer, wo früher Frau Marion Lepelletier gewohnt hatte, und suchte dann mein Schlafzimmer auf.

Schlafen konnte ich natürlich nicht. Erst als die Stille der Nacht mich umgab, ordneten sich meine Gedanken. Ich stellte mir jetzt vor, welchen gewagten Schritt ich unternehmen wollte. War es nicht schon gefährlich genug, nur für die Verdächtigen zu bitten? Wer sich Freund eines Geächteten nannte, war Feind der Nation; eine Bitte für die Gefährdeten brachte die höchste Gefahr. Dann fragte ich mich wieder, ob Lebas, der ein weicher und poetischer Mann im gewöhnlichen Leben war, auch ebenso mild urtheilen werde, wenn es sich um politische Gegenstände handele. Wußte man doch auch, daß Robespierre makellos in seinem Lebenswandel, ein Freund der einfachsten Vergnügungen, ein Pfleger der Blumen; daß sein höchster Genuß ein Spaziergang in stiller, ländlicher Natur sei; daß seine Augen sich mit Abscheu von der Schlachtbank

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