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verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

1816, als wir zur Ausführung unsers Vorhabens schritten. Der blaue Himmel schaute nach langem Winter freundlich auf die Erde herab, die Sonne verbreitete eine behagliche Wärme und lockte Schneeglöckchen und süßduftende Veilchen aus dem aufgethauten Boden, der an vielen Stellen schon grün zu werden begann. Wir rückten von der Nordseite, wo das Gut nicht eingeschlossen war, in dasselbe ein. Wie vorsichtige Jäger gaben wir uns gar nicht den Anschein, als ob wir nach einem bestimmten Ziele trachteten, sondern sprangen in Kreuz und Quer den Boten des Frühlings, dem großen Fuchs und einigen anderen Schmetterlingen, nach, welche die warmen Strahlen der Märzensonne aus ihren Winterquartieren gelockt hatten.

Allmählich steuerten wir, wie absichtslos, der Stelle zu, wo die Königin mit ihrem Hofstaate sich ebenfalls sonnte. Es war dies der Platz zwischen dem Nebengebäude und dem sogenannten Hänghause. Einige saßen auf einem hölzernen Canapee, Andere schlenderten plaudernd und scherzend auf und ab, und der Prinz trieb sich mit den Kindern des kleinen Hofes lustig auf der Wiese und den Wegen herum. Alles athmete so viel Lust und Freude, als ob die wohlthätige Himmelskugel auch das Eis um die Herzen gelöst und geschmolzen hätte.

Vorsichtig näherten wir uns dem fröhlichen Kreise, immer wie erfahrene Feldherren darauf bedacht, uns den Rückweg offen zu halten, mit auf die Schnelligkeit unserer Füße vertrauend. Schüchtern, wie wir waren, suchten wir die Aufmerksamkeit der Kinder auf uns zu ziehen und uns nach und nach bescheiden in ihre Spiele zu mischen. Unsere Absicht gelang uns wider alles Erwarten ausgezeichnet gut, da Kinder noch keine selbstischen Zwecke verfolgen und nur in der Verallgemeinerung des Vergnügens ihre Freude haben. Es war noch keine Viertelstunde vergangen, so spielten wir Alle zusammen, als ob wir alte Bekannte wären. Wir waren so glücklich, wie man es in der Jugend sein kann, wenn man einen seiner kindlichen Wünsche erreicht hat, nach dessen Erfüllung das Herz sich schon lange gesehnt. Wenn aber der Mensch am glücklichsten ist, so darf er fast sicher sein, daß das Geschick ihm bald einen Streich spielen und ihn aus seinem geträumten Himmel unsanft auf die Erde herabwerfen werde. Auch uns erging es so. Plötzlich stand der Handelsherr Zumstein, ein alter, grämlicher und kränklicher Mann, wie ein vom Himmel gefallener Meteorstein, in unserm Kreise und riß ihn erbarmungslos auseinander. Er wies uns aus seinem Gute fort, und wir waren schon im Begriffe, mit einem schmerzlichen Blicke auf unsere Spielgefährten, wie Adam und Eva das Paraties zu verlassen, als sich die Scene auf einmal zu unserm Besten wendete.

Der Prinz, welcher eingesehen haben mochte, daß eine Vergrößerung der Zahl seiner Spielgefährten ihm manches Vergüngen verschaffen könnte, welches er bisher entbehren mußte, wandte sich an seine Mutter mit der Bitte, daß wir bleiben dürften. Die schöne Frau hatte Mitleiden mit unserer Gemüthsverfassung, welche sie uns aus dem Gesichte lesen konnte, und entschied nach einem prüfenden Blicke auf uns, die wir in unserm Sonntagsstaate keine üble Figur spielen mochten, zu unsern Gunsten.

Von da an waren wir die täglichen Spielcameraden des Prinzen, worauf wir uns nicht wenig zu gut thaten. Er sprach zwar damals nur noch wenige Worte Deutsch; da wir aber schon Unterricht im Französischen genommen hatten, so konnten wir uns gegenseitig verständigen, und wenn uns beiderseitig die Worte gebrachen, so mußten Pantomimen unsere Gedanken verdolmetschen. Mit der Zeit lernte aber der Prinz von uns spielend deutsch, so daß es der Zeichensprache bald nicht mehr bedurfte.

An Platz zu allen möglichen Knabenspielen fehlte es in und außer dem Hause nicht. War es gutes Wetter, so jagten wir uns im ganzen Gut umher; bei Regenwetter rumorten wir in den Zimmern des Prinzen und auf dem Gange herum und verführten oft einen so höllischen Lärmen, daß es mich schon damals oft wunderte, daß man uns so frei gewähren ließ. Nur wenn die Königin unwohl war, wurden wir aus ihrer Nähe verbannt.

Die zwei Zimmer, welche der Prinz bewohnte, lagen im nördlichen Theile des Hauses und waren von denen seiner Mutter nur durch einen schmalen Gang getrennt. Im ersten, in welches man vom Gang und der Stiege aus durch einen verschließbaren Vorplatz gelangte, befand sich an der Decke in Stuccaturarbeit ein großes Wappen, welches oftmals unsere Neugierde erregte. Erst viel später erfuhr ich, daß es das Wappen der Grafen von Königsegg-Aulendorf sei, die noch in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts den Hof besessen hatten.

Von allen Spielen gefielen dem Prinzen diejenigen am besten, welche mit tüchtigen Leibesübungen verbunden waren und etwas Kriegerisches an sich hatten. Wir folgten daher, wie jetzt noch Millionen, dem äußerst melodischen Klange der Trommel, welche unser hoher Camerad selbst meisterlich bearbeitete, während er zugleich noch nebenher seine Armee als Officier commandirte. Mit vielem Selbstgefühl und militärischem Anstande zogen wir mit Papiermützen, auf denen eine große Hahnenfeder prunkte, und mit Gewehren aus Rebstöcken, die, oben eingespalten, durch ein Hölzchen auseinander gehalten und entladen werden konnten, unserm Führer nach durch Dick und Dünn, wie es ehrlichen Soldaten geziemt. An unsern Spielen pflegte meist der Sohn der Amme des Prinzen, welche von Allen im Hause sehr geachtet und geliebt wurde, der junge Bure, Antheil zu nehmen. Louis nannte ihn seinen Milchbruder und hielt große Stücke auf ihn. Da ich um die Bedeutung des Wortes fragte, das mir ganz fremd war, so lachten Beide mich herzlich aus, erklärten es mir aber dennoch.

Bei diesen unsern kriegerischen Uebungen, die selten ohne kleinere oder größere Beulen abliefen, kam indeß einmal ein anderer Unfall vor, an welchem ich schuldlos die Schuld trug. Ich hatte nämlich das Unglück bei der Erstürmung der hölzernen Wiesenplanke, die unsere Festung vorstellle, als ich als einer der Belagerer mit meiner Waffe eben zu einem Hauptstreiche ausholen wollte, das Töchterchen der Hofdame Cochelet,[1] das sich zum Zuschauen hinter mich gestellt hatte, auf den Mund zu treffen. Das Kind, dessen Lippen arg bluteten, schrie jämmerlich und seine mit der Königin unserm Knabenspiele zuschauende Mutter kam mit den Worten „Marsch“ und „Fort“ – dem fast einzigen Deutsch, das sie verstand – in vollem Zorne auf mich losgesteuert. Weiter brauchte ich aber auch nichts mehr, um aus ihren unzweideutigen Pantomimen zu begreifen, daß es trotz der freundlichen Worte des Prinzen: „macht nix, macht nix!“ das Gerathenste sei, mich für diesmal aus dem Staube zu machen.

Fast acht Tage lang floh ich das Gut, trotz aller Bitten des Prinzen doch wieder zu kommen. Endlich erwischte mich die besänftigte Mutter, welche sich von meiner Unschuld überzeugt haben mochte, und lud mich selbst wieder ein. Das von mir angerichtete Unheil war nicht so groß, wie ich mir vorgestellt hatte, es bestand nur in einer oberflächlichen Abschieferung der Haut an den Lippen, welche durch ein etwas ungewöhnliches Mittel geheilt wurden, ein Mittel, wie es nur die Landleute bei derartigen leichten Wunden anzuwenden pflegen.

Natürlich ging es unter uns zu Zeiten nicht ohne Zank und Streit ab, und die Folge davob war, daß ich meinen vornehmen Cameraden einige Tage nicht besuchte. Gemeiniglich war er dann der erste, welcher die Hand zur Versöhnung bot. Ich durfte sicher sein, daß am zweiten oder längstens am dritten Tage nach meinem Ausbleiben der Verwalter Rousseau, ein braver Mann, welcher mit schwärmerischer Liebe und Ergebenheit an der königlichen Familie hing und das Deutsche noch am besten radebrechte, bei mir erschien und mich im Namen des Prinzen wieder zu kommen bat, was ich dann auch sogleich ausführte. Dabei fehlten nie kleine Geschenke, wodurch mich der Letztere zu ködern suchte.

An regnerischen Tagen trieben wir aber manchmal auch stillere Beschäftigungen. Der Prinz hatte schöne Bilderbücher, die wir gemeinschaftlich durchsahen und öfters theilweise durchlasen. Er war damals über acht Jahre alt und seine Schule hatte schon länger begonnen. Seine Mutter übernahm selbst einen Theil des Unterrichts; sie las ihm in den Abendstunden manches geeignete Buch vor und unterwies ihn im Zeichnen, Tanzen und andern schönen Künsten. Außerdem hatte der Prinz verschiedene Lehrer, die im Hause selbst wohnten. Schon länger leitete ein Abbé, Namens Bertrand, den Unterricht. Die ungemeine Lebhaftigkeit oder Rastlosigkeit des Prinzen machte es dem guten Manne aber sehr schwer, den Schüler zu einiger Ordnung und zum Lernen zu bringen, obgleich dessen Fassungskraft eine schnelle war. Die verständige

  1. Die Hofdame Cochelet erkaufte später das im Sommer 1834 abgebrannte Schloß Sandegg, welches sie nachher dem Herzog Eugen von Leuchtenberg wieder abtrat. Sie heirathete den ehemaligen französischen Oberest Parquin, den Besitzer des Schlosses Wolfsberg, eine der Hauptpersonen im Straßburger Drama. Ihre Tochter, der oben gedacht ist, soll in Mannheim noch verheirathet leben.
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verschiedene: Die Gartenlaube (1865). Ernst Keil, Leipzig 1865, Seite 105. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1865)_105.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)