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verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

verfehlten ihre Wirkung nicht: mich verblüfft betrachtend, traten sie zur Seite und ich stieg mit klopfendem Herzen in den Thurm.

„Kennst Du Den?“ hörte ich hinter mir die Stimmen der Männer. „Nein, es muß Einer vom Bauamt sein.“ Ich aber schritt in der kaum über drei Fuß breiten Wendeltreppe empor und kam mir – rechts und links, oben und unten, von aufwärts in den Thurm führenden Schläuchen umrahmt – vor, wie Laokoon und seine Söhne in der grausen Umschlingung der giftgeschwollenen Schlangen. Die Schläuche selbst waren an verschiedenen Stellen durch den ungeheueren Druck, den die in ihnen aufsteigende Wassersäule auf die Seitenwände ausübte, in den Nähten geplatzt, aus denen mir von allen Richtungen ein Kreuzfeuer von feinen Wasserstrahlen entgegenspritzte. So von jeder Seite, und zum Ueberfluß auch noch von auf- und niedersteigenden Feuerwehrmännern begossen, öfters mich an die triefenden Wände drückend, erreichte ich endlich die erste Abtheilung des Thurmes und athmete tief auf.

Ein Blick durch die Seitenöffnung zeigte mir, wie hoch ich schon gestiegen; tief unter mir standen in schwärzlichem Gewimmel Schaaren von Menschen, die heraufsahen und vielleicht von der Möglichkeit eines nochmaligen Ausbruchs der Gefahr sprachen. Zu meiner Seite gähnte mir aus der Dachbedeckung des Kirchenschiffes die Oeffnung entgegen, welche die herabgestürzte Thurmspitze mit dem Knopfe und dem wohl vier Fuß großen, vergoldeten Hahn geschlagen. Hier lag es, das symbolische Thier des heiligen Petrus, mit gebrochenen Flügeln hohlen Auges nach jener Stelle schauend, wo es so lange Jahre friedlich gehaust und aus der es nun so jäh den tiefen Flug herab gethan; – wann wird es ihn wieder aufwärts nehmen zur Höhe?

„Bleiben Sie,“ hörte ich neben mir die Stimme eines Arbeiters, „es werden jetzt die Schläuche abgeschraubt, um das Gebälke zu begießen; Sie würden zu naß.“ Aber nässer, als ich war, konnte ich doch wohl nicht mehr werden; darum setzte ich, dem kopfschütlelnden Alten für seinen guten Rath dankend, meine Wanderung fort. Die schmale Treppe verlassend, wandte ich mich dem Hauptthurme zu. Röhren, die übereinandergeschlungen sich durch den Eingang zwängten, machten es mir unmöglich, darüber hinweg zu schreiten; ich mußte darunter wegschlüpfen, und während dies geschah, ging die ebengehörte, wohlgemeinte Warnung in Erfüllung: aus einem der Schläuche überströmte mich eine Fluth eiskalten Wassers und machte mir die Thatsache fühlbar, daß ich die höchste Potenz des Naßwerdens doch erst noch zu erreichen hatte. Meine Pelzmütze troff von Wasser und Schmutz, und dieselben elementaren Bestandtheile durchtränkten meine Kleider und füllten meine Stiefel.

So nahe an dem ersehnten Ziele ließ ich mich indeß durch nichts mehr abschrecken. Jetzt kamen schon die großen Glocken, friedlich und ruhig hingen sie neben einander; an ihnen, sowie an dem schweren Gebälk hafteten große Eisstücke in phantastischen Formen. Darüber rieselte und sickerte das Wasser hinunter in die schwarze Tiefe. Ich aber stieg weiter empor auf schwankenden Holzstufen, durch Dampf und durch Schutt; durch die halbdurchgebrannte Decke rieselten noch glühende Kohlen und heißes Steingeröll herunter und zischten in die Wasserpfütze, die den Boden des Raumes bedeckte. Dabei erdröhnte der ganze Bau über mir von dumpfen Schlägen.

„Haltet ein, Ihr da oben!“ Mit diesen Worten stürmte ich mein Skizzenbuch fest an mich drückend, über den heißen, qualmenden Schutt hinaus in das ehemalige Glockenstübchen, wo ich mich bald mitten in einer dichten Rauchwolke befand.

„Wer kommt denn jetzt da herauf? Was wollen denn Sie hier?“ hörte ich fragen, aber mir versagte die Antwort beim grausigen Anblick, den das ehemals so trauliche Stübchen mir bot. Das innere Achteck, welches den Holzbau des Glockengebälkes trug, ragte vor mir ausgebrannt, geschwärzt, wie eine riesige Zackenkrone in den kalten Januarhimmel hinauf; glimmende und verkohlte Balken standen da und dort noch dazwischen; zu bizarren Gestalten erstarrt, hingen die geschmolzenen Kupferziegel sowie die kupferne Bekleidung der Balken in das Innere herein, das hoch aufgefüllt war mit glimmendem Gestein und geschmolzenem, in tausenderlei Form unter dem schwarzen Schutt hervorblitzendem Metall. Im Mittelgrund hatte sich ein Paar vom Rauch und Dampf unkenntlich gemachte Gestalten herabgebeugt – sie hatten die Glocke gefunden, die hier, geborsten, noch halb im Schutt versenkt lag. Und hier, hart daneben, der geschwärzte Kamin mit seinem heimlichen Thürchen, das, halb geschlossen, des langjährigen Freundes zu warten schien, der jenen so oft erwärmt – das Alles zusammen war ein Bild des Grauens und doch wieder so übermächtig groß, das letzte Ringen des Elementes mit dem Menschen darstellend.

„Ja, was wollen Sie denn eigentlich hier oben?“ tönte es wieder in mein Ohr und riß mich aus meinem Sinnen.

„Zeichnen,“ gab ich ruhig zur Antwort.

„Zeich–nen?“ rief der brave Feuerwehrmann mit weitgeöffneten Augen, „zeichnen?“ und maß mich schon vom Fuß bis zum Kopf mit seinen Blicken. Ich aber öffnete mein Skizzenbuch und warf mitten in dem Höllenbrodem, unter dem Knistern und Krachen der einstürzenden Balken und Mauern und unter den schütternden Axtschlägen der Rettungsmannschaft, mit flüchtigen Strichen das Bild hinein, das jetzt vor den Augen der Leser liegt.

Man ließ mich ruhig gewähren, und als ich zu Ende gekommen, stieg ich, froh des gelungenen Abenteuers, mit weniger Hindernissen, als sich dem Aufklimmen entgegengestellt, hinab in’s gewöhnliche Leben und Treiben der Menschen.




Ein aufgeklärtes Literaturgeheimniß.

Es sind nun genau zwölf Monate, seit die „Gartenlaube“ ihren Lesern ein sehr gelungenes Portrait und eine kurze Biographie des Deutsch-Amerikaners Charles Sealsfield brachte. Sealsfield lebte damals noch. Der Verfasser jener Lebensskizze und dieser Zeilen, mit dem alten Herrn persönlich befreundet, hatte sich damals zu ihm nach seinem Landsitz „Unter den Tannen“ bei Solothurn begeben, um ihn persönlich um einige Aufschlüsse zu bitten. Er traf ihn, im halbdunkeln Zimmer auf seinem Krankenstuhl, einem abgeriebenen Ledersessel, sitzend, im Halbschlummer, als gebrochenen, aufgegebenen Mann. Die Bitte wurde erst schweigend, dann keineswegs unfreundlich, aber etwas verlegen entgegengenommen. Er sei krank, so lautete endlich die ausweichende Antwort; jede geistige Anstrengung sei ihm beschwerlich. Nach erfolgter Herstellung werde er mit Vergnügen die gewünschten biographischen Notizen zusammenstellen. Einige Monate später starb Sealsfield, ohne seine Zusage erfüllt zu haben.

Die dürftige Lebensbeschreibung von dazumal verpflichtet den Schreiber dieser Zeilen, den Lesern dieser Blätter nun auch dasjenige über den interessanten räthselhaften Mann mitzutheilen, was er seither in Erfahrung bringen konnte. Eine fernere Veranlassung giebt ihm die kürzlich bei Ahn in Brüssel erschienene Broschüre „Erinnerungen an Charles Sealsfield“ von Kertbeny; diese Schrift, in welcher der Unterzeichnete wiederholt als Gewährsmann und als naher Bekannter Sealsfield’s genannt wird, enthält eine irrthümliche, durch Facten wiederlegte Grundanschauung, welche er nicht unerwidert lassen darf.

Der gesammte handschriftliche Nachlaß Sealsfield’s bestand aus seinem eigenhändig geschriebenen Testament. Dasselbe enthält nichts, weder über den früheren Lebensgang noch über die Herkunft oder die Familienverhältnisse des Mannes, dem es beliebt hatte, sich bis über das Grab hinaus in das Dunkel des Geheimnisses zu hüllen. Aber das Testament nannte als Erben die Glieder einer Familie Postel aus Poppitz in Mähren. Dieser Umstand mußte einige Aufklärung verschaffen. Bald ergab sich, daß Sealsfield höchst wahrscheinlich selber ein längstverschollenes Mitglied jener im Testament bedachten Familie Postel gewesen. Diese Vermuthung stellte sich später als evidente Gewißheit heraus. In Folge der Bestimmungen jenes Testamentes begaben sich zwei Mitglieder der Familie Postel nach der Schweiz, Männer, welche Sealsfield – nach seinem Lieblingsausdruck – ohne Zweifel als „echte Gentlemen“ qualificirt hätte. Aus dem Munde derselben hat der Verfasser dieser Zeilen Nachstehendes über die Jugendgeschichte

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verschiedene: Die Gartenlaube (1865). Ernst Keil, Leipzig 1865, Seite 94. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1865)_094.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)