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verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

über Mittelgröße. Um ihr feingeschnittenes Antlitz, das jenes zarte Roth färbte, welches die Seemuschel in ihren Schalen birgt, flossen in natürlichen Wellen tief nußbraune glänzende Locken; die klaren blauen Augen strahlten von Lust und Glück, blickten groß, frei und offen in das noch so licht und glatt vor ihr liegende Leben und zeigten nur sehr selten ihre bedeutendere Schönheit, wenn die etwas gesenkten Lider mit den dunkeln Wimpern durchsichtige Schatten warfen auf das fast zu hell, zu leuchtend strahlende Blau. Mit dem blitzenden Schein dieser offenen Kinderaugen stand in vollstem Einklang das herzliche Lachen, das immer und immer wieder von den vollen Lippen tönte, und „schön Ingeborg“ war reizend bei diesem Ausbruch ungetrübten Frohsinns, frischer, ungebrochener Jugendkraft.

So heiter und froh, so voll Lust und Leben diese Gruppe – so ernst, still, fast düster jene andere, die ihr aus dem Hause folgte. Sie war gleichsam der Schatten zum vollen Sonnenlicht des Glücks, war gewissermaßen ein trauriges Symbol des Lebens, wo ja auch der rasch dahineilenden Freude der schwere Ernst auf dem Fuße folgt. Diese zweite Gruppe umfaßte nur drei Personen, zwei ältere Leute und einen jungen Mann von kaum zweiundzwanzig Jahren. Die eine der beiden ältern Gestalten, ein Mann nahe den Fünfzigern, war von hohem, muskulösem Wuchse, eine ernste, Achtung gebietende, äußerst vornehme Erscheinung. Sein Haar war aber schon völlig gebleicht und seine Züge waren durchfurcht, wie die eines Greises. Ruhe und Kälte drückten jetzt fast einzig die strengen Linien seines Gesichtes aus, in denen aber einst die verheerende Gewalt des Schmerzes und wilder Leidenschaft gewühlt haben mußten, um derartige Spuren von Kampf und Leiden zu hinterlassen.

Seitwärts von diesem Herrn wandelte langsamen Schrittes, gebeugten Hauptes eine zarte Frauengestalt in langem, schwarzseidenen Gewande. Sie mußte einst sehr schön gewesen sein, denn das marmorblasse Gesicht, das eine weiße Haube umschloß, wies Züge auf, die nach der Antike gemeißelt schienen. In diesen herrlichen Linien lag aber ein herzerschütternder Ausdruck von Kummer und Leid, wie ihn nur die herbsten Schicksale hervorgerufen haben konnten. Ueber die festgeschlossenen Lippen des ernsten Mundes schien nie ein Lächeln geglitten zu sein, aus den dunkeln melancholischen Augen nie ein Strahl der Freude geleuchtet zu haben! Obschon sie das vierzigste Jahr noch nicht erreicht, war auch ihr Haar gebleicht und schien sie überhaupt in Allem gleichen Schritt mit dem Manne gehalten zu haben, in dessen ganzer Erscheinung sich deutlich ausprägte, wie dornenvoll die Bahn gewesen, welche er im Leben durchwanden hatte.

Zwischen diesen Beiden war „schön Ingeborg“ herangewachsen. Jener ernste Mann, Baron Fordenskiöld, war ihr Vater, die Dame, Gräfin Alma Adlersparre, ihre Tante, die Schwester ihrer Mutter, welche, wie man ihr gesagt hatte, bald nach ihrer Geburt gestorben war. Fast achtzehn Jahre waren’s, als ein Schiff die Familie von Helgoland nach der Insel Sylt gebracht, wo sie sich angesiedelt und seitdem gelebt hatte. Kein Diener, keine Dienerin hatte sie begleitet, mit ihnen war nur der alte Schiffscapitain Knud Larsson gekommen, der in einem der größern Dörfer Sylts ansässig war und dort mit seiner verwittweten Schwiegertochter und deren einzigem Sohne Erich lebte.

Knud Larsson war aber ein sehr schweigsamer Mann, der kaum mit seiner Schwiegertochter ein Wort wechselte und, wie es hieß, nur mitunter mit seinem Enkelsohn redete; sein Haus wurde auch stets gemieden, wenn er, der gewöhnlich auf der See umherfuhr, einmal daheim war. So kam es denn, daß die Fremden, welche er mit nach Sylt gebracht, nachdem sie die Schwelle seines Hauses überschritten hatten, gewissermaßen wie begraben waren und Niemand etwas Näheres von ihnen erfuhr. Man hielt sie für Gestrandete und nannte sie auch nur „die Gestrandeten“. Zwar war Knud Larsson’s Enkel Erich zur Zeit, da sein Großvater diese Gäste in sein stilles Haus führte, kaum sechs Jahre alt, allein noch hatte er den Eindruck nicht vergessen, den es auf die Fremden gemacht, als sie in den Tagen, wo sie ihr neues Haus bezogen, das sie unweit der Meeresküste hatten bauen lassen, zum ersten Male den Namen erfuhren, mit dem es der Mund des Volkes belegt. Wie Wetterleuchten hatte es im Antlitz des Mannes gezuckt, als Erich ihm auf seine Frage nach den „Gestrandeten“ mit Kinderoffenheit gesagt, daß der Fragende selbst so heiße; zum unaussprechlichsten Staunen des Knaben waren Thränen in den Augen des ernsten Mannes aufgestiegen und er hatte geweint wie ein Kind. Die schöne Frau aber, die der kleine Erich wie ein Wesen aus andern Welten betrachtet, war bei den Thränen des Mannes ohnmächtig geworden, und als man sie zum Leben erweckt, hatte sie sich dem Herrn zu Füßen geworfen und schluchzend ausgerufen: „Gott sei Dank, die Starrheit Deines Schmerzes ist gebrochen, Du wirst genesen, wirst vergeben und vergessen!“ „Nie!“ hatte er finster entgegnet, und von Neuem war sie leblos hingesunken.

Wie oft auch der Herr später den Knaben voll Wehmuth gefragt hatte: „Wie heiß ich?“ das unglückliche Wort war nie wieder über des Kindes Lippen gekommen. Es hatte weder die Thränen, noch jene bedeutungsvollen Ausrufe vergessen, hatte trotz seiner Jugend tactvoll herausgefühlt, welchen Sturm er in der Seele jener Beiden heraufbeschworen, die man in Ermangelung andern Namens so benannt.

Die wirklichen Namen der Fremden, ihr verwandtschaftliches Verhältniß, das Alles hatte sich den Bewohnern von Sylt erst in spätern Jahren kundgegeben, erst da, als eines Tages ein Herr mit einem Knaben nach der Insel gekommen und nach dem Hause des Baron Fordenskiöld aus Schweden gefragt. Es war, wie man hörte, der Bruder des Fremden, der auch von jetzt an alljährlich wiederkehrte und mit seinem Sohne einige Wochen in dem einsamen Hause verlebte.

Erich Larsson, inzwischen zu einem Burschen von fünfzehn Jahren herangewachsen, hatte die nach Baron Fordenskiöld forschenden Fremden zu der einsamen Wohnung geleiten müssen. Seltsamer Weise hatte er sie Stunden lang in der Irre herumgeführt, sie endlich, als schon die Dämmerung eingebrochen, unter dem nichtigen Vorwande: „den richtigen Weg verfehlt zu haben“, in eins der kleinen Dünenthäler geführt, das unweit der Besitzung des „Gestrandeten“ lag, hatte sie gebeten, dort zu warten, bis er sich selbst zurecht gefunden, und war dann wie ein Pfeil nach dem Hause geschnellt, über dessen Thorbogen man eben das leitende Licht entzündete.

In Erich’s Seele war nämlich, wie er sich späterhin klar bewußt wurde, der dunkle Gedanke aufgetaucht, sein alter Freund und Gönner würde die Fremden nicht empfangen und vor ihnen vielleicht entfliehen wollen. Darum hatte er jene merkwürdigen Vorkehrungen getroffen. Es war anders gekommen. Er hatte die Ankömmlinge dennoch zu dem stillen Hause geleiten müssen, sie waren wiedergekehrt und der Knabe, den er einst lieber in’s Meer geschleudert, als zu „schön Ingeborg“ geführt, er war jetzt seiner Jugendgespielin Verlobter.

Erich Larsson, obschon aus einer Seemannsfamilie stammend und mit dem Meere vertraut seit der frühesten Kindheit, war auf Wunsch und Bitte seiner Mutter, die Vater, Gatten und drei Brüder auf der See verloren hatte, bewogen worden, dies tückische, furchtbare Element nicht als eigentliche Lebensheimath zu erwählen. Ein Bruder von Erich’s Vater war Handelsherr in Hamburg und ihn, der kinderlos, hatte Frau Larsson gebeten, sich ihres Sohnes anzunehmen, als Erich in seinem achtzehnten Jahre von der ersten größern Seefahrt glücklich zurückgekommen war. Wer weiß aber, ob Erich ihren Bitten allein nachgegeben, sich durch die Schilderung ihrer Angst allein hätte bewegen lassen, den ihm so lieben Beruf aufzugeben und Kaufmann zu werden. Ingeborg, seine kleine Freundin, war’s, die ihr Flehen mit dem seiner Mutter vereinte und ihm unter Thränen versicherte, daß sie während seiner Abwesenheit keinen ruhigen Tag gehabt und sterben würde vor Sorge, ginge er wieder zur See! – – –

Ingeborg Fordenskiöld’s Geburtstag war auch der von Frau Larsson. War darum Erich alljährlich zu diesem Tage nach Sylt gekommen, es war Niemand aufgefallen und Jeder in dem einsamen Hause hatte es sogar natürlich gefunden, daß er am Morgen schon Ingeborg seine Glückwünsche brachte und darauf den Tag, wie ehedem, mit der verlebte, die seit früher Kindheit seine Gespielin und Freundin gewesen war und sich selbst seine „Schwester“ nannte.

Als Erich am Morgen von Ingeborg’s siebzehntem Geburtstage dem jungen Mädchen seine kleinen Gaben überreichte und nur wenige Worte fand, um seine heißen Wünsche für sie auszudrücken, da erzählte sie ihm unter Lächeln und Erröthen, daß sie die Braut ihres Vetters sei und über’s Jahr schon seine Frau sein werde. Wohl fiel ihr die Todesblässe auf, die sein blühend Antlitz bei der Nachricht deckte; doch als er hastig sagte, wie das vom raschen Gehen komme und daß er schon seit mehreren Tagen

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verschiedene: Die Gartenlaube (1865). Ernst Keil, Leipzig 1865, Seite 98. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1865)_098.jpg&oldid=- (Version vom 10.9.2022)